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Ärzteausbildung: Sonderfall und Flaschenhals

Die Schweiz bildet zu wenig Ärzte aus. Zusätzliche Fakultäten sollen zumindest für einen leichten Kurswechsel sorgen. Wird das funktionieren?

Ärzteausbildung: Sonderfall und Flaschenhals

In der Schweiz fehlt es an Hausärzten, jungen Assistenzärzten und in manchen Feldern auch an Spezialisten. Gleichzeitig beschränken wir immer noch den Zugang zur Ausbildung mit dem Numerus clausus. Warum?
Viele Länder kennen in irgendeiner Form Einschränkungen bei der Zulassung oder im Laufe des Medizinstudiums: Das Studium ist teuer, die Anzahl der Bewerberinnen und Bewerber übersteigt die Kapazitäten in der klinischen (praktischen) Ausbildung, und zu viele Studierende beeinträchtigen die Qualität. Inzwischen hat man erkannt, dass die Anzahl Studienplätze für Humanmedizin in der Deutschschweiz (weniger in der Romandie) in den vergangenen zwei Jahrzehnten zu gering war. Eine Erhöhung der Studienplätze erweckte jedoch immer wieder Ängste: beispielsweise bei den Medizinerverbänden vor einer zu hohen Konkurrenz oder bei den Gesundheitspolitikerinnen und -politikern sowie Versicherern vor der Kostenexplosion im Gesundheitswesen. Allerdings sind die Kosten trotz Numerus clausus gestiegen.


Die Nachfrage nach Ärzten verschwindet ja nicht – man holt sie dann einfach aus Nachbarländern.

Heute werden zwei Drittel der jährlich neu praktizierenden Medizinerinnen und Mediziner aus dem Ausland rekrutiert; auch für selbständig erwerbende oder leitende Funktionen, die vor der Freizügigkeit mit der EU den in der Schweiz ausgebildeten Personen vorbehalten waren. Gleichzeitig möchten Tausende von jungen Erwachsenen in der Schweiz Medizin studieren und finden keinen Studienplatz. Bildungs- und migrationspolitisch ist diese Lage sehr unerfreulich, verursacht durch eine misslungene Steuerung und einen nationalen Monopolgedanken.

Nach Jahren der Stagnation zeichnet sich nun eine Entspannung ab.
Mit dem 2016 bewilligten Sonderprogramm «Hochschulmedizin» ist eine Abhilfe geschaffen worden. Die Anzahl der Studienplätze wird um 50 Prozent erhöht. Der Bund beteiligt sich dabei mit einer vorübergehenden Zusatzfinanzierung. Wegen der progressiven Erhöhung und der Dauer der Ausbildung werden sich die Massnahmen jedoch erst in ungefähr zehn Jahren auswirken.

 
Gibt es angesichts des Nachfrageüberhangs nach Ausbildungsplätzen überhaupt Druck auf die Universitäten, eine Topausbildung anzubieten?

Die universitären Hochschulen in der Schweiz bieten in internationalen Vergleichen insgesamt eine qualitativ hochstehende Ausbildung an. Da aber zwei Drittel der neu praktizierenden Medizinerinnen und Mediziner seit Jahren aus dem Ausland in die Schweiz kommen, ist es tatsächlich angezeigt, die Frage nach der Quantität unserer Studienplätze zu stellen. Es geht dabei auch um Fairness gegenüber unseren potenziellen Studierenden. Ich glaube nicht, dass die im Ausland ausgebildeten Ärztinnen und Ärzte beim Beginn ihres Studiums intelligenter oder fleissiger waren als die wenigen hundert (von Tausenden von Kandidatinnen und Kandidaten), die im Schweizer Eignungstest um wenige Punkte unter der von den Studienplätzen bestimmten Schwelle gescheitert sind. Ebenso ist es kaum eine Frage der Ressourcen. Auch mit der beschlossenen 50prozentigen Erhöhung der Studienplätze bleiben die Kosten der Medizinerausbildung in der Schweiz pro Kopf weiter an der Weltspitze.

Das Studium selbst hat sich in der Schweiz im Vergleich zum Ausland wenig entwickelt: Wir halten nach wie vor stark daran fest, dass einzelne Spezialisten in voneinander losgelösten Vorlesungen von unterschiedlicher Qualität ihr Wissen teilen – insbesondere im angelsächsischen Raum hat man längst eng koordinierte, aufeinander abgestimmte Vorlesungen durch wenige, in hohem Prozentsatz engagierte Dozenten. Welche Kräfte verhindern hier eine Reform?
Die Organisation des Medizinstudiums in der Schweiz entspricht dem Standard in Kontinentaleuropa. In den USA ist die Kumulation von Lehraufträgen an der «Medical School» einer Universität mit der Funktion als Chefarzt in einem Universitätsspital nicht systemisch. Nichts verbietet es in der Schweiz einem Kanton, als Träger der Universität und von Spitälern neue Lösungen zu suchen. Eine Stärke der Schweiz ist die Vielfältigkeit und die daraus hervorgehende Innovationskraft, auch in den öffentlichen Diensten. Die bestehenden finanziellen Verknüpfungen und die Interessen der Betroffenen sind jedoch ein hohes Hindernis.

Seit Jahren gibt es ausserdem Kritik, dass für die Ausbildung gedachte Gelder viel zu stark in der Forschung eingesetzt würden. Welche Ideen werden verfolgt, um das zu ändern?
Gute Forschung ist Voraussetzung einer guten Lehre an den Universitäten. Bedingt durch diese enge Verknüpfung ist eine klare, zwischen den zwei Leistungsbereichen trennende Kostenrechnung schwierig. Aber die Kritik ist nicht unbegründet. Mit der generell steigenden Anzahl von Studierenden konfrontiert, haben andere Fakultäten die zur Verfügung stehenden Finanzmittel in Lehre und Forschung gezielt investieren müssen. Anders in der Medizin: mit dem festbleibenden Numerus clausus hatten die Medizinfakultäten mehr Spielraum, um in nicht unbedingt für die Qualität der Lehre notwendige Forschung zu investieren. Das mag gut für die Behandlung der Patientinnen und Patienten sein, doch diese medizinische Verbesserung sollte nicht über die für die Bildung bestimmten Mittel finanziert werden.

Wesentliche Beträge fliessen auch an die Universitätsspitäler.
Die Universitäten gelten die Universitätsspitäler für Leistungen ab, die diese für die Grundausbildung der Medizinerinnen und Mediziner einfordern (die Weiterbildung zum Facharzt ist eine andere Geschichte). Diese Abgeltungen sind enorm gewachsen: über 500 Millionen Franken gehen jährlich nur unter diesem Titel zulasten der Universitäten. Ein bedenklicher Sonderfall: kein Gericht stellt einer Universität Rechnung für die Praktika der angehenden Juristinnen und Juristen; kein Unternehmen bittet die Berufsfachschule zur Kasse für die teuren Maschinen, die der angehende Polymechaniker in der beruflichen Grundbildung benützt.

Warum läuft das so?
Dieser Sonderfall hat Gründe: das Krankenversicherungsgesetz verlangt, dass Ausbildungskosten nicht durch die Versicherten zu übernehmen sind. Wer aber finanziert den Kostenanteil, der nicht über die zwischen den Spitälern und den Versicherern ausgehandelten Spitaltarife abgedeckt ist? Faktisch ist es fast ausschliesslich der Trägerkanton. Die Kosten der Universität hingegen werden vom Bund und von den Herkunftskantonen der Studierenden weitgehend mitgetragen. Es wird also schnell klar, welche Anreize die Berechnung der Abgeltungen zwischen Universität und Spital kantonsintern beeinflussen. Es ist ein Ziel des oben erwähnten Sonderprogramms und der damit verbundenen Erweiterung der Fakultäten, diese falschen Anreize durch eine Aufweichung der Monopole zumindest einzudämmen.

Neu werden auch die Universitäten Luzern, Lugano, St. Gallen und Fribourg medizinische Fakultäten betreiben. Welche Effekte erwarten Sie darüber hinaus von diesem Ausbau?
Die geplanten neuen Ausbildungsangebote könnten frischen Wind in die Quersubventionierung der Spitäler durch die Universitäten bringen, weil eben in einigen Fällen Universität und Spital in unterschiedlichen Kantonen liegen. Sie könnten hoffentlich gar zur glücklichen Überraschung führen, dass die Grundausbildung eines Mediziners in der Schweiz zwar weiterhin mehr als im vergleichbaren Ausland kostet, aber nicht weiter um ein Vielfaches wie bis anhin.

Was kostet der Ausbau?
Das Sonderprogramm wird vom Bund während vier Jahren jährlich mit 25 Millionen Franken finanziert: das entspricht zwei Prozent der Gesamtkosten der Medizinfakultäten in der Schweiz. Es führt aber zu einer nachhaltigen Erhöhung von 50 Prozent der Studienplätze. Wie hoch die Kosten bei den Kantonen sind, lässt sich aufgrund der unübersichtlichen Grenze zwischen Bildungs- und Gesundheitspolitik (bei den Universitätsspitälern allein geht es um viele Milliarden) nicht einfach bestimmen. Noch nie war ein Programm des Bundes im Hochschulbereich so effizient.

Ein weiterer Flaschenhals ist heute die regulatorische Pflicht zu jahrelanger Ausbildung auch noch nach dem Studium. Was ist der Sinn davon?
Die Zulassung als Facharzt und die entsprechende Ausbildung sind ausschliesslich Sache der Akteure des Gesundheitswesens wie des Bundesamtes für Gesundheit, der kantonalen Gesundheitsdirektionen, der Spitäler und Fachorganisationen der Ärzte. Seitens der Bildungsbehörden und Hochschulen fehlt uns die Zuständigkeit dafür.

Im Ausland begegnet man dem Problem des Ärztemangels teilweise mit der Aufwertung anderer Berufsgruppen – das KS Winterthur kennt als Pilotprojekt bereits Pflegefachexperten/Nurse Practitioner. Ist das eine Option für die gesamte Schweiz?
Diese Entwicklung wird in der Schweiz diskutiert und von einigen Akteuren mit Interesse verfolgt. Falls damit aber eine allgemeine Verlängerung der Ausbildung einhergeht oder das Ziel verfolgt wird, die Grundausbildung in den Pflegeberufen ausschliesslich zur Hochschulstufe zu verschieben, stehen wir dieser Entwicklung aus bildungspolitischer Sicht teilweise kritisch gegenüber. Fachkräftemangel haben wir auch in diesen Berufen. Dazu driftet diese Diskussion leider schnell in die Frage ab, wer den Sozialversicherungen selbständig Rechnung stellen darf. Auch bei der Pflegeausbildung haben wir bereits Sonderfälle, wie die Bezahlung der Studierenden durch die Schulen, wodurch – wie in der Medizin – Mittel für die Bildung in die allgemeine Finanzierung des Gesundheitswesens abfliessen.


Mauro Dell’Ambrogio
ist Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation im Eidgenössischen Departement für Wirtschaft, Bildung und Forschung WBF. Er ist promovierter Jurist.


Olivia Kühni
ist stv. Chefredaktorin des «Schweizer Monats».

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