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Abwarten – und die Teerechnung gleich mitbezahlen

Beat Spirig / Rolf Weder: Von Rosinen und anderen Spezialitäten: Die Schweiz und die EU. Zürich: NZZ Libro, 2011.

Wer wartet, zögert. Nur wer sich entscheidet, existiert – sagte schon Luther. Und ein Michail Gorbatschow zugeschriebenes Bonmot warnt sogar, dass vom Leben bestraft werde, wer (zu lange) warte. Unterstützung für diese These gibt es seitens der Managementtheorie: die dänischen Organisationstheoretiker Kristian Kreiner und Sören Christensen fordern in ihrem Konsequenzenmodell dazu auf, mutig zu sein und Entscheidungen auch auf Basis von wenig Wissen zu treffen. Der Gedanke dahinter: zu Beginn eines Projektes ist die Unsicherheit maximal, die Chance, Geld und Zeit zu gewinnen, jedoch ebenfalls. Am Ende eines Projektes weiss man zwar mehr, aber die Konsequenzen allfälliger Entscheidungen sind nicht mehr gross, es gibt womöglich sogar nichts mehr zu entscheiden. Was aber, wenn man das Warten als bewussten, strategischen Entscheid verstehen lernt?

Für das bewusste Warten plädieren die beiden Ökonomen Rolf Weder und Beat Spirig in ihrem Buch «Von Rosinen und anderen Spezialitäten. Die Schweiz und die EU». Weder, Professor für Aussenwirtschaft am Europainstitut der Universität Basel, und sein Kollege Spirig schwammen schon in der Vergangenheit mit originellen Ansätzen gegen den in der Europapolitik vorherrschenden Dafür-oder-dagegen-Strom. Ihre unorthodoxe Analyse stellt nun viele der im öffentlichen Diskurs geäusserten Phrasen erneut in Frage. Die Ökonomen zeigen auf, dass die oft als «Rosinenpickerei» bezeichnete Europapolitik à la carte nur deshalb funktioniert, weil dadurch ein Mehrwert für die Schweiz und auch ein ebensolcher für die EU generiert wird. Ein unerwünschter Nebeneffekt: unter jenen Ländern, die das gesamte EU-Menü – und eben nicht nur Teile davon – konsumieren (müssen), entsteht gegenüber der Schweiz ein Klima der Missgunst. Was tun? Weder und Spirig antworten: nahrhafte Extrawürste in Form selektiver Integration haben ihren Preis. Dieser ist jedoch durchaus bezahlbar: dank geschickter Scheckbuchdiplomatie und verstärktem Engagement auf multilateraler Ebene.

Die Argumente für ein Fortsetzen des «steinigen Weges» dürften bei Befürwortern eines EU-Beitritts kognitive Dissonanz hervorrufen, denn eine weit verbreitete Meinung besagt, dass die Schweiz bereits De-facto-Mitglied sei, jedoch ohne Mitbestimmungsrechte. Der oft angeprangerte Quasikolonialstatus stellt sich souveränitätspolitisch aber für die Schweiz immer noch besser dar als eine vollständige Integration in die Regulierungsmaschinerien der EU-Institutionen. Zwar könnte die Schweiz bei künftigem EU-Recht mitentscheiden, träte sie bei. Vergessen wird aber, dass zahlreiche bestehende und in Zukunft von der EU erlassene Regeln übernommen werden müssten. Gerade weil grosse Unsicherheit darüber herrscht, in welche Richtung sich das Regelwerk entwickelt – eine verstärkte Tendenz zur Zentralisierung ist wahrscheinlich –, ist der Nettonutzen eines Beitritts klein und der Wert des Wartens hoch.

Warten ist nicht gleichbedeutend mit Zuspätkommen. Denn die EU als Institution dürfte auch in Zukunft ein Interesse am Beitritt der Schweiz haben. Der zunehmende Druck und die verschärfte Rhetorik seitens der EU-Vertreter sind ebenso eine Realität wie die Erfolge des Binnenmarkts und der Integration der ehemaligen Ostblockländer. Aber warum soll diesen Realitäten nicht mit finanziellen Beiträgen an die Leistungen der EU in Osteuropa (Stichwort Kohäsionszahlungen) begegnet werden? Und warum wird nicht stärker auf geleistete Beiträge der Schweiz zur
Lösung europapolitischer Aufgaben hingewiesen (Stichwort Neat)?

Warten muss auch nicht Zögern sein. Denn der mithin entstehende Zeitgewinn kann genutzt werden, das Engagement der Schweiz in globalen Institutionen eigenständig auszubauen – zum Beispiel im Rahmen der WTO für eine multilaterale Liberalisierung des Handels mit Landwirtschaftsgütern. Die Chancen eines Nichtbeitritts bestehen darin, den «Weltgang» (Beat Kappeler) der Schweiz und den Handel mit der ganzen Welt zu verstärken. Wer es sich also leisten kann, lange genug bewusst zu warten, dürfte in der Causa EU künftig auch belohnt werden.

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