«Ab 2028 wird man keine
fossilen Brennstoffe mehr
brauchen»
Nur ein «grüner Deal» kann die Welt noch retten, findet Jeremy Rifkin. Aber wie wird die Welt dann genau aussehen? Ein Streitgespräch.
Herr Rifkin, Extinction Rebellion protestiert und blockiert zentrale Plätze in ganz Europa. Haben Sie Sympathien für diese Art von Protest?
Ich habe über all diese Dinge schon seit 1973 nachgedacht, als die ersten grossen Proteste gegen Ölfirmen zur 200-Jahr-Feier der Boston Tea Party stattfanden. Mein erstes Buch über Klima und Entropie schrieb ich 1980. Gefällt mir das? Nun, ich bin für gewaltfreie, friedliche Proteste. Wenn es je eine Chance auf echten Wandel gab, dann jetzt.
Geht radikaler Wandel also nur über radikalen Protest?
Wir sind spät dran mit dem, was eigentlich passieren müsste. Wissenschafter des UN-Klimapanels sagen uns eine Kaskade von Umweltkatastrophen voraus, wenn wir die 1,5-Grad-Grenze bei der Erderwärmung überschreiten. Es gibt kein Zurück: Wir erleben den Klimawandel und wir müssen uns in einer Weise anpassen, die uns derzeit unvorstellbar erscheint. Das ist nicht ein Problem unter vielen, sondern ein existentielles: Wir beobachten ein nie dagewesenes Artensterben. In nur 80 Jahren könnten wir die Hälfte aller Arten verlieren.
Ihr Buch liest sich wie ein Weckruf. Wollen Sie, dass wir in Panik geraten, wie das Greta Thunberg fordert?
Ich möchte, dass die Menschen den Ernst der Lage erkennen und sich begeistert für einen «Green Deal» einsetzen, wie ihn auch die neue EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen ins Zentrum ihres Programms stellt. Es wird nämlich eine dritte industrielle Revolution geben – die grösste historische Transformation, die Europa je gesehen hat. Aber es geht nicht um Panik, sondern um Dringlichkeit. Wissenschafter sagen uns, dass wir noch 12 Jahre vor uns haben, um das Ruder rumzureissen und völlig neue Wege zu beschreiten, um Wirtschaft, Regierung und Gesellschaft neu zu denken. Doch es wird nicht genügen, dass junge Menschen die Regierenden nur an ihre Pflichten erinnern. Sie müssen sich selbst einsetzen: in der Bürgergesellschaft, den Gemeinden, den Regierungen, beim Konsum, an der Arbeitsstelle.
Sie taxieren den Kipppunkt mutig auf das Jahr 2028 – eine Zahl, ie sich aus dem Mittelwert mehrerer Vorhersagen ergibt. Das scheint mir nicht sehr wissenschaftlich zu sein.
Nun, ich habe diese Studien ja von Grossbanken, der Versicherungswirtschaft, von Beratungsunternehmen – es ist nichts, was ich mir als Autor nur ausgedacht habe. Die fundamentale Transformation sieht wie folgt aus: Die Infrastruktur von Kommunikation, Energie und Mobilität aus der zweiten industriellen Revolution (globale Märkte und Institutionen, Containerschiffe, Flugreisen) ist gereift, hat ihren Effizienzzenit überschritten und befindet sich nun im Niedergang.
Was meinen Sie mit Effizienzzenit?
Nehmen Sie nur das Beispiel Energie: Schon jetzt ist Solarenergie weitaus günstiger als fossile Energieträger, wenn man die Lebensdauer der Anlagen berücksichtigt. Doch es geht um mehr als nur um Energieträger, es geht um ganze Industriezweige, die rund um das Öl aufgebaut worden sind, ich spreche von Düngemitteln, Pestiziden, Verpackungen, Pharmazeutika, es ist überall. Wenn Kommunikationsrevolutionen sich mit Energiegewinnung und Logistik verbinden, verändern sich die Grundlagen dessen, wie eine Gesellschaft sich organisiert, am Leben erhält und bewegt. Derzeit sind nur 2,5 Prozent aller Fahrzeuge elektrisch betrieben, aber deren Wachstumskurve ist exponentiell. Studien sagen uns, dass Elektrofahrzeuge im Jahr 2023 ohne Subventionen wettbewerbsfähig sein werden. Ab Mitte der 2020er Jahre werden sie billiger sein als benzingetriebene Fahrzeuge. Wenn sie sich die Geschwindigkeit anschauen, mit der all das passiert, dann ist die ölgetriebene Zivilisation am Ende. Es ist die grösste Blase der Geschichte.
Nicht so schnell, bitte. Der Club of Rome hat 1972 auch schon vorhergesagt, dass das Ende des Öls in den 1990er Jahren kommen würde. Manche Vorhersagen waren richtig, manche falsch. Können Sie nachvollziehen, dass Menschen von diesen Vorhersagen genug haben?
Hören Sie, ich betreibe Wirtschaftstheorie und -praxis und arbeite zusammen mit der EU, China und anderen Regionen der Welt. Lassen Sie es mich Ihnen erklären: Solar- und Windenergie werden auf exponentielle Weise günstiger, denn die Grenzkosten von beiden liegen bei null. In den letzten vier Jahren sind 11 Billionen Dollar aus den fossilen Energien hinausgeflossen. Jede Bank, jede Versicherung auf der Welt muss heute Rechenschaft darüber ablegen, wie sie mit dem Klimawandel umgeht, wie sie ihre Portfolios gestaltet. Das alles ist real, keine Vorhersage.
Was ist mit negativen Nebenfolgen dieses Wandels? Können die, wie Sie sagen, extrem niedrigen Kosten von Solar- und Windenergie nicht dazu führen, dass Produzenten von fossilen Energieträgern die Förderung nun massiv hochtreiben, um ihre Gewinne zu halten?
Das ist in der Tat gefährlich, da bin ich einverstanden. Eine Studie aus dem Magazin «Nature Climate Change» meint, dass manche Produzenten so ihre Verluste begrenzen könnten, da sie preislich nicht konkurrieren können.1 Sie könnten die Märkte fluten und dadurch die Preise senken, quasi alle Vorräte auflösen. Die Regierungen müssten das stoppen, zum Beispiel mit einer CO2-Steuer für die Industrie. Aber ich glaube nicht, dass wir an einen Punkt gelangen, an dem die Grossproduzenten den Markt stürmen.
«Die Effizienz im Teilen von Information wird
den ökologischen Fussabdruck reduzieren.»
Wie lange werden wir denn Ihrer Meinung nach noch Öl fördern und nutzen?
Analysten von Bernstein Research haben dazu eine interessante Analyse geliefert: Normalerweise hätten wir 20 Jahre an fossilen Energievorräten übrig, jetzt sind es plötzlich nur noch zehn. Das entspricht unserer Berechnung: Ab 2028 wird man keine fossilen Brennstoffe mehr brauchen. Ich glaube, dass Energieunternehmen sich an ihre bisherigen Reserven halten und versuchen werden, die Verluste zu minimieren – ganz nach dem Motto: «Warum sollten wir nach etwas graben, das eh nicht mehr genutzt werden wird?»
Ihre Ideen betreffen häufig Infrastrukturfragen. Ihre Bücher richten sich deshalb mehr an globale Eliten, Grossfirmen oder die EU als an die Bürger…
Ohne die Regierungen geht es nun mal nicht. Märkte schaffen keine Infrastruktur. Regierungen tun es. Die erste und zweite industrielle Revolution war zentralisiert, von oben nach unten orientiert, also übergestülpt und dann in der Breite implementiert. Das Interessante am «Green New Deal», der dritten industriellen Revolution ist folgendes: Dieses System ist verteilt, offen und transparent, mit Gemeinden und Regionen als Treibern, also «bottom-up». Es sind deshalb die Standards aus der zweiten industriellen Revolution, die uns davon abhalten, die Infrastruktur der dritten industriellen Revolution voranzubringen. Die Aufgabe der Nationalstaaten wird es sein, die Gesetze, Regulierungen, Standards, Ziele und Anreize zu liefern.
Zum Beispiel?
Wir sehen gerade einen Wandel bei Organisationsstrukturen, die man «Glokalisation» nennen kann. Wir werden hochtechnologische KMUs in Genossenschaftsstrukturen sehen, virtuell und physisch vernetzt mit Plattformen. In der ersten industriellen Revolution brauchten wir Nationalstaaten, um die Märkte zu kontrollieren. In der zweiten industriellen Revolution organisierten wir uns über globale Märkte und globale Institutionen. In der dritten industriellen Revolution nun geschieht das alles sehr direkt: Ein heutiges KMU kann sehr günstig mit der ganzen Welt kommunizieren. Bisher beruhte Geopolitik auf dem Umstand, dass Energiequellen lokal waren und um sie Kriege geführt wurden. Sonne und Wind gibt es hingegen überall, sie müssen nur geteilt werden. Das «entwaffnet» die Welt.
«Wir werden von Märkten zu Netzwerken übergehen,
von Transaktionen zu Strömen, von Eigentum zu Zugang.»
Sorgt das nicht aber auch für mehr Abhängigkeit für den Kunden von einer einzigen «grünen» Infrastruktur? Hinzu kommen die Risiken von Big Data, Überwachung, man könnte auch ein Social Scoring System basierend auf «gutem Verhalten» aufbauen. Ihre Utopie könnte sich schnell als Dystopie erweisen.
Ich bin kein Utopist und schon gar kein Silicon-Valley-Utopist. Ich bin Realist und kritisch gegenüber vielen Technologien, etwa der Gentechnik. Netzwerkneutralität ist ein politisches Thema, die EU arbeitet bereits daran. Letztlich hilft die Dezentralisierung auch hier. Grossfirmen werden an kleine Firmen verlieren, die auf allen Arten von Plattformen zusammenfinden. Das wird grosse, klobige Zentren wie Google und Facebook obsolet machen. Das Internet ist ein globales Gehirn geworden, das es der Menschheitsfamilie möglich macht, zusammenzukommen.
Diese Server brauchen auch Energie. Netflix verbraucht allein so viel, wie Deutschland an erneuerbarer Energie produziert.
Auch hier helfen dezentrale Systeme. Über das «Internet der Dinge» kann jeder Teilnehmer aus dem Datenstrom das herausnehmen, was er wirklich braucht, und dann eigene Algorithmen und Analysetools darauf anwenden. Die Effizienz im Teilen von Information wird den ökologischen Fussabdruck reduzieren. Es gibt auch Unternehmensmodelle, mit welchen Investitionen in Energieeffizienz letztlich über die Jahre amortisiert werden können. Hier finanziert also ein Unternehmen die effiziente Infrastruktur vor und bekommt seine Investition über Einsparungen in den nächsten Jahren wieder. Das Eigentum an der Infrastruktur liegt bei den Nutzern, dafür müssen die lokalen Träger sorgen. Wir haben einen Gemeingutansatz auf lokaler Ebene bei diesen Plattformen.
«Wir werden von Märkten zu Netzwerken übergehen,
von Transaktionen zu Strömen, von Eigentum zu Zugang.»
Sie schlagen Impact Investing vor, also dass auch der Bürger in diese Infrastruktur investieren soll. Die Solarindustrie in China und Deutschland kämpft aber doch um ihr Überleben.
Sie wächst jedes Jahr um 1 Prozent. Fossile Energieträger dagegen haben die niedrigsten Profite auf dem Markt. Warum, glauben Sie, sind 11 Billionen Dollar aus fossilen Brennstoffen abgeflossen – nur wegen guter Absichten der Pensionsfonds? Der S&P-Index weist sie als mit die schwächsten Aktien aus. Sie sind keine guten Investments.
Grüne Energieträger sind bessere Investments?
Absolut, sie sind der Schlüssel zu allem anderen. Sie machen das Leben günstiger. Bitte sagen Sie Ihren Lesern nicht, dass sie teurer sind als fossile Energieträger. Kurzfristig mag das der Fall sein, man zahlt erst mal mehr. Auf lange Sicht aber erhalten Sie Energieeffizienz und niedrigere Rechnungen.
Wie stehen Sie zu Subventionen?
Subventionen haben funktioniert, sie haben Innovationen befördert und haben Kosten reduziert. Die Stromgestehungskosten, also die Kosten der Umwandlung von einem Energieträger in einen anderen, liegen unter denen von Erdgas und fallen weiter. Über die nächsten Jahre werden wir keinen Bedarf für Einspeisevergütungen in Ländern haben, die diesen Wandel bereits hinter sich haben.
In der Schweiz macht die Wasserkraftindustrie noch einen Verlust von etwa 1 Mrd. Schweizer Franken pro Jahr.
Gibt es in der Schweiz noch eine Einspeisevergütung?
Ja, offiziell bis zum Jahr 2022.
In den USA läuft diese in vielen Bundesstaaten bereits aus. Wenn Sie über Einspeisevergütungen reden, werden Sie dann auch sagen, dass diese nichts sind im Vergleich zu den gewaltigen Subventionen für fossile Energieträger und Atomstrom, direkte und indirekte, für Industriezweige, die absterben? Erneuerbare Energien sind schon längst an dem Punkt, wo Einspeisevergütungen nicht mehr gebraucht werden.
Ist die Wirtschaft, die Sie beschreiben, noch eine freie Marktwirtschaft basierend auf Profiten und Wachstum?
Ich nenne es eine hybride Wirtschaft. Die Infrastruktur bestimmt über das Geschäftsmodell mit. Wir werden von Märkten zu Netzwerken übergehen, von Transaktionen zu Strömen, von Eigentum zu Zugang.
Ist es nicht besser, ein Haus zu besitzen, als nur Zugang dazu zu haben?
Künftig werden sich hybride Strukturen durchsetzen – wir gehen gerade von Käufer-Verkäufer-Strukturen zu Provider-Nutzer-Verhältnissen in Netzwerken über. Bei der Sharing-Ökonomie sehen wir ein neues ökonomisches System jenseits von Kapitalismus und Sozialismus. Ein Teil davon geht zum Kapitalismus, die Ubers und Airbnbs. Ein anderer Teil geht zu Plattformen wie Wikipedia, wo die ganze Welt – für gerade mal 15 Millionen Dollar an Spenden – ein demokratisiertes Wissen zum Nulltarif bekommt. Es ist die fünftgrösste Webseite der Welt und kommt in keinem Bruttoinlandsprodukt vor. Menschen werden nicht nur Wissen teilen, sondern dann auch Energie und später Mobilität.
Und wem wird all das gehören?
Wir werden eine Renaissance der Genossenschaft erleben: Man wird auf sektorenübergreifenden Plattformen zusammenarbeiten und Kommunikation, Energie, Mobilität, lokale und regionale Netze verwalten. Der daraus resultierende Gewinn bleibt bei der Community. Genossenschaften sind massgeschneidert für eine dezentrale Welt. Wenn es sie nicht schon gäbe, müsste man sie erfinden.
«Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist,
die Probleme anzugehen, ohne Panik und als Kollektiv.»
Ich komme noch aus einer Generation, die mit kostenlosem Couchsurfing begonnen hat. Durchgesetzt aber hat sich das kostenpflichtige Airbnb…
Couchsurfing war ein Ideal, das es nicht geschafft hat, sein Modell schnell genug zu transformieren. Aber nehmen wir ein anderes Beispiel: Uber startete als Firma, die zu Null-Grenzkosten Taxifahrten anbot. Jetzt sehen wir, wie sich Fahrer genossenschaftlich organisieren. Es kostet fast nichts, eine Webseite aufzusetzen, sich regional zu vernetzen und dann die Gewinne zu verteilen. Ich sage genau dies voraus: Die Airbnbs werden nicht überleben. Jüngere Generationen, wie die Generation Z, werden zum Genossenschaftsmodell übergehen. Einfach, weil es so simpel ist wie das Aufsetzen einer Webseite. Niemand hat bisher Wikipedia geschlagen.
Wenn ich all Ihre Bücher zusammenführe, werden wir in einer Welt ohne Arbeit leben, einer empathischen, grünen Nullgrenzkostengesellschaft, in der alles dezentral ist. Was sehen Sie als das grösste Hindernis zu dieser Vision?
Ich denke, alles ist jetzt da. Wir können die Infrastrukturrevolution umsetzen! Das Bewusstsein ändert sich bereits jetzt, ausgehend von den Jüngeren. Die Menschen sehen die Veränderungen durch den Klimawandel, haben plötzlich Angst. Wir erkennen, dass wir nicht die Herren der Welt sind, sondern ziemlich klein und der Umwelt ausgeliefert. Die einzige Möglichkeit, die uns bleibt, ist, die Probleme anzugehen, ohne Panik und als Kollektiv. Die Technologie ist da, der Markt spricht, die Governance wird von lokaler und regionaler Ebene hin zur nationalen wandern und es möglich machen.
J. Mercure, H. Pollitt, J. E. Viñuales et al.: Macroeconomic Impact of Stranded Fossil Fuel Assets. In: Nature Clim Change 8 (2018), S. 588–593. doi:10.1038/s41558-018-0182-1 ↩