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Alles bleibt anders
Mark Honigsbaum, zvg.

Alles bleibt anders

Pandemien verändern Gesellschaften oft grundlegend. Das wird diesmal nicht anders sein. Das Coronavirus wird jedoch eher indirekte als direkte Folgen haben.

Die Covid-19-Pandemie und die durch sie verschärfte soziopolitische Krise haben neues Interesse an der Perspektive der Geschichtswissenschaften geweckt. Welche Lehren, fragt man mich oft, halten vergangene Pandemien für die gegenwärtige Situation bereit? Wie beeinflussten die Pest des 14. Jahrhunderts, die Choleraepidemien des 19. Jahrhunderts und die Spanische Grippe 1918/19 Gesellschaft und Wirtschaft? Brachten sie grosse politische Umwälzungen und psychologische Verschiebungen? Oder machte sich ihre Wirkung bloss kulturell und am Rande der Gesellschaft bemerkbar? Solche Fragen gründen oft in der Annahme, vergangene Pandemien müssten dieselben tiefgreifenden gesellschaftlichen, psychologischen und wirtschaftlichen Verwerfungen zur Folge ­gehabt haben wie Covid-19.

Geschichtlich gesehen beeinflussten Pandemien Gesellschaften hauptsächlich durch ihre demografische Wirkung. So versetzte etwa die Pest den Gesellschaften des Mittelalters einen gewaltigen exogenen Schock. Wir werden nie genau wissen, wie viele Menschen während der Ausbrüche von 1348/49, 1360–1362, 1367–1369 und 1373–1375 starben. Schätzungen reichen von 30 bis 60 Prozent der damaligen Bevölkerung Europas. Der höhere Wert würde einer Zahl von rund 50 Millionen Toten entsprechen.

Ursache oder Folge?

Sicher ist, dass die Bevölkerungsentwicklung in Europa noch fast 150 Jahre lang rückläufig blieb oder stagnierte. Weniger Menschen bedeuteten weniger Nachfrage nach Getreide und anderen Agrarprodukten, was den Preis von Grundnahrungsmitteln nach unten drückte. Zugleich führte der Bevölkerungsrückgang zu einem verschärften Kampf um Arbeitskräfte, was die Löhne nach oben drückte und das System der Leibeigenschaft bedrängte, auf dem die damalige Feudalherrschaft beruhte. Die Folge waren Aufstände überall in Europa – unter anderem die Jacquerie in Frankreich (1358) und die Ciompi-Revolte in Florenz (1378–1382) –, die zum sogenannten «Great Leveling» beitrugen. Während aber Steuerunterlagen aus Italien belegen, dass die Pest zu einer Einebnung wirtschaftlicher Ungleichheit führte, zeichnen die Daten aus anderen Teilen Europas ein gemischtes Bild. So schrieb ein eng­lisches Arbeitsmarktgesetz von 1351, das sogenannte «Statute of Labourers», zwei Jahre nach der Pest eine Lohnobergrenze fest und begrenzte so die Verhandlungsmacht der Landarbeiter und Handwerker.

Anfang und Mitte des 19. Jahrhunderts gab es eine Reihe von Choleraepidemien. Diese Jahre waren ausserdem von Krieg ­geprägt, von Revolutionen und politischen Wirren. Es ist eine Sache, den Zusammenfall von Choleraepidemien mit dem «Zeitalter der Revolutionen» zu bemerken, etwas ganz anderes aber, eine ursächliche Beziehung nachzuweisen. Dem Argument, der damalige Reformdruck sei unter anderem eine Folge der Cholera gewesen, steht entgegen, dass die Cholera – anders als seinerzeit die Pest – nicht zu einem dramatischen Bevölkerungsrückgang führte. Auch gibt es laut dem Historiker Richard Evans keine Belege für die Theorie, dass die Cholera nachhaltigen politischen Wandel oder nennenswerte gesellschaftliche Dyna­miken hervorgerufen habe. «[Cholera-]Epidemien», schliesst Evans, «waren weniger Ursachen als vielmehr Folgen revolutionärer Umbrüche und der Art und Weise, wie die Regierungen auf diese reagierten.» So wurde der Choleraausbruch von 1830/31 durch die Niederschlagung eines Aufstands polnischer Nationalisten durch Russland bedeutend verschlimmert: Tausende polnischer Flüchtlinge strömten über die Grenze nach Preussen.

«Die Weltbank schätzt, dass ­Covid-19 die globale Wirtschaft

12 Billionen Dollar kosten könnte. Das war 1918 anders,

als Staaten weit weniger miteinander verflochten waren,

als sie es heute sind.»

Zahlenmässig war die Spanische Grippe von 1918/19 die schlimmste Pandemie der Geschichte. Sie fiel mit dem Ende des Ersten Weltkrieges zusammen und forderte geschätzt zwischen 50 und 100 Millionen Menschenleben weltweit. Während aber 1919 das erste Jahr seit Beginn der Aufzeichnungen war, in dem die Sterberate in den USA über der Geburtenrate lag, erfreuten sich die Überlebenden längerer Lebensspannen bei besserer Gesundheit und profitierten in vielen Fällen sogar von höheren Löhnen. Allerdings ist es nicht ganz einfach, die wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie von denen der Kriegsökonomie zu trennen. Und während die Zahl der Todesopfer weltweit gesehen riesig war, bewegte sich die Sterberate in fortschrittlichen Industriestaaten um 2 Prozent. Die Spanische Grippe hatte also die meisten Menschen gar nicht betroffen. Tatsächlich scheint die Spanische Grippe kaum Spuren in der allgemeinen Erinnerung hinterlassen zu haben, weswegen die Geschichtsschreibung sie auch als «vergessene Pandemie» bezeichnet.

Im Fall von Covid zeigt sich ein anderes Bild. Vor allem, weil das Virus die Ökonomien der reichsten und mächtigsten Staaten ­erschüttert hat und die Welt in die schlimmste Depression seit den 1930er Jahren stürzen könnte. Die Weltbank schätzt, dass ­Covid-19 die globale Wirtschaft 12 Billionen Dollar kosten könnte. Das war 1918 anders, als Staaten weit weniger miteinander verflochten waren, als sie es heute sind. Ein weiterer Unterschied ist, dass wir die Pandemie und die von ihr angerichteten Verwüstungen in Echtzeit verfolgen können. Social Media und tägliche Todeszahlmeldungen machen es möglich. Entscheidend ist aber wohl, dass die der Bevölkerung auferlegten Massnahmen wie Lockdown und Social Distancing ohne historisches Vorbild sind.

Frühzeitiges Handeln ist entscheidend

Natürlich hatten auch während der Pest etliche europäische Staaten Gesundheitschecks an Grenzen und in Häfen verordnet. Und während der Beulenpestausbrüche in Italien 1629–1631 und 1656/57 wurden Personen unter Infektionsverdacht in Lazaretten isoliert (das Wort «Quarantäne» stammt vom venetischen «quarantena», zu Deutsch «40 Tage»). Ähnliche Quarantäne- und Isolationsmassnahmen wurden in New York während verschiedener Ausbrüche von Cholera und Typhus im 19. Jahrhundert getroffen. Auch verboten 1918 mehrere US-amerikanische Städte grosse öffentliche Versammlungen und erliessen Verordnungen, die das Tragen von Masken verpflichtend machten.

Als aber China im Januar 2019 ankündigte, Wuhan isolieren zu wollen – eine Stadt mit 11 Millionen Einwohnern –, waren die meisten Fachleute skeptisch. Niemals in der Geschichte der Medizin waren Lockdowns dieser Grössenordnung verhängt worden. Die Skepsis der Experten wuchs noch, als die Beschränkungen auf Dutzende weitere Städte ausgeweitet wurden und sich somit 50 Millionen Menschen in Quarantäne befanden.

Dieser Skepsis zum Trotz verhängte Italien im Februar, infolge des Ausbruchs in der Lombardei, schnell eine landesweite Quarantäne. Und bis Mitte März hatten auch Spanien und Frankreich ähnliche Massnahmen angeordnet. Selbst Länder wie Grossbritannien oder die USA, die zunächst gezögert hatten, die Frei­zügigkeit ihrer Bürger einzuschränken, fügten sich schliesslich der Notwendigkeit, Social Distancing und gezielte Isolierungen einzuführen. Jene Länder, die frühzeitig Beschränkungen erlassen und diese mit strengen Test- und Nachverfolgungsansätzen kombiniert hatten, etwa Neuseeland oder Deutschland, konnten die Ausbreitung des Coronavirus am erfolgreichsten eindämmen und die Sterblichkeit senken.

Auch Hongkong, Südkorea, Singapur und andere südostasiatische Länder haben sich relativ erfolgreich geschlagen – wohl nicht zuletzt, weil Politik und Bürger mit Blick auf die Sars-Epidemie 2002/03, die ebenfalls von einem Coronavirus verursacht worden war, schneller bereit waren, den Empfehlungen von Gesundheitsexperten zu folgen. In Ländern hingegen, deren Regierungen ­solche Empfehlungen ignorierten oder beiseiteschoben, nahm die Pandemie einen katastrophalen Verlauf. In den USA sind zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels offiziell über 190 000 Menschen mit Covid-19 gestorben. Das ist ein Viertel aller Coronatoten weltweit – und das, obwohl die USA nur 2 Prozent der Weltbevölkerung stellen.

Diese Pandemie wird nicht vergessen werden

Ähnlich wie im 19. Jahrhundert die Choleraausbrüche in Europa und den USA hat auch das Coronavirus Ungerechtigkeiten aufgedeckt: bei der medizinischen Versorgung und der Rolle von Einkommen, Beruf und Ethnie hinsichtlich Gesundheitsschäden. Gemäss dem APM Research Lab in den USA hatten Afroamerikaner um ein Dreifaches höhere Sterberaten zu verzeichnen als weisse Amerikaner. In den höheren Sterberaten bei Schwarzen und ethnischen Minderheiten könnte sich die grössere Häufigkeit von Vorerkrankungen wie Diabetes oder Herzleiden bei diesen Bevölkerungsgruppen widerspiegeln. Zweifellos spielen jedoch auch soziale Bedingungen und rassistische Diskriminierung eine Rolle: Angehörige ethnischer Minderheiten wohnen meist in engeren Verhältnissen und suchen aufgrund schlechter Erfahrungen mit geringerer Wahrscheinlichkeit einen Arzt auf als Weisse.

In dieser Hinsicht funktioniert Covid-19 als «Framing Device» im Sinne des Wissenschaftshistorikers Charles Rosenberg: Die Pandemie verschafft Historikern «Zugang zu bestimmten Konfigurationen demografischer und wirtschaftlicher Bedingungen». Laut dem nigerianischen Schriftsteller und Lyriker Ben Okri ­haben zudem die Wochen des Lockdowns den «Gerechtigkeitssinn der Menschen aufgefrischt» – und so in den USA die landesweiten «Black Lives Matter»-Proteste befeuert, die nach dem gewaltsamen Tod des unbewaffneten Afroamerikaners George Floyd durch Polizeigewalt aufgeflammt waren. Solche Proteste lassen sich als Symptom tieferer gesellschaftlicher Probleme deuten, die durch die Pandemie wie durch das Versagen der Politik bei ihrer Eindämmung an die Oberfläche gekommen sind.

Ob «Black Lives Matter» und andere von der Pandemie inspirierte Protestbewegungen zu nennenswerten politischen Reformen und einem deutlichen «Bruch mit der Vergangenheit» führen, wird sich zeigen müssen. Dennoch ist es unwahrscheinlich, dass Covid-19 jemals in Vergessenheit gerät. Im Gegenteil: Wissenschafter, Journalisten und Intellektuelle sind Teil einer weitreichenden öffentlichen Debatte darüber, wie wir auf die Pandemie reagiert haben und mit welchen Folgen. Verlage bringen eilig ­Bücher heraus, die darüber spekulieren, wie Covid-19 die Arbeitswelt und das Bildungswesen verändern wird. Nichts dergleichen geschah 1918.

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