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Alfred C. Mierzejewski: «Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft»

Alfred C. Mierzejewski: «Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft», München: Siedler Verlag, 2005

«Die «Soziale Marktwirtschaft» ist heute in Deutschland nicht zuletzt deshalb ein allseits gelobtes, konsensfähiges Konzept, da es beliebig in zwei entgegengesetzte Richtungen dehnbar erscheint. Meint es, das rauhe Marktgeschehen müsse durch staatliche Interventionen, Umverteilung und kollektive Absicherung geglättet und somit «sozial» gemacht, also der bittere Kapitalismus durch sozialstaatlichen Zucker versüsst werden? Oder ist der Begriff «Soziale Marktwirtschaft» in Wirklichkeit eine Tautologie? Sorgt die marktwirtschaftliche Dynamik allein schon für Effizienz und Wachstum und damit für allgemein steigenden Wohlstand?

Ludwig Erhard neigte der zweiten Interpretation zu. Dem Ökonomen Friedrich August von Hayek verriet der bundesdeutsche Wirtschaftsminister: «Ich hoffe, Sie missverstehen mich nicht, wenn ich von der sozialen Marktwirtschaft spreche. Ich meine, dass der Markt an sich sozial ist, nicht dass er erst sozial gemacht werden muss.» Die Mehrzahl der Deutschen hat Erhards neoliberale Provokation missverstanden. Sein Motto «Wohlstand für alle» gefiel ihnen wohl. Doch dass zu Erhards «Sozialer Marktwirtschaft» untrennbar die Bereitschaft zu Leistung, Risikobereitschaft, Disziplin und Eigenverantwortung gehörte – diese Wahrheit haben sie rasch und nachhaltig verdrängt. Der «dritte Weg», den die Ordoliberalen wünschten, ist längst auf Abwege geraten.

Die lesenswerte Biographie des amerikanischen Historikers Alfred C. Mierzejewski räumt einiges von dem goldenen Nebel aus, der sich um Erhards «Wirtschaftswunder» und die «Soziale Marktwirtschaft» gelegt hat. Mierzejewskis flüssig geschriebene Studie ist umso begrüssenswerter, als sie das schiefe Bild von Erhard geraderückt, das Volker Hentschel in seiner 1996 erschienenen Biographie gezeichnet hat. Hentschels Wälzer von fast tausend Seiten setzte zwar mit Recherchefleiss neue Massstäbe, irritierte aber durch offenkundige Ressentiments des Autors. Dessen These, Erhard sei als Ökonom unfähig, als Politiker bestenfalls naiv gewesen, stiess auf Ablehnung in Wissenschaft und Öffentlichkeit.

Die ersten fünfzig Jahre in Erhards Leben waren eher unspektakulär. Geboren 1897 im fränkischen Fürth, half er zunächst in der elterlichen Textilhandlung, studierte an der Nürnberger Handelshochschule und promovierte beim «Sozialliberalen» Franz Oppenheim in Frankfurt. Dessen sozialistisch gefärbte Thesen übernahm er nicht, wohl aber die Abneigung gegen das Wirken von Interessengruppen zum Schaden der echten Marktwirtschaft. Als Mitarbeiter eines Instituts für Marktforschung hatte Erhard von 1928 bis 1942 Gelegenheit, die Strategien von Verbänden und Kartellen kennenzulernen. Mierzejewski führt Erhards späteren Kampf für die Rechte der Verbraucher auch auf diese Erfahrungen zurück.

Die weitere NS-Zeit überwinterte Erhard als Leiter eines winzigen Konsumforschungsinstituts, konnte aber wichtige Kontakte zu marktwirtschaftlich gesinnten Industrieführern knüpfen. Wegweisend waren einige Passagen seiner Anfang 1944 verfassten Denkschrift «Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung», die unmittelbar vor dem Attentat des 20. Juli 1944 in Widerstandskreisen um Carl Friedrich Goerdeler zirkulierte. Erhard schlug darin vor, nach der zu erwartenden Niederlage des NS-Regimes das ganze System der staatlichen Kontrollen schrittweise abzuschaffen und freien Wettbewerb zuzulassen.

Das Jahr 1945 gilt in Deutschland als Stunde Null, deren Zeichen jedoch erkennbar auf Sozialismus standen. Das Trauma der Weltwirtschaftkrise lastete noch schwer. Allgemein wurde die Massenarbeitslosigkeit dem Chaos der Märkte zugeschrieben. Bis weit in bürgerliche Kreise hinein war daher der Glaube an eine liberale, selbstregulierte Wirtschaft brüchig geworden. Ideen von staatlicher Planung herrschten auch bei den Alliierten vor, besonders bei den Briten und Franzosen, die das NS-Kontrollsystem unverändert weiterführen wollten. Erhard, inzwischen Direktor der bizonalen Wirtschaftsverwaltung, wagte den Sprung ins kalte Wasser. Gegen massive alliierte Widerstände und die Front der deutschen Zweifler gab er am 20. Juni 1948, zeitgleich mit der Einführung der neuen Währung, einen grossen Teil der seit 1936 eingefrorenen Preise frei.

Seine mutige Tat zeitigte bald Früchte. Der Markt war entfesselt, der Weg frei für das «Wirtschaftswunder». Erhard selbst winkte ab: Wunder gebe es keine im Bereich der Wirtschaft. Der rasche Anstieg der deutschen Produktion und die verbesserte Versorgungslage seien logische Folgen des freien Marktes. Zu Recht verwirft Mierzejewski die längst widerlegte These Werner Abelshäusers, der den Aufschwung bereits vor 1948 und ohne Erhard beginnen liess. Etwas oberflächlich gerät Mierzejewski aber die Diskussion der wettbewerbstheoretischen Ideen der deutschen Ordoliberalen wie Walter Eucken und Franz Böhm, deren «ordnungspolitisches» Denken Erhard massgeblich prägte. Den Einfluss von Wilhelm Röpkes Kulturkritik auf Erhard unterschätzt er wohl.

Ein «Körnchen Wahrheit» sieht Mierzejewski in der Behauptung, Ludwig Erhard habe nach 1948 den Rest seiner Laufbahn in der Defensive verbracht. Zwar verfolgte er sein strategisches Ziel – mehr Markt und mehr Wettbewerb – nach dem anfänglichen Liberalisierungsschub weiterhin mit Erfolg. Schritt für Schritt gelang es ihm, Deutschland dem Welthandel zu öffnen, Märkte von staatlicher Bewirtschaftung zu befreien und den Wettbewerb zu stärken. Parallel musste er jedoch wachsende Begehrlichkeiten und Ansprüche sozialpolitischer Art abwehren. Sie hätten «sehr oft den Eindruck, dass achtzig Prozent unserer Arbeitsenergie darauf gerichtet werden musste, Unfug zu verhüten», berichtete einer seiner engen Mitarbeiter. Dass Erhard auf schnelle Interventionen und Aktionismus verzichtete, legten ihm viele als Untätigkeit und Handlungsschwäche aus. Im Gegensatz zu Kanzler Adenauer hielt er auch nichts von sozialen Gefälligkeiten und Wahlgeschenken.

Ein solches war zweifellos die grosse Rentenreform von 1957. Sie sah eine «dynamische» Entwicklung der Altersrenten vor, bescherte Rentnern raschwachsende Pensionen und der CDU eine absolute Mehrheit bei der Bundestagswahl. Aus wirtschaftliberaler Sicht war das Umlagesystem, euphemistisch als «Generationenvertrag» deklariert, ein Sündenfall ersten Ranges. Erhard sagte explodierende öffentliche Ausgaben voraus, wenn Eigenvorsorge durch Kollektivversorgung ersetzt würde. Das ganze Ausmass der Kostenlawine, die auf nachfolgende Generationen zurollen sollte, erkannte selbst Erhard nicht (die implizite deutsche Staatsschuld durch Rentenansprüche wird gegenwärtig auf 270 Prozent des BIP geschätzt). Mierzejewski nennt die Rentenreform «das Ende der Sozialen Marktwirtschaft» und «eine entschiedene Abkehr der Politik weg vom Markt und hin zur Schaffung des Wohlfahrtsstaates».

Erhards Kanzlerschaft von 1963 bis 1966 stand unter keinem guten Stern. Im Grunde war er ein unpolitischer Mensch geblieben. Er fühlte sich fremd im Haifischbecken der Macht. Aussenpolitisch erlebte der überzeugte Atlantiker eine eigentliche Bruchlandung, als US-Präsident Johnson seine Bitte um Stundung der deutschen Offset-Zahlungen schroff zurückwies – eine «absolut widerwärtige Affäre» in den Worten Mierzejewskis. In der Wirtschaftspolitik, seinem ureigenen Feld, hatte Erhard nicht verhindern können, dass immer mehr wohlfahrtsstaatliche Elemente, immer mehr Zugeständnisse an Interessengruppen die ordnungspolitische Linie verwässerten. Etwas hilflos versuchte er mit dem vagen Konzept einer «formierten Gesellschaft» gegenzusteuern. Die beginnende Abkehr von der Marktwirtschaft – nicht die vermeintliche Rückkehr zu einem schwächeren Wachstum, wie Mierzejewski betont – war der Grund für die deutliche Ermüdung der deutschen Wirtschaftskraft Mitte der sechziger Jahre. Ein plötzlicher konjunktureller Einbruch bedeutete schliesslich das politische Ende des Kanzlers Ludwig Erhard.

Mierzejewskis Fazit stimmt nachdenklich: «Es ist zweifelhaft, ob die Mehrheit der Bundesdeutschen Erhards soziale Marktwirtschaft jemals verstanden oder gar unterstützt hat.» Der Zucker des Wohlfahrtsstaats wird bis heute nicht als süsses Gift erkannt.

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