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Hinter den Fassaden

Fotojournalist Alex Kühni reiste nach Nordkorea und sah, was er ­sehen durfte: freigegebene Strassen, renovierte ­Häuserzeilen, ausgebildete Touristen­führer.

Hinter den Fassaden

Vorwort der Redaktion:

Ein Fotojournalist zu sein, ist alles andere als einfach in Nordkorea: es herrschen Verbote, strikte Regeln und Anweisungen, an die man sich halten muss. Strassen dürfen nur von einer Seite her fotografiert und ­Monumente nur in einer Perspektive abgebildet werden. Es gibt Kontrollen des Bildmaterials und Aufforderungen, dieses zu löschen.

Der Fotojournalist Alex Kühni bereiste das Land Ende Dezember 2017 zum dritten Mal. Wie bei den Besuchen davor waren seine Touren bis ins kleinste Detail ­orchestriert. Die vorgebuchte Reise folgte einem vorgegebenem Programm. Besucht werden konnten nur jene rund 200 Orte, die durch den Staat ­freigegeben wurden. Noch immer bewegte er sich nur auf jenen Strassen, die von Touristen gesehen werden dürfen – auch wenn dafür immense ­Umwege in Kauf genommen werden müssen. So ist journalistische ­Arbeit unmöglich.

Dennoch erlebte Kühni im Gegensatz zu den ersten beiden Reisen in den Jahren 2011 und 2015 Veränderungen, zum ersten Mal einen gewissen Spielraum. So waren kleinere Abweichungen zum vorgegebenen Programm denkbar, beispielsweise der Besuch in einer Pizzeria, dem nach telefonischen Abklärungen stattgegeben wurde. Und zum ersten Mal war es ihm erlaubt, sein Mobiltelefon mitzuführen.

Sieben Jahre nach seiner ersten Reise erlebt Kühni auch die Bevölkerung in einem leicht veränderten Licht: nach wie vor sind die staatlichen Touristenführer die einzigen Nordkoreaner, mit denen er in Berührung kommt – Menschen, die geschult werden, um mit westlichen Journalisten wie ihm zu sprechen. In den zahlreichen neuen Touristenorten, beim ­Bowling, im Zoo, auf einem Eisfeld, waren nun aber Menschen zu beobachten, die ihr Leben geniessen wollen. So wie wir auch.

Was Kühni uns von seiner Reise mitbringt, ist eine Anhäufung von Erzählungen und Bildern, die nicht den Anspruch erheben, Nordkorea in seiner Gänze zu beschreiben. So ist dieser Essay eine Sicht auf einen beschränkten Mikrokosmos der orchestrierten, staatlichen Führungen, auf nur eine Version Nordkoreas: und zwar auf die freigegebene.

Kühni sah, was er sehen sollte. Fotografien durfte er nur wenige über die Grenze bringen, von vielen Erlebnissen kann er nur erzählen. Und alles weitere? Bleibt verborgen, hinter den Fassaden.

Sehen Sie hier seine Bilder:

Heimreise I

Ich mag lange Zugreisen nicht, doch die erste Etappe meiner Ausreise aus Nordkorea ist genau das: eine 24stündige Fahrt von Pjöngjang nach Peking. Es ist kurz nach Neujahr und ich sitze in einem Viererschlafabteil und schaue mich um nach einem geeigneten Versteck für die 128-GB-Micro-SD-Speicherkarte, die eine Kopie aller Fotografien meiner Reise enthält.

Ein metallisches Geräusch unterbricht mich dabei und ich mache mich auf, seinen Ursprung zu ­untersuchen. Neugierig schreite ich den leeren Waggongang entlang und sehe, dass die Türe mit dem Bullauge zum Wasch- und Toilettenvorraum zugezogen ist. Durch ein kleines Fenster erkenne ich das dreiköpfige nordkoreanische Schaffnerteam, das gerade dabei ist, ein Stück der Deckenverkleidung loszuschrauben. Die offensichtlich geübten Handgriffe bringen im Handumdrehen einen Stauraum zwischen der Raumdecke und der äusseren Waggonhülle zum Vorschein: schnell werden drei grosse Reisekoffer in das dunkle rechteckige Loch gehievt. Erst als sie sich daran machen, den Originalzustand des Waggons wieder herzustellen, werde ich von einem der drei Männer entdeckt. Grimmig und mit zusammengekniffenen Augen blickt er mich an, mit gestrecktem Zeigefinger deutet er zuerst auf mich und wandert dann anschliessend zu seinem Mund in einer unmissverständlichen Geste der Verschwiegenheit. Bevor ich etwas erwidern kann, hat er sich bereits umgedreht, um mir mit der Schulter die Sicht zu versperren. Während draussen die kalt-karge Landschaft Nord­koreas vorbeizieht, kehre ich in mein Abteil zurück. Ich muss ein geeignetes Versteck für meine eigene Schmuggelware finden…

Respekt

Wir stehen beim Grossmonument «Mansudae» und warten – wie bei einem militärischen Antrittsverlesen in Kolonne stehend –, bis wir an der Reihe sind, um uns vor den 20 Meter hohen Bronzefiguren von Kim Il Sung und Kim Jong Il zu verbeugen. Sich vor Statuen der verstorbenen «geliebten Führer» zu verbeugen ist Brauch in Nordkorea, ein Zeichen des Grusses und der Anerkennung und wird auch von ausländischen Touristen verlangt. Ich geselle mich zu einer Gruppe junger Touristen aus Russland und Finnland. In ihrer Mitte steht der Touristenführer Mr. Back. Er ist Mitte fünfzig und für das nordkoreanische Tourismusministerium tätig. Vor seiner Karriere im Tourismus war er bei der Armee. «Meine Aufgabe war es, amerikanische Gefangene zu verhören, deswegen spreche ich so gut Englisch», erzählt er der Zuhörerschaft stolz. «Aber genug von der ­Armee! Ihr seid eine nette Reisegruppe, ich würde euch ja sofort meiner Frau vorstellen…» – es folgt eine Kunstpause, in welcher er jeden der Zuhörer kurz ernst anblickt –, «…aber sie ist schlichtweg zu hässlich, um sie euch vorzustellen!» Mr. Back verzieht sein Gesicht zu einer Grimasse, um seine Frau zu imitieren. Sein Publikum bricht in lautes Gelächter aus. Ich wende mich Frau Solgun zu, die etwas abseits des Geschehens steht. Sie lächelt mich kurz an, verdreht dann die Augen und meint nur: «Er spielt gerade seine Greatest Hits.» Frau Solgun ist ein weiteres Mitglied des dreiköpfigen Führerteams an diesem Tag. Sie ist Anfang zwanzig und hat gerade erst ihre Ausbildung zur staatlichen Tourismusführerin absolviert. Im Gespräch erklärt sie mir, dass von der Familie arrangierte Ehen in ihrem Land die Norm seien. Für sie wurde bereits ein potentieller Ehemann ausgesucht, mit dem sie sich zurzeit zweimal in der Woche in einem Restaurant zum Kennenlernen trifft. «Wenn wir uns entscheiden zu heiraten, teilt uns der Staat eine eigene Wohnung zu.» Mittlerweile stehen wir an der Spitze der Kolonne, direkt vor den Bronzefiguren. Mr. Back gibt das Kommando: «Jetzt zeigen wir Respekt!»

Geliebte Führer

Den Silvesterabend mit traditionellem koreanischem Grill verbringe ich mit der europäisch gemixten Gruppe und dem dreiköpfigen nordkoreanischen Reiseführerteam. Einer der Reiseführer ist Mr. Oh: gebildet, zuvorkommend, perfekt Französisch und Englisch sprechend. Er scheut auch einen kritischen politischen Diskurs nicht, sondern ist ­interessiert am politischen System der Schweiz und erzählt geduldig vom Leben in Nordkorea. Ein Fernseher an der Wand zeigt die mittlerweile vierte ­Wiederholung einer Rede von Kim Jong Un. Ich frage Mr. Oh, ob er einen Krieg mit den USA fürchte. «Wir haben nichts gegen Amerikaner, nur gegen ihre Politik», antwortet er mir diplomatisch. Nach dem Essen erhebt sich Mr. Oh mit einem Glas hochprozentigem Reisschnaps zu einer Tischrede. Im Toast erwähnt er auch die Schweiz und wünscht ­ihren «sieben geliebten Führern» alles Gute für das anbrechende 2018.

Hinter Gittern

Der «Korea Central Zoo» in Pjöngjang wurde 1959 auf Anweisung von Kim Il Sung gegründet und beherbergt über 500 Tierarten und ein paläontologisches Museum. Während mehreren Jahrzehnten durften nur einheimische Tiere gezeigt werden, das Zeigen nichtheimischer Tiere galt als kapitalistisch. Für einmal erhalte ich im weitläufigen Zoo überdurchschnittlich viel Auslauf; es reicht hier, in Sichtweite unserer Reiseführer zu sein. Trotz einem rauchenden Schimpansen und einem Hund, der ­einen Rechenschieber bedienen kann, interessieren sich die Handvoll westlicher Touristen mehr für die Nordkoreaner vor den Gittern als für die internationalen Tiere dahinter.

Im Museum

Im Museum des siegreichen Krieges in Pjöngjang darf man nicht fotografieren, dafür sorgen eine Heerschar uniformierter Aufpasserinnen. Das 2014 neu eröffnete Museum ist vollumfänglich dem Korea­krieg (1950 –1953) gewidmet und erzählt die nord­koreanische Version der Ereignisse, die zusammengefasst etwa so lautet: Die USA wollten Asien erobern, worauf die nordkoreanische Armee die ­Angreifer vernichtend besiegte – ein siegreicher Krieg eben. Ein Foto in der Ausstellung zeigt die Waffenstillstandsverhandlungen. Ich frage unsere Museumsführerin, warum auf dem Foto eine UN-Flagge zu sehen sei, wenn doch die USA Asien erobern wollten. Die Antwort kommt ohne Zögern: «Die Amerikaner waren so beschämt über ihre Niederlage, dass sie bewusst nicht ihre eigene Flagge zur Kapitulation mitbrachten.»

Wir werden in einen weiteren Raum gelotst. Er stellt ein gigantisches Diorama zur Schau, das das Ergebnis einer Schlacht zeigt und mit «Die besiegten US-Imperialisten» betitelt ist. Dutzende aufwendig aus Wachs hergestellte und uniformierte tote US-Soldaten, teils mit offenen Bauchwunden, teils mit abgetrennten Gliedmassen, liegen verstreut auf dem von Feuer verkohlten Boden. Nicht minder realistisch wirkende, mechanisch betriebene Raben picken mit ihren Schnäbeln an den gefallenen Soldaten. Das Museum des siegreichen Krieges widerspricht wohl inhaltlich dem Wissen der meisten Historiker; die Roboterraben, welche so lange auf grausam entstellten Wachssoldaten herumpicken, bis eine uniformierte Soldatin am Abend den Strom ausschaltet, finde ich im Gegenzug eine ganz passende Metapher für den Krieg.

Stadt…

Pjöngjang ist in vieler Hinsicht eine faszinierende Stadt. Einige Quartiere bestehen aus tristen Plattenbauten, andere erwecken den Eindruck, als wären sie von einem kommunistischen Walt Disney entworfen worden. Doch egal, wo man sich in der Stadt befindet, ein Gebäude ist immer sichtbar: das gigantische pyramidenförmige Ryugyŏng-Hotel, das sich seit 1987 im Bau befindet und bis heute noch keinen einzigen Gast empfangen konnte. Als die Bauarbeiten – noch unter Staatsführer Kim Il Sung – begannen, war die Eröffnung für zwei Jahre später geplant. Das Gebäude hätte damals mit 330 Metern das höchste Hotel der Welt werden sollen. Doch Kon­struktions- und Materialprobleme sowie der Fall der Sowjetunion haben 1992 zu einem Baustopp geführt. Das fertige Stahlbetongerüst mit 105 Stockwerken und 3000 Zimmern blieb anschliessend bis 2008 unberührt. Die unübersehbare Bauruine fehlte auf offiziellen Stadtkarten und Besuchern war es verboten, in Richtung des Rohbaus zu fotografieren. Als Nordkorea ein 400-Millionen-Dollar-Mobilfunk-Geschäft mit der Orascom Group abschloss, kam wieder Bewegung in die Baustelle, denn der ägyptische Megakonzern hatte eine «Verschönerung» des Gebäudes als Teil des Deals vereinbart. Ein paar Jahre später jedoch zerbrach die Geschäftsbeziehung: Als die Orascom die erzielten Gewinne im Mobilfunkmarkt in Höhe von Hunderten von Millionen Dollar aus dem Land transferieren wollte, wurde die Transaktion von den nordkoreanischen Behörden blockiert. Stattdessen wurde vorgeschrieben, das Geld in Nordkorea zu investieren. So kommt es, dass das Ryugyŏng-Hotel auch 2018, 31 Jahre nach Baubeginn, immer noch nicht fertig ist. Zum Vergleich: Die geschätzte Bauzeit der Cheops-Pyramide liegt bei 20 Jahren.

…und Land

Wir machen einen eintägigen Ausflug von Pjöngjang in das rund 150 km nördlich gelegene Myohyang-­Gebirge zum Museum für Völkerfreundschaft. Das Museum ist eine gigantische Sammlung von Geschenken an die Kim-Dynastie, und zu meiner Enttäuschung werden alle Kameras und Mobiltelefone am Eingang eingesammelt, denn das Fotografieren ist hier strikt verboten. Die Exponate reichen von einem ausgestopften Bärenkopf von Nicolae Ceaușescu über ein Schachbrett von Gaddafi bis hin zu einem signierten Basketball von Michael Jordan. Doch die Fahrt über die leeren, teils vierspurigen Autobahnen durch die kargen verschneiten Landschaften interessiert mich mehr. Ab und zu schieben Bauern am Strassenrand einen Ochsenkarren mit Feuerholz. Der Kontrast zum farbigen Pjöngjang ist so stark, als sei ich unbemerkt über eine unsichtbare Grenze in ein anderes Land gefahren. Die ländliche Bevölkerung lebt und arbeitet in Kolchosen, trägt uniforme Kleidung und scheint keine Verwendung für einen Krokodillederkoffer von Fidel Castro zu haben.

Italy Pizza

In Nordkorea ist Anfang Januar Ferienzeit. Eines Abends, kurz nach zehn Uhr, besuchen wir einen Vergnügungspark. Es ist dunkel und die Temperatur beträgt minus zehn Grad Celsius. Entgegen meinen Erwartungen sind die Bahnen voll mit dick eingepackten, lachenden Nordkoreanern. Die Fröhlichkeit der Besucher ist ansteckend und der Park scheint eine willkommene Abwechslung zu einem orchestrierten Alltag zu sein. Ich frage unseren Touristenführer nach Informationen zum Vergnügungspark, der «Kaesong-Jugend-Park» heisst. Ich erfahre, dass Kim Jong Il den Park 2010 besucht hat und Kim Jong Un 2012. Denn in Nordkorea besteht die Geschichte eines Ortes oder Gebäudes nicht aus Bauzeit, Architekt, Baustil usw., sondern aus der Dokumentation, wann welcher «dear Leader» vor Ort gewesen ist.

Nach dem Park gehen wir in Pjöngjangs einzige Pizzeria, die «Italy Pizza» heisst und noch nie von ­einem «geliebten Führer» besucht wurde. Nicht alles scheint in Nordkorea anders zu sein als im Rest der Welt. Denn der an der Wand angebrachte Preis in der nordkoreanischen Währung Won beträgt umgerechnet ca. 1 Franken für eine Pizza, für uns Touristen kostet sie aber 9 Franken. Das «Italy Pizza» ist voll und das Team aus ausschliesslich jungen weiblichen Pizzabäckerinnen schiebt hastig Pizzas in den Elektro­ofen. In den Backwartezeiten huschen die Pizzabäckerinnen auf eine kleine Bühne und singen Karaoke.

Am nächsten Morgen besuchen wir eine Schlittschuhhalle, vor der sich bereits eine Besucherschlange gebildet hat. Der Anlage scheint eine Eismaschine zu fehlen, denn das Eis ist komplett zu Schnee zerpflügt. Die Gäste scheint das wenig zu stören, es wird gelacht, gefahren, hingefallen und wieder aufgestanden. Wir verlassen die Eishalle durch einen Hinterausgang, da sich mittlerweile vor dem Eingang zu viele Besucher eingefunden haben, die auf Einlass warten. In einem Korridor hängt eine in Gold gerahmte Fotografie, die Kim Jong Un mit einer Gruppe Kinder auf dem Eisfeld zeigt. Kim trägt als einziger keine Schlittschuhe. Die gravierte Bildunterschrift lautet: «Der grösste Kommandant Herr Kim Jong Un gibt Instruktionen vor Ort – 3. Dezember 2012.»

Krieg und Frieden

Seit Ende des Koreakrieges 1953 existiert zwischen Norden und Süden ein Waffenstillstandsabkommen. Dieses Abkommen war ursprünglich nur als Provisorium gedacht, doch seit 65 Jahren stagniert die Situation. Offiziell befinden sich die beiden ­Koreas also noch im Kriegszustand, was zu der meistbewachten Grenze der Welt geführt hat: der 248 Kilometer langen und vier Kilometer breiten ­demilitarisierten Zone. An einem Punkt auf der Grenze liegt Panmunjeom, die «gemeinsame Sicherheitszone», in der sich eine Reihe blauer Baracken befindet. Die Baracken liegen genau auf der Grenze, die in der Mitte über den Verhandlungstisch läuft. So können Delegationen zusammensitzen, ohne die Grenze zu übertreten. Panmunjeom ist mittlerweile auf der Nord- wie auch auf der Südseite eine Touristenattraktion. Von Südkorea aus besuchen pro Jahr rund 100 000 Touristen den Ort und von Norden aus rund 3000. Ausgangspunkt unserer Reise nach Panmunjeom ist der Bahnhofsplatz in Pjöngjang. Dort steht eine Gruppe Nordkoreaner, die eine in Endlosschleife laufende Aufzeichnung von Trägerraketentests auf einem übergrossen Bildschirm bestaunt. Einige Kilometer vor der demilitarisierten Zone hält unser Reisebus kurz in der Stadt Kaesŏng. Ein kunstvoll von Hand gemaltes Propagandaplakat verkündet: «Mit dem grossen Kommandanten Kamerad Kim Jong Un verteidigen wir die Partei bis zum Tode.» Als wir endlich an der Kriegsfront ankommen, scheint der Himmel leichenblass durch das dunstige Wetter. Ein Armeeoffizier führt uns in die Baracke mit dem Verhandlungstisch, die Tür nach Südkorea wird von zwei stoischen nordkoreanischen Soldaten bewacht. Wir erfahren, wie die übermächtigen nordkoreanischen Streitkräfte jederzeit den «Süden» und seine imperialistischen Verbündeten besiegen könnten. Von einer Aussichtsplattform erhalten wir eine gute Sicht auf das Feindesland und eine junge Touristin bittet den nordkoreanischen Offizier um ein «Selfie».

Sterne am Bus

Der Chollima 9.25 Nr. 903 ist ein 1964 von den Oberleitungsbuswerken Pjöngjang erbauter Oberleitungsbus und heute machen wir darin eine Stadtrundfahrt. Der mit Gas betriebene Bus ist der letzte seiner Bauart und benannt nach einem geflügelten Pferd aus der koreanischen Mythologie. Das Metronetz in Pjöngjang ist mit zwei Linien und 16 Stationen eher bescheiden und so bewältigen Busse einen Grossteil des öffentlichen Personenverkehrs. Ausländischen Besuchern ist es nicht gestattet, alle Quartiere der Hauptstadt zu sehen, das nordkoreanische Tourismusbüro muss die Strassen für Touristen freigeben. Und so fahren wir oft lange Umwege, um von Sehenswürdigkeit zu Sehenswürdigkeit zu gelangen, immer nur durch moderne und renovierte Strassen. Nach der Rundfahrt dürfen wir noch Fotos vor dem Bus machen, welcher an beiden Seiten mit roten Sternen bemalt ist. In der Mitte jedes Sterns steht die Zahl 5 und ein koreanisches Schriftzeichen. Ich frage Mr. Oh nach ihrer Bedeutung. Jeder Stern stehe für 50 000 km Fahrt ohne Zwischenfall. Der Bus habe insgesamt 136 aufgemalte Sterne. Mit Hilfe meines iPhone-Taschenrechners finde ich heraus, dass der Chollima 9.25 Nr. 903 somit 6,8 Millionen Kilometer zurückgelegt hat. Ich rechne weiter und komme auf knapp 170 Erdumrundungen am Äquator. Mit diesem Fakt konfrontiert, lacht Mr. Oh, nickt meinen Berechnungen bejahend zu und meint: «Ein Wunder nordkoreanischer Ingenieurskunst.» Zum Vergleich: über Chollima, das mystische geflügelte Pferd, ist überliefert, dass es eintausend 4-km-Sprünge gemacht hat: das sind 4000 km.

Heimreise II

Meine Schmuggelware ist gut versteckt und aus dem Zugfenster sehe ich in der Ferne den Grenzfluss Yalu, der zwischen Nordkorea und China verläuft. Dahinter, einfach auszumachen, erstreckt sich die chinesische Millionenmetropole Dandong. Der Kontrast zwischen den beiden Staaten könnte grösser nicht sein und ist auch aus weiter Distanz deutlich sichtbar: die simplen nordkoreanischen Bauten auf der einen und die chinesische LED-Glitzerwelt auf der anderen Uferseite.

Vor der Ausreise aus Nordkorea werden an der Zollgrenze alle Fotografien von Touristen gesichtet und gegebenenfalls gelöscht. Das ist ein mühseliger Prozess, den die Beamten nur dank der geringen Touristenzahl bewältigen können. Da ich auf Reportagen immer mit Kameras fotografiere, in denen man zwei Speicherkarten einsetzen kann, habe ich die entstandenen Bilder immer doppelt gesichert. Bei der Ausreise entferne und verstecke ich dann eine der Speicherkarten. Ich mache das nicht, weil ich etwas zu verbergen habe, sondern weil es mich interessiert, welche der Bilder gelöscht werden. Zu Hause kann ich die Speicherkarten dann miteinander vergleichen und sehe, welche Bilder es ohne meine List nicht über die Grenze geschafft hätten. So habe ich bei meinen letzten beiden Nordkoreareisen einen guten Eindruck davon erhalten, welche Bilder die Behörden als nicht zulässig betrachten. Gelöscht wurden vor allem Fotografien, auf denen Menschen zu sehen waren, die zum Beispiel schmutzige Kleider trugen, gebrechlich wirkten oder generell einen ärmlichen Eindruck machten. Das bestätigt auch meinen persönlichen Eindruck. Die nordkoreanische Führung ist darauf versessen, nach aussen möglichst ein Idealbild zu vermitteln.

An der Zollstelle betritt ein nordkoreanischer Zollbeamter in grüner Uniform und überdimensionierter Schirmmütze mein Abteil. Er setzt sich breitbeinig hin und beginnt, die Bilder meiner bereitgelegten Kameras durchzusehen. Hier und da löscht er eines und als er fertig ist, möchte er auch noch mein Mobiltelefon sehen. Dort überfliegt er die in Nordkorea gemachten Fotos, um sich die bunte Mischung aus privaten Bildern meines Lebens in der Schweiz anzuschauen. Bei einem Schnappschuss von der Korn­hausbrücke auf die Berner Altstadt bleibt er hängen und meint: «Ooooooh beautiful! Germany?» Ich antworte mit «No, Switzerland» und erhalte ein zustimmendes «Aaaaah» als Antwort. Das anschliessende Durchsuchen meines Koffers erscheint mir eher eine Formsache zu sein. In Dandong müssen alle Passagiere aussteigen, die nach China einreisen, um eine Gepäcks- und Sicherheitskontrolle zu passieren, wie sie an Flughäfen vorgenommen wird. Währenddessen wird der Waggon durchsucht und an ­einen chinesischen Zug gekoppelt. Die versteckten Koffer finden die chinesischen Zollbeamten nicht. Kurz nach Verlassen des Bahnhofs entfernen die nordkoreanischen Schaffner bereits wieder die Deckenverkleidung im Waschraum und rollen die geschmuggelten Koffer durch den Zug zurück ins Personalquartier. Über den Inhalt der Koffer kann ich nur mutmassen: Bargeld, das auf chinesischen Banken deponiert wird? In Nordkorea hergestelltes Metamphetamin? Die Verbindungstür zwischen dem nordkoreanischen und den chinesischen Zugwagen ist abgeschlossen. Der Gedanke, dass ich mich – in China angekommen – freier fühle, amüsiert mich, während ich in einem isolierten Zugwaggon aus einem abgeschotteten Land durch die Nacht fahre.

Hier sehen Sie alle Fotos nochmals hochaufgelöst in unserer Bildergalerie:

 

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