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Alarm im Klassenzimmer:
Leseschwäche in der Volksschule

Viele Jugendliche haben Mühe, einfache Texte zu verstehen. Das hat verheerende berufliche wie demokratiepolitische Auswirkungen. Die Schule muss stärker auf die Lesekompetenz fokussieren, statt sich in einer Fülle von Aufgaben zu verlieren.

Alarm im Klassenzimmer: Leseschwäche in der Volksschule
Bild: Pixabay/NWimagesbySabrinaEickhoff

Wir wissen es schon lange, doch wir verdrängen es: Die Lesekompetenz junger Menschen schwindet. Seit Jahren. Der aktuellste PISA-Test, publiziert im Dezember 2022, spricht Klartext: Die Gruppe der sogenannten Risikoschüler, die einfache Verknüpfungen zwischen verschiedenen Textteilen nicht herstellen können, ist auf 25 Prozent angewachsen. Als leistungsstark gelten nur noch 9 Prozent.

Jeder vierte Schulabsolvent in der Schweiz kann also nach der obligatorischen Schulzeit nicht richtig und verständig lesen. Er ist nicht imstande, einem einfachen Text alltagsrelevante Informationen zu entnehmen. Konkret: Er vermag das Geschriebene zwar zu entziffern, versteht das Gelesene aber im Gesamtkontext nicht. Das ist auch demokratiepolitisch besorgniserregend. Schliesslich ist und bleibt Lesen der Schlüssel fürs Lernen und die Teilhabe an der Welt – und an unserer Demokratie. Lesen ist auch das wichtigste Instrumentarium beim Aufbau von analytischem und kritischem Denken.

Digitales, oberflächliches Lesen

Das Kernproblem der mangelnden Lesekompetenz liegt beim Verstehen. Konzentrierte Lektüre wird seltener, die Fähigkeit zu intensivem und verständnisorientiertem Lesen nimmt ab. Omnipräsent im Leben junger Leute ist hingegen das Lesen von Kurznachrichten auf WhatsApp, TikTok und anderen sozialen Medien. Die Lesetätigkeit erschöpft sich im Überfliegen von Texten und im Gebrauch von Tablets oder Smartphones. Zudem können digitale Nachrichten die Lektüre jederzeit unterbrechen.

«Die Lesetätigkeit erschöpft sich im Überfliegen von Texten und im
Gebrauch von Tablets oder Smartphones.»

Der digitale Raum mag mehr Lesestoff als jemals zuvor bieten, doch er verführt vielfach zu oberflächlichen und fragmentarischen Leseprozessen, im schlimmsten Fall gar zum Nichtlesen. Wer kurze Wege gewohnt ist, reagiert unwirsch auf längere, oder anders gesagt: Die Welt der nicht alltäglichen Sprache, des differenzierenden Diskurses ist für manche Schülerinnen und Schüler unvertrautes Gelände. Nicht alltägliche Texte lesen und den Sinn verstehen wird für sie zur Schwerstarbeit, die Aufgabe einer nuancierten Versprachlichung wird als Zumutung empfunden. So bilden sich neue Sprachbarrieren. Das Unbehagen am Lesen steigt, Verständnisprobleme nehmen zu.

Umso mehr müsste die Schule hier Gegensteuer geben und die jungen Menschen aus ihren Eigenwelten mit den Fast-Food-Informationen herausholen und ihnen als Brückenbauerin andere (Lese-)Welten einsichtig machen – und sie darin trainieren. Gefordert wäre ein intensives, kontinuierliches Training in wohldosierten sprachlichen Fremdheiten – mit der Lehrperson als Fremdenführerin.

Denn die Freude am Lesen kommt erst mit dem Können. Was nicht zuletzt im Interesse von Kindern ist, die aus sozial schwächeren Familien kommen. Auch in demokratiepolitischer Hinsicht liegt hier eine der zentralen Aufgaben der Schule. Lesekompetenzen und Formen des Lesens sind keine Relikte eines analogen Zeitalters.

«Die Freude am Lesen kommt erst mit dem Können.»

Verzettelte Aufgaben und heterogene Klassen

Die Schule hat sich im fachlichen Vielerlei verloren. Zu viel Verschiedenes muss gleichzeitig erarbeitet werden: Deutsch, Frühenglisch, Frühfranzösisch. Wenn die Aufgabenfülle steigt und die Inhalte zunehmen, minimiert sich die Übungszeit. Beides lässt sich nicht gleichzeitig maximieren. Das ist schlichte Proportionenrechnung und keine Ideologie. Vertieftes und konzentriertes Lesen oder «Deep Reading», wie es die Leseforschung nennt, braucht angeleitetes Üben – systematisch, intensiv, strukturiert. Aus Sicht der Wissenschaft zuerst mit analogen und erst dann mit digitalen Medien.

Die verstärkte Heterogenität in den einzelnen Klassen behindert oder verhindert es gar. Viele Lehrpersonen erleben, dass die angedachte Integration in dieser Form nicht recht funktioniert. Verhaltensauffällige Schüler belasten den pädagogischen Alltag. Der Wegfall der Kleinklassen als Folge der Integration ganz unterschiedlicher Kinder in die gleiche Lerngemeinschaft verstärkt die Unruhe im Klassenraum. Das geht auf Kosten des Kernauftrags Unterricht.

Auf die guten Grundlagen aber kommt es an und auf einen lernwirksamen Unterricht mit klaren Verbindlichkeiten. Das ist auch der Grundtenor des bildungspolitischen Positionspapiers der FDP Schweiz. Das Manifest will die curriculare Überfülle und die Sprachlastigkeit der heutigen Primarschule minimieren, die gesteigerte Heterogenität über die forcierte Integration reduzieren und den Unterricht auf den Kern des schulischen Auftrags konzentrieren. Dazu gehören die elementaren Kulturtechniken des Lesens und Schreibens, des Redens und Rechnens.

Die Schule kann nicht alles und müsste vor allem eines grundlegend tun: an Texten und Gegenständen Sprache schulen, Gelesenes in Worte und Sätze fügen, Inhalte resümieren und sie in einen Kontext bringen, Wesentliches artikulieren und Querbezüge formulieren. Hier lässt sich die Kraft zur Präzision, zur Nuance, zum Begriff trainieren; hier lassen sich Gesichtspunkte unterscheiden, verbinden, einordnen. Nur so lässt sich das Verstehen schulen.

Der Mensch ist kein geborener Leser. In unseren Genen verankert ist die Sprache, nicht aber das Lesen. Es muss aktiv erlernt werden; von selbst kommt es nicht. In die Welt der Texte und des verstehenden Lesens werden wir geführt. Darum ist ein systematischer und strukturierter Leseunterricht so bedeutsam. Ihm kommt in einer kommunikativ verdichteten Gesellschaft nach wie vor hohe Priorität zu – vor vielem anderem.

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