Aktivisten in Richterroben
Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich die Integration der Europäischen Union auf die Fahnen geschrieben. Weil ihm die Kompetenz dafür fehlt, erreicht er genau das Gegenteil: Er wird zur Gefahr für die europäische Rechtsgemeinschaft.
Die EU ist eine Rechtsgemeinschaft oder sie ist gar nichts. Wer solche Worte äussert, wird schnell als Europaskeptiker gebrandmarkt. In Tat und Wahrheit sind es aber ehrliche Worte eines besorgten Europäers.
Die Europäische Union ist ein Staatenverbund, der auf Verträgen basiert. Diese wurden von den Mitgliedstaaten der EU in zumeist langen und zähen Verhandlungen definiert und geschlossen. Die Basis der Union sind also Verträge, sprich: festgeschriebenes Recht.
Dieses in den Verträgen verankerte Recht verteilt die Zuständigkeiten zwischen der Union und ihren Mitgliedstaaten. Und es begründet und begrenzt die Rechte und Pflichten der Europäischen Union und ihrer Organe. Das bedeutet: Die EU-Organe haben nur die Kompetenzen, die ihnen durch die Verträge übertragen werden. Und es liegt nicht in ihrer Zuständigkeit, diese Kompetenzen nach Lust und Laune eigenmächtig auszuweiten. Ihnen fehlt die sogenannte Kompetenz-Kompetenz.
Expansive Rechtsprechung
Das gilt auch für den Europäischen Gerichtshof (EuGH). Seine Rolle ist klar in den Verträgen der Europäischen Union festgeschrieben. Und diese Rolle ist eine juristische und keine politische. Das bedeutet auch, dass es nicht seine Aufgabe ist, die politische Integration der Europäischen Union voranzutreiben. Denn dies ist und bleibt Aufgabe allein der Mitgliedstaaten, die die Weiterentwicklung der Gemeinschaft in Verträgen festhalten. Im EU-Vertrag steht zwar, dass der Vertrag «eine neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas» darstelle (Artikel 1), aber die Verwirklichung einer «immer engeren» Union ist Sache der Mitgliedstaaten, die entsprechende Verträge schliessen können.
Trotz seiner klar festgelegten Kompetenzen und Rolle hat sich der Europäische Gerichtshof selbst von Anfang an als «Motor der Integration» verstanden und sich eine politisch-aktivistische Rolle angemasst. In dieser hat er die Verträge der EU zugunsten der Union gedehnt und ist dabei auch vor revolutionären Entscheidungen nicht zurückgeschreckt. So hat er beispielsweise dem Europarecht Vorrang vor dem nationalen Recht gegeben oder die Direktwirkung der Richtlinien «erfunden».
Das EU-Recht wirkt so in sehr vielen Bereichen stark in die nationale Politik hinein. Soweit der EuGH das EU-Recht durchsetzt, ist das nicht zu beanstanden. Aber er geht eben immer wieder über das geltende Recht hinaus und verpflichtet die Staaten zu etwas, dem sie nie zugestimmt haben. Das gilt für Massnahmen auf dem Gebiet der Sozialpolitik ebenso wie beim Thema Migration. So hat der EuGH mit seiner expansiven Rechtsprechung die Kompetenzen der EU immer weiter zulasten der Mitgliedstaaten ausgedehnt und sich quasi an ihre Stelle gesetzt. Der EuGH macht so Politik – und zwar ohne jegliche demokratische Legitimierung. Deutlichstes Zeichen dafür, dass solche Einmischungen und Kompetenzanmassung zu politischem Unmut führen können, ist die Entscheidung der britischen Stimmbürger, aus der EU auszutreten.
Ausweitung auf die Schweiz?
Auch der Schweiz droht eine Einmischung durch den EuGH. Durch das geplante Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union würde der EuGH künftig faktisch bei Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Partnern entscheiden.
Es könnte der Schweiz dann so gehen wie jetzt schon den Mitgliedstaaten der EU. Sie könnte Pflichten unterworfen werden, die nicht zwischen der Schweiz und der EU vereinbart worden sind, sondern die der EuGH sich «ausgedacht» hat.
Zwar hat sich an der Rhetorik einiges geändert, die Richter vermeiden heute das Selbstbild des «Motors der Integration» – trotzdem verfolgt der EuGH weiterhin seine aktivistische Agenda und wird dabei wohl auch vor der Schweiz nicht zurückschrecken. Ein Gericht, das eine politische Mission verfolgt, ohne dazu legitimiert zu sein, ist ganz klar auf Abwegen und eine Gefahr für die EU als Rechtsgemeinschaft – und damit auch für die Europäische Union als Ganze.
«Die Schweiz könnte Pflichten unterworfen werden, die nicht zwischen ihr und der EU vereinbart worden sind, sondern die der EuGH sich ‹ausgedacht› hat.»
In Deutschland tritt das Bundesverfassungsgericht mit seiner Ultra-vires-Kontrolle solchen Kompetenzüberschreitungen des EuGH entgegen. Dabei beschränkt es sich allerdings darauf, offensichtliche Kompetenzüberschreitungen zu rügen und einem EuGH-Urteil nur dann entgegenzutreten, wenn dieses willkürlich und völlig unvertretbar ist. Ein aktuelles Beispiel ist die Entscheidung im PSPP-Verfahren vom Mai dieses Jahres. Hier entschied das Bundesverfassungsgericht, dass das Anleihenkaufprogramm der EZB namens PSPP teilweise verfassungswidrig sei, und stellte sich damit direkt gegen die Rechtsprechung des EuGH. Diese sei «offen willkürlich».
Werden solch evidente Kompetenzüberschreitungen der EU-Organe und des EuGH vom Bundesverfassungsgericht festgestellt, hat dies zur Folge, dass die betreffenden Entscheidungen der EU in Deutschland keine Anwendung finden. Leider übt das Bundesverfassungsgericht die Ultra-vires-Kontrolle aber so zurückhaltend aus, dass die meisten Kompetenzüberschreitungen der EU hingenommen werden. Für mich bleibt dabei die Frage: Wo ist die Grenze zwischen Willkür und Rechtsbeugung?
Der Europäische Gerichtshof geht willkürlich mit der eigenen Rechtsordnung um. Der europäischen Integration erweist der EuGH damit einen Bärendienst, denn: Europa wird so nicht stärker zusammenwachsen, sondern am Ende auseinanderfallen