Alles beim Alten
Der digitale Graben und der Verteilkampf um Rentengelder verschärfen den Konflikt zwischen den Generationen. Die bürgerlichen Parteien gehen davon unbeeindruckt in die Wahlen 2019.
Ziemlich exakt bei der Altersgrenze von fünfzig Jahren zieht sich ein tiefer Graben durch unsere Gesellschaft, nennen wir ihn den Digitalisierungsgraben. Wer 1968 geboren wurde, hat erst im Erwachsenenalter seinen ersten Computer zu Gesicht bekommen und war mindestens dreissig, als das Internet zum täglichen Begleiter wurde. 1998 Geborene sind dieses Jahr zwanzig geworden – und sie kennen keine Welt ohne Internet. Was das heisst, versteht etwa Johann Schneider-Ammann. In seiner Rücktrittsrede sagte der abtretende Wirtschaftsminister zum Thema Digitalisierung:«Wir unterschätzen nach wie vor enorm, was das für uns bedeuten wird, was das für die Bildung bedeuten wird, für die Wertschöpfungsketten, die auseinanderfallen und neu zusammengesetzt werden müssen.»1 Es lohnt sich, den Satz zweimal zu lesen: die Wertschöpfungsketten fallen auseinander. Und sie müssen neu zusammengesetzt werden. Viel dramatischer gehtʼs eigentlich nicht für die Wirtschaft. Zum Glück schob Schneider-Ammann noch einen Satz mit der Lösung nach: «Man muss sich dem jetzt verschreiben, sich dieser Digitalisierungsherausforderungen hundertprozentig annehmen.»
Zwei Generationen, die unterschiedlich leben und lesen
Geschieht das in der Schweiz? Vielerorts schon. Die Schweizer Parteien- und Medienlandschaft jedoch funktioniert weitgehend noch so wie vor der Digitalisierung. Natürlich haben Parteien heute Websites, Politiker twittern, auch die Medienhäuser haben sich transformiert. Die grundsätzlichen Strukturen sind dennoch weitgehend unverändert geblieben: Der Meinungsaustausch der Parlamentarier erfolgt über Zeitungen. Wähler, so glauben sie, sind über das Fernsehen, mit Gratiszeitungen und Postwurfsendungen zu erreichen. Auch Parteien, Vereine, Abonnemente sind finanziert über Mitgliederbeiträge, die per Post mit einem Einzahlungsschein aus Papier verschickt werden. Doch die Jungen lesen nachweislich kaum noch Zeitungen, schauen kein lineares Fernsehen mehr und sind häufiger unterwegs, als dass sie ihren Briefkasten leeren. Wenn sie Abonnemente haben, dann von Spotify oder Netflix. Sie sind auch zumeist nicht mehr von der Wiege bis zur Bahre am gleichen Ort zu Hause, weshalb sich ihre Präferenzen hinsichtlich der Erreichbarkeit oder des lokalen Engagements völlig verändert haben.
Das Wehklagen über das allmähliche Verebben des zivilgesellschaftlichen Engagements und die damit einhergehende Übernahme von Aufgaben durch den Staat ist laut. Mancherorts kommt das privat organisierte Vereinsleben zum Erliegen, das Milizprinzip darbt, auch das Annehmen von Ehrenämtern ist im täglichen Organisationsdschungel der Anforderungen keine allzu reizvolle Option mehr. Während viele Junge – «Generation Praktikum» – zwar gerne mehr Verantwortung übernehmen würden, den Einstieg ins selbstbestimmte Leben suchen, aber allzu oft keinen finden, ziehen einige nicht unterzukriegende Alte den Karren weiter. Sie arbeiten einfach immer weiter und weiter, mehr und mehr. Machtpositionen geben sie, wenn überhaupt, nur unter Druck auf. Stellvertretend für viele, die auch im fortgeschrittenen Alter mit protestantischem Arbeitsethos Leistung bolzen, steht Hans-Ulrich Gumbrecht, emeritierter Professor in Stanford: «Ich arbeite so viel, dass es mir gelingt, die wirklich Begabten aus dem Feld zu schlagen», sagte er der NZZ2, die nur wenige Tage später festhielt, dass der Mensch im Schnitt noch nie so wenig arbeitete wie heute: «Wir sind längst aus dem Zeitalter der Leistungsgesellschaft heraus- und in die Epoche der Freizeit-Hochleistungsgesellschaft eingetreten.»3 Diese zwei grundverschiedenen Positionen treffen vermehrt aufeinander und verstehen sich gegenseitig immer weniger. Es sind die Positionen zweier Generationen, die in unterschiedlichen Verhältnissen, ja Welten sozialisiert worden sind – die einen im Industriezeitalter, die anderen im Informationszeitalter.
Es ist nicht so, dass Junge kein Verständnis für gewachsene Strukturen aufbringen würden und nicht bereit wären, diese zu reformieren. Und es ist auch nicht so, dass sich Alte per se nicht mit der Digitalisierung auseinandersetzen würden. Wenn aber Alte bei Podiumsgesprächen digitale Erkenntnisse verbreiten, die sie selbst gerade neu gewonnen haben, bei den Jungen aber seit vielen Jahren bekannt sind, oder umgekehrt Junge radikale Positionen vertreten, die sich in der langen Erfahrung der Alten wiederholt als nicht umsetzbar gezeigt haben, spitzt sich der Konflikt zu. Tatsächlich: Es ist eine stolze Generation, die die Schweiz in den letzten Jahrzehnten mit viel Einsatz zu einem beeindruckenden Wohlstand gebracht hat. Vermehrt aber leben die Alten in einer Welt, die mit der der Jungen kaum noch etwas zu tun hat – letztere haben sich abgekoppelt von den gewachsenen Strukturen, sie leben und informieren sich woanders. Mit den für das Funktionieren der Demokratie relevanten Medien sind Junge kaum mehr zu erreichen. Überhaupt hat sich fast alles geändert: Die Männer aus der Zeit vor dem Internet haben Karriere gemacht dank Ehefrauen, die ihnen Kindererziehung, Haushalt und soziale Beziehungen organisiert haben, und dank Netzwerken, die sich fast nebenher im Militärdienst, in Vereinen und bei der Arbeit ergeben haben. Nach einem harten Tag (natürlich mit einer Flasche Wein beim Lunchtermin) haben sie um 22 Uhr nicht noch zwei Stunden lang E-Mails beantwortet, sondern einen Cognac getrunken und ein Buch gelesen.
Konservative und liberale Junge
Das Erstaunliche ist: Heute stehen die jungen Schweizer vielen traditionellen Kernanliegen der liberal-konservativen Bürgerlichen wieder positiv gegenüber. Werte wie Sicherheit, Ordnung, Nüchternheit, Treue, die lange als «spiessig» galten, sind wieder gefragt, die jungen Schweizer sind so brav wie seit vielen Jahrzehnten nicht mehr. Das Wandern etwa, noch in den 1990er Jahren eine Tätigkeit, die vermeintlich Vorgestrigen und Landeiern vorbehalten war, erlebt einen Boom, gerade auch bei Städtern.
In vielen politischen Fragen verläuft heute die Konfliktlinie nicht mehr zwischen links und rechts, sondern zwischen alt und jung.
Heutige Jugendliche schocken ihre Eltern nicht mehr mit Drogenexzessen, Tattoos oder dem Bekenntnis zum Kommunismus, sondern indem sie sich zum Islam bekennen oder einer Freikirche beitreten. Die Studie «Sicherheit 2018»4 zeigt es: 79 Prozent der 18- bis 29jährigen Schweizer halten eine Armee für eher bzw. unbedingt notwendig – ein Wert, der seit 1983 (72 Prozent) noch nie so hoch war. Abschaffen wollen die Armee nur noch 14 Prozent von ihnen. Gemäss Credit-Suisse-Jugendbarometer sind die Topsorgen der 16- bis 25-Jährigen Altersvorsorge (53 Prozent), Ausländer und Asyl (29 respektive 28 Prozent). 84 Prozent träumen von einem eigenen Haus oder einer eigenen Wohnung. Dass die Bürgerlichen gut beraten wären, diese bürgerlich tickenden, aber zumeist nicht an die Urne schreitenden Stimmbürger für sich zu mobilisieren, ist lange bekannt.5 Dennoch passiert es nicht. Man gibt sich zufrieden mit dem völlig unzutreffenden Vorurteil, dass die Jungen heute eben unpolitisch seien.
In vielen politischen Fragen verläuft heute die Konfliktlinie nicht mehr zwischen links und rechts, sondern quer durch die Parteien zwischen Alt und Jung – und zwar in Form neuer Verteilkämpfe. Dass fast alle Jungparteien die Verknüpfung zwischen der Steuervorlage 17 mit der AHV bekämpfen, überrascht nicht: die Ausbesserung der Vorsorgewerke, ohne sie nachhaltig zu sanieren, ist schliesslich nichts weniger als eine Bereicherung der Alten auf Kosten der Jungen. In der «Arena» vom 22. September 2018 sagte Jürg Grossen (GLP): «Die Ständeräte haben einen Hinterzimmer-Deal gemacht, weil sie glaubten, einen sozialen Ausgleich zu erschaffen.» Unter dem Applaus der linken Parteien stimmte die FDP diesem Deal zu. Weil sie befürchtet, von der EU auf eine schwarze Liste gesetzt zu werden, befürwortet sie höhere Lohnabzüge und eine weitere Enteignung der Jungen. Ihr angeschlossen haben sich die Jungliberalen, die nun – ausgerechnet sie! – als bisher einzige Jungpartei ihre eigene Enteignung akzeptieren.
Kompromisspartei FDP
Der Wille der Mutterpartei FDP, sich als Partei der Kompromisse zu positionieren, die Lösungen verabschiedet, ist nachvollziehbar. Aber die Partei sieht sich schon seit einiger Zeit aufgerieben zwischen der traditionellen Zusammenarbeit mit den konservativen Parteien SVP und CVP sowie der Ambition, «progressiv» sein zu wollen, was sie immer häufiger zu einem Partner der internationalistischen Linken macht. Die FDP treibt nicht nur der Wille, den Fortschritt zu vertreten, sondern auch eine Sehnsucht nach Harmonie und gutem Ansehen in der Öffentlichkeit. In der Kombination mit dem unbedingten Anspruch, Lösungen zu verabschieden, führt das dazu, dass fast alles, was der FDP als «fortschrittlich» verkauft wird, von ihr – meist nach anfänglichem Zögern – auf- und übernommen wird. Die FDP akzeptiert deshalb immer häufiger auch Lösungen, die zu mehr Staat führen und den liberalen Kernanliegen grosser Teile ihrer Wählerschaft widersprechen. Wie Angela Merkel gefällt sich die Partei darin, Themen, von denen sie annimmt, sie seien mehrheitsfähig geworden, aufzugreifen und umzusetzen. Danach feiert sie sich als entschlossene Reformpartei: die überraschende Kehrtwende beim Energiegesetz ist ein gutes Beispiel dafür. Was für eine wirtschaftsfeindliche Politik daraus resultiert, hielt der «Tages-Anzeiger» kürzlich fest: «Auch die grossen Fortschritte in der Deregulierung brachte sie nicht. Stattdessen überwies das Parlament immer auch mit FDP-Stimmen Vorlagen, die mehr Auflagen für die Wirtschaft bringen: Lohnpolizei, Frauenquoten, den Gegenvorschlag für die Konzernverantwortungsinitiative.»6
Was ist eigentlich mit dem Wähler? SVP und FDP gewannen 2015 zusammen 16 Sitze hinzu und beanspruchten in der neuen Bundesversammlung 116 von 246 Sitzen – im Nationalrat stellten sie mit Hilfe von Kleinparteien gar eine knappe Mehrheit. Die Selects-Studie zu den Wahlen 20157 zeigte auf, dass die Wähler der beiden Parteien von der Mitte nach rechts gerückt sind. Sie hätten sich einen Rechtsrutsch im Parlament gewünscht. Doch stattgefunden hat er nicht, denn die Zusammenarbeit zwischen FDP und SVP funktionierte nicht. Es handelte sich um eine «Scheinmehrheit der Rechten»8, erklärte die «Weltwoche», und BDP-Präsident Martin Landolt sprach wiederholt von einer Arbeitsverweigerung der Bürgerlichen. CVP-Präsident Gerhard Pfister bilanzierte die bisherige 50. Legislatur so: «Eine Mehrheit, die aus einer theoretischen Differenz von einer Stimme resultiert, ist faktisch keine. Ausgenommen, man ist in der Lage, die Partei straff zu führen. Das ist weder bei SVP noch FDP der Fall.»9 Die stärkste bürgerliche Kraft, die SVP, wird den 2015 erreichten Wähleranteil von 29,4 Prozent kaum halten können. Der Vater dieses Aufstiegs, Christoph Blocher, hat sich in den letzten Jahren altershalber von den Ämtern, auch den Parteiämtern, zurückgezogen. Auch Walter Frey und Oskar Freysinger sind nicht mehr im Leitungsausschuss. So lichten sich die Reihen jener, die mit der Partei seit der EWR-Abstimmung 1992 aufgestiegen sind. Während die einst schlagkräftige überparteiliche Kampforganisation AUNS mit einem mit 20 (!) Personen besetzten Vorstand heute mehr oder weniger wirkungslos im Fahrwasser der SVP dümpelt, hat sich der achtköpfige Parteivorstand erneuert, verjüngt und regional besser abgestützt. Eine ganze Reihe von Politikern strebt an, in Blochers Fussstapfen zu treten. Was passiert, wenn Blocher wirklich mal weg ist, bleibt die grosse offene Frage. Aktuell trauen viele nur ihm zu, den etatistischen und den liberalen Flügel der Kleinbürgerpartei, die Bauern, Unternehmer und Angestellte zu ihren Wählern zählt, einen zu können.
Stilfragen
Noch unklar ist, mit welchem Stil die Partei künftig auftreten will. Die Brachialkommunikation der Plakate, die den Aufstieg der heutigen SVP begleitete, hat sich im Internetzeitalter abgenutzt. Zuletzt scheiterte sie bei den Wahlen im Kanton Zürich mit einem Besen, der den «Saustall Stadtrat ausmisten» wollte – von der Ausdrucksweise abgesehen blieb es im Wahlkampf unklar, wie das gelingen soll. Das Problem der Partei ist: in der Sache geben der SVP noch viele recht, wie Abstimmungsmehrheiten regelmässig beweisen. Bei Wahlen aber tun sich viele schwer, die SVP-Liste einzulegen, insbesondere junge, kluge, weibliche, vernünftige, gebildete Wähler sind vom Stil, vom Personal oder von der fehlenden Kompromissbereitschaft abgeschreckt. Wer nur krakeelt und nicht um Lösungen bemüht ist, wird von ihnen nicht gewählt. Der erfolgreiche SVP-Wahlkampf von 2015 mit Sennenhund Willy und der Einsetzung des gegen alle Seiten verträglichen Parteipräsidenten Albert Rösti zeigt aber, dass die Negativstilprobleme erkannt und Gegensteuer gegeben wurde. Die Kampagne zur SVP-Selbstbestimmungsinitiative etwa kommt in warmen Farben daher: nüchterne Bürger strecken auf Wahlplakaten ein «Ja» «zur direkten Demokratie» und «zur Selbstbestimmung» entgegen. Doch das Negativimage wieder loszuwerden, wird ein langer, harter Weg. Das Ziel, zu einer echten Volkspartei zu werden, ist aber erreichbar. Als bereits grösste Partei wird sie nur zulegen können, wenn sie auch von Wählern der politischen Mitte gewählt wird.
Angesichts dessen ist es geradezu paradox, dass sich die FDP in der Aussendarstellung nach wie vor darin versucht, an die beispiellose Erfolgsgeschichte der SVP anzuknüpfen. Zu den Wahlen 2011 und 2015 ist die FDP mit dem Schlagwort «Aus Liebe zur Schweiz» angetreten, für den Wahlkampf 2019 hat sie nun den Slogan «Unsere Schweiz – unsere Heimat» definiert, mit dem Untertitel «Gemeinsam weiterkommen – unsere liberale Vision». Die Strategie ist es, mit Heimat und Kollektiven zu reüssieren. Dumm nur, dass das alle anderen auch schon versuchen. Vielleicht kommt aber ja bald auch die CVP hinter dem Ofen hervor und springt mit einem neuen, ebenfalls unerwarteten Slogan in die Bresche: «Individualistisch, freiheitlich, obrigkeitsskeptisch – Vollgas!»
Medienkonferenz des Bundesrats am 25. September 2018. ↩
Hans-Ulrich Gumbrecht im Interview mit René Scheu. In: Neue Zürcher Zeitung vom 22.9.2018, S. 44. ↩
Roman Bucheli: «Noch nie arbeitete der Mensch so wenig wie heute.» ↩
Tibor Szvircsev Tresch und Andreas Wenger (Hrsg.): Sicherheit 2018, Aussen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Meinungsbildung im Trend. Zürich: Militärakademie (MILAK) an der ETH Zürich, Center for Security Studies (CSS), ETH Zürich, S. 162. ↩
Philipp Loser: Einmal Freiheit mit Gefühl. In: Tages-Anzeiger vom 1.10.2018, S. 3. ↩
«Eidgenössische Wahlen 2015. Wahlteilnahmen und Wahlentscheid» ↩
Hubert Mooser: Scheinmehrheit der Rechten. In: Weltwoche vom 13.9.2018, S. 35. ↩
«Wir schaffen die Trendwende». In: Neue Zürcher Zeitung vom 2. Oktober 2018, S. 13. ↩