Alles eine Frage der Methode
Landen, Entladen, Betanken, Warten, Beladen – und wieder abfliegen: Flughäfen sind hochkomplex. Und sie sind sehr sicher. Doch ein Restrisiko bleibt: der Mensch.
Es herrscht Hochbetrieb auf der Startbahn des Flughafens Zürich. Die Abendwelle startet im 2-Minuten-Takt. Ein Flugzeug vom Typ Boeing 747 bewegt sich zögerlich entlang dem Rollweg, um die Startbahn in Richtung des zugewiesenen Standplatzes zu überqueren. Die Pistenbeleuchtung ist kurz vor dem Eindunkeln bereits eingeschaltet, und auch die Haltebalken am Rand der Hauptstartpiste leuchten in sattem Rot. Die 747 nähert sich der Kreuzung mit der Piste, nimmt dann Fahrt auf, überrollt schon den roten Haltebalken, als nur wenige Meter vor ihr ein startender Jet mit einer Geschwindigkeit von knapp 250 Stundenkilometern hindurchrast. Nur knapp entgingen die Flugzeuge einer folgenschweren Kollision.
Der Flughafen als Biotop
Flughäfen bergen eine Vielzahl von Gefahren und Risiken, die nicht alle auf den ersten Blick als solche zu identifizieren sind. Wer denkt beispielsweise bei gern im geschützten Biotop eines Flughafens nistenden Vögeln daran, dass sie zu einer Bedrohung bei Start und Landung auch von modernen Flugzeugen werden können? Nagetiere und Wild vermehren sich auf Flughafenarealen ebenfalls prächtig; welche Wirkung letztere aber etwa bei einem Zusammenstoss auf Autos haben, wissen vielleicht noch Automobilisten, die beim Eindunkeln unterwegs sind – von einer Gefahr für den internationalen Flugverkehr geht aber diesbezüglich wohl kaum jemand aus.
Offensichtlicher erscheinen Sicherheitsrisiken, die von Fahrzeugen ausgehen, die sich um die Flugzeuge herum bewegen, Rollbahnen überqueren oder zu Unterhaltszwecken neben oder auf den Pisten benötigt werden. Dazwischen befinden sich als kleinste Einheiten des Flughafenbetriebs Mitarbeitende, deren Gefahr vor allem von ihrer immensen Mobilität und ihrer Menge herrührt. Zudem müssen Angestellte ihre Arbeiten häufig in unmittelbarer Nähe laufender Flugzeugtriebwerke erledigen. Der reguläre Flugbetrieb soll auch bei stürmischen Winden, dichtem Nebel oder bei Schneetreiben gewährleistet sein. Mit jedem hinzukommenden Detail dieser nur kurzen Auflistung möglicher Gefahrenquellen potenzieren sich die Risiken. Und als wäre das noch nicht genug, wird der Umgang mit diesen Gefahren und Risiken durch eine Vielzahl involvierter Akteure (Airlines, Abfertigungs- und Flugsicherungsunternehmen, Unterhaltsbetriebe, Flughafenbetreiber) mit unterschiedlichsten Verantwortlichkeiten und Schnittstellen er-schwert. Am Flughafen Zürich beispielsweise sind rund 270 Unternehmen tätig. Das ist im internationalen Vergleich nicht viel, reicht aber aus, um das Wort «Komplexität» mit dem Tagesbetrieb in Verbindung zu bringen.
Fliegen ist sicher
Fliegen ist die sicherste Art der technischen Fortbewegung. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Unfallraten sowie die Anzahl der Todesopfer aus Flugzeugunglücken im zivilen Luftverkehr sind bis 1990 besonders deutlich gesunken. Die technische Entwicklung und neue Sicherheitssysteme sorgen dafür, dass die Unfallzahlen weltweit weiterhin abnehmen, wenn auch nicht so stark wie in den Jahrzehnten zuvor: von rund 1,5 Unfällen mit Todesopfern pro 1 Million Starts im Jahr 1990 auf 0,5 Unfälle pro 1 Million Starts im Jahr 2009.
In der gleichen Zeit ist die Anzahl Starts von rund 13 Millionen auf 22 Millionen jährlich gestiegen – die Anzahl kommerzieller Flugzeuge im Betrieb weltweit sogar von 10’000 auf 21’000. Dieser Trend ist ungebrochen. Obwohl also die Unfallraten stagnieren oder leicht abnehmen, führt das starke Wachstum im Flugverkehr absolut gesehen zu mehr Flugunfällen. Steigende Unfallzahlen werden in der öffentlichen Diskussion stärker gewichtet als noch vor einem Jahrzehnt. Die Konsequenz: das Risiko wird falsch eingeschätzt, denn Fliegen ist keineswegs unsicherer als früher.
In der bisherigen Entwicklung der Luftfahrt waren es jeweils technische Entwicklungen (weiterentwickelte Triebwerkstechnik, die Erfindung und Perfektionierung des Autopilots, Instrumentenlandesysteme, Traffic-Collision-and-Avoidance-Systeme), die dazu beitrugen, die Unfallzahlen drastisch zu reduzieren. Technische Quantensprünge finden jedoch nicht mehr in gleicher Kadenz statt – die Fortschritte in der Unfallvermeidung fallen mithin weniger ins Gewicht. Deshalb kam es auch zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit Risiken: statt wie bisher Verbesserungen in der Sicherheit der Luftfahrt aufgrund von Analysen tatsächlich geschehener Unfälle zu erreichen, soll nun ein kontinuierlicher Verbesserungsprozess ermöglichen, Risiken auch bereits im Vorhinein zu erfassen und zu reduzieren.
Gefahren auswerten und vorhersagen
Der Flugbetrieb auf einem Grossflughafen verläuft über weite Strecken nach definierten Prozessen. Dafür sorgt eine Vielzahl von Regularien der nationalen, europäischen und internationalen Zivilluftfahrtbehörden. Seit 2003 fordert die internationale Zivilluftfahrtorganisation (ICAO) von Flughafenbetreibern, ein Safety Management System zu betreiben. Dieses neue System ist für Flughafenbetreiber aufwendig und erfordert grossen Koordinationsaufwand mit allen am Flugbetrieb beteiligten Partnerunternehmen. Es ist jedoch zugleich ein zen-trales Instrument, das Führungskräfte dabei unterstützt, Entscheidungen unter Berücksichtigung von Sicherheitsaspekten zu treffen.
Bevor am 28. März 2010 das neue Grossraumflugzeug Airbus A380 zum ersten Mal auf dem Flughafen Zürich landen durfte, mussten im Vorfeld eine Reihe von Massnahmen getroffen werden, um einen reibungslosen Ablauf der Prozedur zu gewährleisten. Von der Anpassung des Terminals bis zum Umsetzen von Beleuchtungsmasten mussten eine ganze Reihe von Anpassungen vorgenommen werden, die wiederum Einfluss auf das Sicherheitskonzept hatten, also geprüft werden mussten. Für einen Flughafenbetreiber ist dieses Vorgehen Routine: er analysiert täglich bestehende Verfahren und Systeme. Auf diese Weise identifiziert und beseitigt er proaktiv Lücken oder Schwachstellen. Eine solche fand man im Falle der Jungfernlandung des A380 bei der notwendigen Vergrösserung der Standplätze. Sie betraf direkt auch das Sicherheitskonzept beim Beladen oder Betanken des Flugzeugs – spezialisierte neue Servicefahrzeuge und Geräte mussten also in das bestehende Konzept eingearbeitet werden. Die Flügel des A380 waren zudem so lang, dass bereits im Vorfeld der ersten Landung eine Neuregelung für die Benutzung von bestimmten Servicestrassen neben dem Rollfeld gefunden werden musste. Der hier angewandte Ansatz der proaktiven Risikovermeidung wird immer dann gewählt, wenn Änderungen an Infrastrukturen und zentralen Betriebseinheiten geplant sind. Er umfasst Workshops zur Identifikation von Risiken, Sicherheits- und Risikobeurteilungen und vertiefte quantitative Risikostudien durch unabhängige Institute. Die so gesammelten Erkenntnisse fliessen in eine zentrale Datenbank, die Gefahren (Hazard Library) für den gesamten Flughafenbetrieb umfasst.
Das Lernen aus der Vergangenheit bleibt allerdings weiterhin unerlässlich für die Flughafensicherheit. Erinnern wir uns an die eingangs erwähnte Boeing 747: sie rollt an erwähntem Abend weiter zu ihrem Standplatz. Die Piloten bereiten einen Rapport zum Vorfall vor, ebenso der diensthabende Flugverkehrsleiter. Die Tatsache, dass der rote Haltebalken vor der Querung der Startbahn im Cockpit übersehen wurde, wird durch ein flughafenweites Untersuchungsteam von Piloten, Flugverkehrsleitern und Experten des Flughafenbetreibers untersucht und klassifiziert. Als Basis dieses reaktiven Ansatzes dienen ausserdem Datenerhebungen aus Logbüchern, Journalen, technischen Aufzeichnungssystemen und Unfalluntersuchungen – also aus Daten über Ereignisse, die tatsächlich stattgefunden haben. Sie werden ergänzt durch ein freiwilliges Meldesystem für Mitarbeitende. Das Safety Office wertet diese Daten laufend aus, auf ihrer Basis werden für die Zukunft neue Sicherheitssysteme entwickelt, Verfahren angepasst oder Schulungen eingeleitet. Im Occurrence Reporting System des Flughafens Zürich laufen die Ergebnisse dieser Erhebungen zusammen.
Restrisiko Mensch
Alle aus reaktivem und proaktivem Verfahren bekannten Risiken fliessen in das Safety Management System des Flughafens Zürich. Es listet im Jahr 2010 etwa drei Dutzend potenzielle Gefahrenquellen auf. Grundsätzlich hat sich hier der Sicherheitsfokus von der Technik auf den Menschen verschoben. Denn obwohl mehrere hundert Mitarbeiter täglich für den effizienten und sicheren Flugbetrieb am Flughafen Zürich zuständig sind und jeder einzelne ein Spezialist auf seinem Gebiet ist, bleibt ein minimales Restrisiko bestehen. Menschliches Versagen ist nur schwer indexierbar: auch der umsichtigste Spezialist ist vor Fehlern nicht gefeit oder weicht unter dem Einfluss des steigenden opera-tionellen Drucks von Sicherheitsvorgaben ab. Der Faktor Mensch ist auch im System Flughafen das entscheidende Element – und häufig das schwächste Glied.
Was bleibt, sind grundsätzliche Risikoakzeptanzfragen. Ist ein Flugunfall mit Todesopfern pro 2 Millionen Starts – für den Flughafen Zürich wäre damit umgerechnet alle 8 bis 10 Jahre mit einem solchen Unfall zu rechnen – akzeptabel? Wie viel Geld und Ressourcen sollen investiert werden, um diesen Unfall zu verhindern? Letztlich bleibt trotz perfektem Risikomanagement die Frage, ob genau dieser Unfall überhaupt verhindert werden kann.