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Albert Stapfer und die Helvetik

Adolf Rohr,
Philipp Albert Stapfer: Minister der Helvetischen Republik und Gesandter der Schweiz in Paris 1798–1803
Baden: hier+jetzt, 2005

Als die Alte Eidgenossenschaft unterging und unter dem Einfluss der Siegermacht ein Einheitsstaat entstand, hatte die Helvetik einen herausragenden Mann in der Verwaltung: Philipp Albert Stapfer, den ersten «Minister der Wissenschaften und Künste». Er wurde von der Exekutive in das Amt berufen, als er wenig über dreissig Jahre alt war. Es war ihm im Auftrag des Direktoriums lediglich erlaubt, Vorschläge zu machen; über deren Umsetzung entschied die Zentralregierung und das Parlament. Was aber Stapfer trotz Umbruch und Krisen im Schatten der Hegemonialmacht an Vorschlägen und Visionen einbrachte, ist erstaunlich. Der Minister entfaltete seine Vorstellungen über den Volksschulunterricht und über die Pyramide des ganzen Schulwesens von der Primarschule bis zur Universität. Und dass auch diese eine Bundesanstalt werden sollte, war für ihn klar. Die Übel der Revolution blieben ihm nicht verborgen; er verglich sie aber mit einem reinigenden Gewitter. In seiner Funktion, in seinen Vorschlägen und in seiner Korrespondenz war er ein Staatsphilosoph, in einer entscheidenden Phase auch ein gewiegter Diplomat.

Als der Ruf des Direktoriums an ihn erging, weilte Stapfer als Mitglied jener Delegation in Paris, die nach dem Zusammenbruch der Alten Eidgenossenschaft versuchte, durch diplomatische Schritte die Kriegslasten möglichst gering zu halten. Bis hierhin führte Adolf Rohrs Biographie im ersten Band, der vor sieben Jahren erschien und eigentlich die umfassende Bildung und den Beginn des Lebens eines jungen Gelehrten ausführlich beschreibt, von der Lateinschule, über die Ausbildung zum Theologen und die Hinwendung zum Kantianismus, das Studium in Göttingen und die Bekanntschaft, die er dort mit dem berühmten Arzt und Schriftsteller Johann Jakob Zimmermann schloss, bis zur Konsekration zum Verbi Divini Minister, der Wahl als Lehrer für deutsche und lateinische Sprache sowie der Altertumskunde an der patrizischen Standesschule und schliesslich weiter zur Professur für didaktische Theologie an der Akademie in Bern. Dieser Band war, so kann man jetzt sagen, die Vorbereitung. Man war lange gespannt auf die Fortsetzung, die den Schöpfer des «Bureau de l’esprit public», der Abteilung für Nationalkultur der Helvetik beschreibt. In kurzer Zeit berief Stapfer bedeutende Männer zu Mitarbeitern seines Ministeriums, unter ihnen zum Beispiel Heinrich Pestalozzi. Stapfers Ideenreichtum ist erstaunlich. Seine Vorschläge sind nicht nur gut durchdacht und bewundernswert formuliert, sie sind auch pragmatisch und nah bei der Wirklichkeit. Umso mehr ist es zu bedauern, dass diese Phase des Staatsdenkers, des Erziehungsfachmanns und Kultusministers nur kurze Zeit währte und ein abruptes Ende fand. Schon 1800 ging er, wie erwähnt, im Auftrag des Direktoriums als Mitglied jener grossen Delegation nach Paris, die Napoleon bei der Reorganisation der Helvetischen Republik beraten sollte, die unter der Besetzung durch fremde Heere litt und deren Weiterexistenz durch innere Unruhen und politische Spannungen bedroht war.

In Europa herrschte damals Krieg. Die Regierung der Helvetik musste ausweichen, zunächst von Aarau nach Luzern (aus Platzgründen), dann von Luzern nach Bern (weil die Innerschweiz dem Kriegsgeschehen zu nahe war). Die Umstände waren für den Neubau des Staatswesens nicht günstig. Zum Ärger des Gesandten regten sich zu Hause die Föderalisten, ebenso die Anhänger der alten Ordnung, denen seine Partei, die Unitarier, Widerstand leistete. Die Auseinandersetzungen eskalierten, die Souveränität des Landes selbst stand auf dem Spiel. Der Erste Konsul in Paris, Napoleon Bonaparte, war so unberechenbar wie ungeduldig, er musste jedenfalls klug und pfleglich behandelt werden. Der französische Aussenminister, Talleyrand, war seinerseits ein mit allen Wassern gewaschener Kabinettspolitiker. Was er sagte, hörte sich meist harmlos an, war aber häufig zweideutig und mit Nebenabsichten verknüpft. Der Botschafter aus der Schweiz hörte aufmerksam zu, liess sich aber durch die «lächelnde Kupplerinnenmiene» Talleyrands nicht täuschen und sandte seine oft chiffrierten Berichte nach Bern. Dieser Aussenposten in Paris war für die Zukunft der Schweiz, die sich 1798 eine Verfassung mit revolutionärem Inhalt gegeben hatte, lebenswichtig, und mit Stapfer war er hervorragend besetzt. Der Biograph gibt viele authentische Beispiele von Audienzberichten und Beurteilungen der Lage aus der Feder eines Botschafters, der oft auch die Politiker zu Hause auf Gefahren aufmerksam machen muss, die in der unbekümmert eigenwilligen Politik der Eidgenossen lagen.

Der Erste Konsul der Republik Frankreich diktierte schliesslich der Consulta, die nach Paris geladen war, die «Acte de Médiation» und machte damit den Streitereien der helvetischen Parteien ein Ende. Und man muss dazu sagen, dass es ein gutes Werk war, das nicht einfach französische Interessen durchsetzte, sondern sich durchaus auch Forderungen einzelner Schweizer Delegierter anhörte. Als etwa die Berner die Rückführung des helvetischen Kantons Aargau in ihre Herrschaft verlangten, gab er ihnen nicht nach. Und Stapfer konnte schreiben: «Grâces immortelles soient donc rendues à Bonaparte, qui consacre l’émancipation des Argoviens de la tutèle bernoise et qui leur donne une patrie et qui leur assure l’inappréciable bienfait d’une administration économique et indigène.» An solchem Dank an die Adresse Napoleons ist nichts auszusetzen; der Gesandte aus der Schweiz kannte ihn übrigens aus vielen Gesprächen, die möglicherweise nicht ohne Wirkung blieben. Zwischen beiden Männern ergab sich eine glückliche Beziehung; Bonaparte erkannte wohl, dass sein Gesprächspartner politisch zwar vorsichtig und klug war, aber zugleich klar an allem festhielt, was er sich vorgenommen hatte. Das scheint dem Korsen gefallen zu haben.

Es mag an den Zeitläuften liegen, stossend und eigentlich unverständlich ist es doch, dass Philipp Albert Stapfers Wirken für die schweizerische Eidgenossenschaft nur gerade von l798 bis 1803 gedauert hat, anderthalb Jahre als Minister der Künste und Wissenschaften, den Rest als Botschafter des Landes in Frankreich. Einen Überfluss an derart begabten, ernsthaften und einfallsreichen Persönlichkeiten dürfte die Helvetik trotz dem hohen Bildungsstand der Elite damals kaum gehabt haben. Aus der Korrespondenz des ehemaligen Ministers und Botschafters mit dem befreundeten Albrecht Rengger, ebenfalls ehemaligem Minister der Helvetik, geht hervor, dass sie beide mit ihrem politischen Schicksal nicht leicht fertig wurden. Stapfer verbrachte die Zeit nach dem 38. Lebensjahr als Privatgelehrter und Erzieher seiner beiden Söhne (von denen der eine sich als Übersetzer von Goethes «Faust» ins Französische einen Namen machte) vorwiegend auf dem Gut «Château de Talcy-sur-Mer», einer Erbschaft seiner vermögenden Gattin; Rengger die seine nach dem 40. Lebensjahr als Arzt im Aargau. Beide nahmen zwar Teil am Geschehen, aber ohne ihre hohen Gaben nutzbar machen zu können. Grund dafür war die um sich greifende Restauration, die für Unitarier und Revolutionäre keine Verwendung hatte. Stapfer musste erleben, wie sich Napoleon zum Kaiser krönen liess und die Gesellschaft sich rasch an die veränderten Verhältnisse, an Hofatmosphäre und Kriechertum gewöhnte. Nach dem Sturz des Empereurs kam es gar zur Restauration der Bourbonen in Frankreich; in der Schweiz blieb der Aargau immerhin, vorwiegend dank Zschokkes publizistischem Wirken, ein den Ideen der Französischen Revolution verpflichteter Kanton, bis seine Pressefreiheit – wie Stapfer aus Frankreich schrieb – «den in Bern stationierten Nachtwächtern der heiligen Allianz» erlag.

Der Biograph hat die Korrespondenz Stapfers erforscht. Es geht daraus hervor, dass der Briefschreiber die hohe Meinung vom «esprit public» bewahrte, die schon den jungen Gelehrten ausgezeichnet hatte. Aus seiner privaten Existenz konnte er lediglich die Nationalenergie, die Selbständigkeit und das Selbstwertgefühl zu stärken suchen und vor dem Übel der Sklaverei warnen. Was die Schweiz betraf, war ihm der «Kantönligeist» am meisten verhasst. Die Einsicht in das eigene Scheitern geht aus einem Antwortbrief an Karl Viktor von Bonstetten deutlich hervor, der ihn dringend gebeten hatte, wenigstens durch Publizistik den Gang der Dinge zu beeinflussen. Die Hoffnung des Sämanns, dass das Saatgut in ferner Zukunft doch noch aufgehen und Frucht bringen werde, gab Stapfer nie ganz auf.

Im Anhang enthält die Biographie von Adolf Rohr einige Texte von Philipp Albert Stapfer, beispielsweise die Vorrede aus den bei «Gruner und Gessner» in Luzern erschienenen Überlegungen zu Bildungsplänen, oder eine Rede des Ministers an die Erziehungsräte des Kantons Luzern. Die Verteidigungsschrift gegen die vom bernischen Kirchenrat erhobenen Vorwürfe gegen Kultusminister Stapfer ist ebenfalls abgedruckt, ebenso einige Berichte des Gesandten der Helvetischen Republik in Paris. Zeittafel und Anmerkungen beschliessen den Band, der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Helvetik umfassend darstellt.

besprochen von Anton Krättli, Kulturredaktor der «Schweizer Monatshefte» von 1965 bis 1993.

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