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Achtung Gefahr!

Ist Angst die Grundbefindlichkeit der Gegenwart? Jedenfalls scheint das Sicher-heitsbedürfnis in westlichen Gesellschaften unersättlich zu sein. Das Problem dabei ist nur, dass es ständig neue Unsicherheit erzeugt.

Terrorgefahr, Naturkatastrophen, Epidemien, Kindesentführungen, städtische Kriminalität: wir leben in unsicheren Zeiten. So scheint es zumindest. Denn ohne diese Schrecknisse und die Folgen im Falle ihres Eintretens verniedlichen zu wollen, lässt sich behaupten, dass es die Dauerthematisierung potentieller Gefährdungen ist, die kollektive Gefühle der Verunsicherung und Angst erzeugt. Die Gefährdungsszenarien führen zu Daueraktivitäten, die einzig zum Ziel haben, den vermeintlichen Risiken zu begegnen und Unsicherheit in Sicherheit zu verwandeln. Faktisch wird jedoch gerade durch den gutgemeinten Aktivismus ein Gefühl von Unsicherheit erzeugt, indem signalisiert wird: Gefahr lauert überall.

Ein paar Indizien: die Branche der privaten Sicherheitsdienste boomt wie kaum eine andere – die Überwachung öffentlicher Gebäude, von Einkaufszentren und Wohnblocks ist zu einem lukrativen Geschäft geworden. Sicherheit muss produziert werden, sei es durch den Einsatz von Videokameras, durch Polizeipräsenz, Strassensperren und weitere Barrieren im Stadtraum, durch die nächtliche Schliessung öffentlicher Grünanlagen, durch die Einführung von Pässen mit biometrischen Daten, durch Rasterfahndung und verstärkte Abhörmassnahmen, durch das Data-Mining, also die systematische Verknüpfung elektronischer Datenbanken mit persönlichen Informationen zum Zweck der Mustererkennung, oder durch die «Dataveillance»: persönliche Daten werden heute in einem noch nie dagewesenen Ausmass registriert, gespeichert, verarbeitet.

Eines der bevorzugten Instrumente zur Herstellung von Sicherheit sind Überwachungskameras. Manchen gilt die Videoüberwachung bereits als fünfte Säule urbaner Infrastruktur – neben Gas, Elektrizität, Wasser und Kommunikation. In London wird jeder Stadtbewohner täglich von bis zu 300 Videokameras aufgenommen. Auch in Schweizer Städten ist die Installierung von Kameras an ausgewählten Orten auf dem Vormarsch. Interessant dabei ist, dass bestehende Untersuchungen zur Wirkung der Videoüberwachung öffentlicher Räume zu eher ernüchternden Resultaten kommen. So zeigt eine Vergleichsstudie der Kriminologen Brendon Welsh und David Farrington aus dem Jahr 2004, dass Videoüberwachung, mit Ausnahme des Einsatzes auf Parkplätzen, eine geringe oder gar keine Auswirkung auf die Kriminalstatistiken hat. Aus statistischer Sicht ist eine bessere Beleuchtung wirksamer als die Installierung von Kameras.

Das Angebot von Sicherheit, hat der amerikanische Soziologe und Historiker Mike Davis mit Blick auf Los Angeles einmal geschrieben, erzeugt auf dem Markt seine eigene paranoide Nachfrage. Unabhängig von den sicher nicht zu verallgemeinernden Bedingungen in der amerikanischen Westküsten-Metropole, trifft Davis einen interessanten Punkt: die Logik der Sicherheit ist unersättlich.

Sein verstorbener Kollege Niklas Luhmann hat in seinem Buch «Soziologie des Risikos» zwischen Gefahr und Risiko unterschieden. Er spricht von Gefahr, wenn die Möglichkeit zukünftiger nachteiliger Ereignisse als von aussen kommender Zufall betrachtet wird – wenn ein nachteiliges Ereignis also der Umwelt zugerechnet und nicht durch menschliche Aktionen ausgelöst wird. Man kann nichts dafür. Risiko bezeichnet demgegenüber die Zurechnung der Möglichkeit zukünftiger nachteiliger Ereignisse auf eigene Entscheidungen; sie entspricht jener Bedrohung, die im Prinzip vermeidbar wäre, wenn auf bestimmte Handlungen verzichtet würde. Man hätte es verhindern können.

«Risiko» ist nun ein Begriff der Moderne, die Luhmann als eine Transformation von Gefahren in Risiken liest: ein «man hätte es verhindern können» bzw. ein «man kann es vorausblickend zu verhindern versuchen» tritt an die Stelle eines «man kann nichts dafür». Zustände, wie sie noch vor einigen Generationen als Fügung des Schicksals aufgenommen wurden, werden nun als Resultat zurechenbarer Handlungen oder Unterlassungen ausgelegt. Die Moderne ist somit eine grosse Unsicherheitserzeugungsmaschine. Was zukünftig möglicherweise geschehen wird, hängt von einer gegenwärtig zu treffenden Entscheidung ab. Im Fall eines Schadenseintritts wird sich stets eine mögliche Entscheidung finden lassen, ohne die es nicht zu einem Schaden gekommen wäre.

Dabei kann es vorab kein Richtig oder Falsch geben. Die Zukunft ist ungewiss, und ob man richtig entschieden hat, weiss man immer erst im nachhinein. Auch Risikovermeidung ist riskant, wie Luhmann anmerkt: «Man jagt sich Tag für Tag durch den Wald, um gesund zu bleiben, und stürzt schliesslich mit dem Flugzeug ab.» Doch wo in unserer Gesellschaft Vorbeugung, Prävention möglich erscheint – wie begründet oder unbegründet auch immer –, wird es riskant, auf sie zu verzichten. Die Logik der Sicherheit, auf die ich hier hinauswill, führt zu einer Art proaktivem, vorausschauenden Risikomanagement. Es ist somit eine Logik, die ständig wiederum Unsicherheit generiert. Jede Handlung, so Luhmann, wird «zum Risiko, etwas nicht beachtet zu haben, was nachträglich als beachtenswert erscheint, oder in einer Weise entschieden zu haben, die nachträglich als verkehrt oder als sonstwie vorwerfbar erscheint».

Bei ausufernden Sicherheitsmassnahmen geht es also weniger um «Überwachen und Strafen» – so ein Buchtitel des französischen Philosophen Michel Foucault; es geht mehr um präventive Risikokalkulation, versuchte Risikoreduzierung, um eine Art antizipierender Intervention vor einem möglichen Fall strafrechtlicher Relevanz. Die Kontrolle verlagert sich gewissermassen nach vorne, von konkreten Fällen der Sicherheitsgefährdung auf einen unbestimmten Bereich der potentiellen Ordnungsstörung. Das heisst aber auch, dass das Spektrum dessen, was als potentiell gefährlich einzustufen und also dem Versuch der vorauseilenden Kontrolle zu unterwerfen ist, sich beinahe beliebig ausdehnt. Dem Diskurs der Sicherheit sind keine Schranken gesetzt; denn er kultiviert den Verdacht: es geht darum, präventiv die denkbaren Formen des Gefahreneintritts zu antizipieren. Aber von welcher Situation liesse sich mit Sicherheit behaupten, dass sie risikolos wäre? Und wie lässt sich Sicherheit anders definieren als mit Abwesenheit von Unsicherheit – die niemals abwesend ist?

So gesehen bringt es wenig, mit Blick auf den Sicherheitsaktivismus allein auf einen staatlichen Leviathan zu verweisen. Luhmanns Unterscheidung zwischen Risiko und Gefahr bezieht sich nicht nur auf politisches oder polizeiliches Handeln, sondern auf die gesellschaftlichen Bedingungen unserer Zeit. Mit Michel Foucault lässt sich diesen Überlegungen ein anders gelagerter Regierungsbegriff unterlegen. Regieren, hat er geschrieben, heisst, das Feld eventuellen Handelns zu strukturieren. Foucault hat dabei bewusst auf einen identifizierbaren Regenten verzichtet. Es handelt sich um weitverbreitete Techniken des Regierens, die sich quer durch die Gesellschaft hindurch in ähnlichen Formen finden lassen: bei der Menschenführung in Unternehmen, wie das die Betriebswirtschaftslehre schnörkellos nennt, über die Kindererziehung bis zur Steuerung sozialer Problemfelder und ökonomischer Prozesse. Es handelt sich um eine spezifische Rationalität, eine Betrachtungsweise der jeweils auftretenden Probleme des Regierens. Sicherheitsdiskurs und Risikomanagement im oben skizzierten Sinn entsprächen so einer Form des Regierens, die auf den Schutz vor angenommenen Problemen und Unsicherheiten zielt. Es ist aus dieser Sicht zunächst einmal unerheblich, ob die Polizei, das Militär, das Strassenbauamt, ein Kaufhaus, irgendeine andere Organisation, eine Familie oder man selbst sich irgendwelcher Präventionsmittel bedient.

Zeitgenössisches Regieren im Foucaultschen Sinne heisst zudem nicht, Verhaltensweisen direkt zu erzwingen, sondern diese wahrscheinlicher zu machen, sie indirekt anzuleiten, sie zu ermuntern. Um zum Beispiel der Videoüberwachung zurückzukommen: Kameras signalisieren eine potentielle Sichtbarkeit, die Möglichkeit, kontrolliert zu werden, das Gefühl, beobachtet werden zu können. Sie disziplinieren nicht die genauen Verhaltensweisen. Sie setzen das Bild des sich selbst kontrollierenden Individuums voraus. Sie sind präventiv dafür da, dass Passanten das Funktionsgefüge nicht stören. Sie sind Teil eines Risikomanagements, indem sie die Wahrscheinlichkeit reibungsloser Abläufe erhöhen. Sie sprechen anonyme Individuen an, die, wie die Soziologin Susanne Krasmann schreibt, «das Risiko ihrer Verhaltensweisen der Gestaltung der Umgebung entnehmen sollen».

Folgt man also den hier angestellten Überlegungen, dann ist die staatliche Videoüberwachung von Stadträumen nur eine Facette einer Logik der Sicherheit, die an allen Ecken und Enden Präventionsformen erfindet, ohne jemals sichergehen zu können. Und je unwahrscheinlicher Sicherheit erscheint, um so erfindungsreicher und weitreichender sind die Anstrengungen, die Fiktion der Sicherheit zu fabrizieren. Diese Logik der Sicherheit zielt darauf, die Ambiguitäten, die die moderne Gesellschaft produziert, unter Kontrolle zu bekommen – womit gleichzeitig wieder Unsicherheit, Angst, manchmal Paranoia hergestellt wird, die dann wiederum mit noch ausgefeilteren Mitteln zu bekämpfen ist.

Die Präventionslogik und die Zurschaustellung von Sicherheitsmassnahmen sind somit gleichermassen Teil des Problems und «Teil der Lösung», so der Titel eines jüngst erschienenen Romans des Schriftstellers Ulrich Peltzer. Indem sein Buch eine Reihe Berliner Figuren der Gegenwart auf ihren Wegen im Umgang mit allgegenwärtiger Überwachung versammelt, thematisiert es auf eindrückliche Weise die Frage, die sich an die Skizze der Logik der Sicherheit anschliesst: Wie steht es um die Möglichkeiten, nicht auf diese Weise regiert zu werden?

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