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(9) Lesenlernen zwischen 1700 und 1900

Soll jede erwachsene Person lesen und schreiben können? Erst als ein Ja auf diese Frage im Verlauf des 18. Jahrhunderts selbstverständlich geworden war,
kam die Phase der didaktischen Überlegungen, wie das Lesen am besten zu lehren sei.

Die Alphabetisierung der Schweiz zwischen 1700 und 1900 ist eine Erfolgsgeschichte. Während zu Beginn des 18. Jahrhunderts nur eine Minderheit – zwischen 15 und 30 Prozent – lesen konnte und eine noch kleinere Minderheit schreiben – zwischen 5 und 15 Prozent, mit zum Teil beträchtlichen Unterschieden zwischen Männern und Frauen –, sah es 200 Jahre später völlig anders aus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde die Gruppe derjenigen, die lesen und schreiben konnten, zur Mehrheit; für die Zeit um 1900 kann davon ausgegangen werden, dass sich der Anteil der Analphabeten unter einem Prozent bewegte. Die Fakten sind unbestritten, die Frage jedoch, wem das Verdienst zusteht, bleibt offen. Didaktische und methodische Veränderungen, die zum Teil schon vor 1800 einsetzten, wie die Einführung des Simultanunterrichts anstelle des Individualunterrichts, des Syllabierens statt des Buchstabierens und des Schreib-Lese-Unterrichts ab 1830 gehörten zu den wichtigen Faktoren. Von überragender Bedeutung war jedoch seit 1760 die Durchsetzung der literalen Norm. Durch sie wurde Lesen- und Schreibenkönnen zu einem öffentlich verhandelten Politikum, das langfristig die Einstellung breiter Schichten zu verändern vermochte. Der Diskurs zielte darauf, einen gesellschaftlichen Konsens über die Notwendigkeit herzustellen, dass jede erwachsene Person – ob Frau oder Mann – lesen und schreiben können sollte.

Die Adressaten, an die sich die literale Norm richtete, reichten von ungebildeten, knapp alphabetisierten erwachsenen Lesern und Schulkindern bis zu halbgebildeten Leserinnen aus der Oberschicht oder gelehrten Mediatoren wie Schullehrern, Pfarrern und Beamten. Während die erste Gruppe motiviert werden sollte, Lesen und Schreiben als sinnvolle und notwendige Aktivitäten zu begreifen, wollte man der zweiten Argumente und Beispielgeschichten für das Gespräch, den Unterricht in der Schule oder die Belehrung von der Kanzel an die Hand geben.

In einer ersten Phase wurde eine emotionale Unterscheidung zwischen alphabetisierten Personen einerseits und Analphabeten anderseits etabliert. Lesen- und Schreibenkönnen wurde mit vernünftigem, moralisch korrekten Handeln gleichgesetzt und die Anstrengungen, diesen Status zu erreichen, wurden emotional honoriert. Analphabetismus wurde hingegen mit Dummheit, Leichtgläubigkeit und Unzivilisiertheit gleichgesetzt. Diejenigen, die nicht lesen und schreiben konnten, wurden der Lächerlichkeit preisgegeben.

So handelt etwa die erste Geschichte im «Schweizerischen Kinderfreund», eines seit 1808 allgemein bekannten Schullesebuches, davon, wie ein Knecht in Halberstadt seine Medizin, statt sie auf die Wade zu legen, schluckt und darauf stirbt — nur weil er und die Seinen die schriftliche Anweisung des Arztes nicht lesen konnten. Über «dumme Analphabeten» durfte auch gelacht werden. Der «Republikanische Kalender» brachte im Jahr 1854 etwa den Schwank, worin ein «Berner Bräutigam» von seiner Liebsten im Sumiswald einen Liebesbrief erhält. Da er nicht lesen kann, lässt er sich den Brief durch einen Freund vorlesen, hält diesem aus Sicherheit jedoch die Ohren zu, damit er nichts vom Inhalt mitbekomme.

In einer zweiten Phase wurde den Lesern die Einsicht in den arbiträren Charakter der Sprachkodes bzw. der Schrift und in den subjektiven Anteil des Lesenden beim Verstehen und Deuten des Gelesenen zugemutet. Die damals vorherrschende Vorstellung von Literatur als «Information» wurde schrittweise überwunden, indem die Lesenden über die Blossstellung des naiven Lesers, der alles, was er liest, für bare Münze nimmt, allmählich zur fiktionalen Literatur hingeführt wurden. Sie sollten lernen, die naive Alternative «Wahrheit oder Lüge» einem Text gegenüber zu verwerfen und darauf zu verzichten, dass Lesen einen unmittelbaren handlungspraktischen Nutzen besitze. Dieser Schritt setzte unter anderem einfache Kenntnisse der medialen Situation voraus, etwa das Wissen, dass jeder Text einen Verfasser hat.

Schliesslich wurde gegenüber früheren Positionen, die das Lesen an sich als sinnvoll propagierten, eine differenzierte Haltung eingenommen, die bestimmte Lesestoffgruppen generell oder entsprechend dem Geltungsbereich (Religion, Beruf) und dem sozialen Stand, Alter und Geschlecht der Konsumenten als ungeeignet oder gefährlich taxierten. Diesem Kanon lagen Vorstellungen über die bestimmten Textsorten (wie Romanen, Novellen, Theaterstücken, populären Lesestoffen oder «Volksbüchern») zugeschriebene Wirkungsmacht zugrunde. Besonders bei jungen Frauen aus bürgerlichen Schichten wurde die Gefahr einer durch intensive Lektüre geförderten Gelehrtheit heraufbeschworen. Ihre Bildung hatte sich in der Öffentlichkeit und in der Unterhaltung mit dem Ehegatten, als Status- und Identitätsarbeit, zu bewähren, während Gelehrtheit als mit der weiblichen Rolle nicht vereinbar galt.

Der Auswahl geeigneten Lesestoffes wurde daher grosses Gewicht beigemessen. Die Sorge, sie den Lesenden, besonders den Jugendlichen, selber überlassen zu müssen, findet sich durch das ganze 19. Jahrhundert. Öffentliche Jugend- und Volksbibliotheken galten als taugliches Selektions- und Steuerungsinstrument. Gefordert wurde von den Kindern und Erwachsenen eine distanzierte, reflektierte Lektüre, die der Suggestion des Textes zu widerstehen vermöchte. Es sollte langsam gelesen werden, und jedes Buch, das man zu lesen anfing, sollte «ausgelesen» werden. Weiter hatte man Lektüreeindrücke, Lesefrüchte und Erzählgerüst schriftlich festzuhalten.

In einer dritten Phase wurden endlich konkrete Vorschläge für die Nutzung der Schrift, wie das Führen von Wirtschaftsbuch, Haushaltungsbuch oder Tagebuch, und das Schreiben von Briefen vorgestellt. Für die Buchführung sprach die juristische Bedeutung; darüber hinaus ordnete sie die ökonomischen Aktivitäten und bot eine Übersicht über Einnahmen und Ausgaben, wodurch es möglich wurde, gezielt zu sparen. Beim Tagebuchführen präsentierte sich die Situation insofern anders, als eine Notwendigkeit weniger ins Auge sprang, sondern sogar öfters bestritten wurde. Während es einerseits die religiöse Vervollkommnung befördern sollte, indem es erlaubte, die Bilanz zwischen moralischem Soll und faktischem Haben zu ziehen, sollte es anderseits die Gefahr einer «krankhaften» Selbstbezogenheit in sich bergen. Bei Kindern und vor allem weiblichen Jugendlichen nahmen sich die Eltern so auch das Recht, die Tagebücher ihrer Kinder regelmässig auf Inhalt und Rechtschreibung zu kontrollieren.

Von den Neuerungen, die sowohl von reformierten als auch katholischen Pädagogen rezipiert und in den Alltagsschulen schon vor 1800 schrittweise eingeführt wurden, waren der Simultanunterricht und die Klasseneinteilung nach Lernniveau, und nicht nach Alter, am folgenschwersten. In den Grundschulen war bis um 1800 die Praxis des individuellen lauten Lesens vorherrschend. Der Lehrer teilte die individuellen Lektionen zu und kontrollierte das Auswendiggelernte; der einzelne Schüler las die ihm aufgegebene Lektion während Stunden laut für sich, um sich dann anschliessend für wenige Minuten vom Lehrer abhören zu lassen. Dieses gleichzeitige Lesen unterschiedlicher Lektionen wurde von den aufgeklärten Kritikern des Individualunterrichts um 1800 als «Gesummse» und «Geplärr» beschrieben, das man vernehme, sobald man sich einer Grundschule nähere.

Der neue Zusammenunterricht erforderte und schuf neue Unterrichtsmedien wie identische Klassensätze von Lesebüchern, Wandtafeln und Tabellen. Und er veränderte die Einrichtung der Schulstube. Die direkte Sicht jedes Schülers «nach vorn» zum Lehrer, zur Wandtafel oder auf die Tabelle musste durch eine einheitliche Ausrichtung der Schultische oder -bänke gewährleistet sein. Anstelle individuell zugeteilter Lernportionen traten Lernziele, die von einem Kollektiv, der Klasse, in einer vorgegebenen Zeitspanne erreicht werden sollten. Diese Unterrichtsform erforderte die ganze Aufmerksamkeit des Lehrers. Der Simultanunterricht brachte einen gewaltigen Zeitgewinn, eine Vervielfachung der kommunikativen Lernprozesse und Kontakte zwischen Schüler und Lehrer, und er ermöglichte die Gliederung des Stoffes und dessen Verteilung auf die verschiedenen Jahre. Man versprach sich von diesem Zusammenunterricht und dem stimulierten Konkurrenz-, Ehr- und Schamgefühl und der nicht nachlassenden Aufmerksamkeit seitens der Schüler – und auch des Lehrers – eine gesteigerte Motivation und durchschnittlich bessere schulische Leistungen.

Drei in autobiographischen und literarischen Texten überlieferte Szenen zeigen, wie heterogen sich die Lektürepraktiken zwischen 1750 und 1820 präsentierten. Heinrich Bosshard, Sohn eines Tagelöhners von Rümikon bei Winterthur, beschreibt in seiner Autobiographie (1804), wie er in den späten fünfziger Jahren des 18. Jahrhunderts, ohne in die Schule zu gehen, lesen lernte, indem sein Vater «an den Sonntagen sehr viel, und überlaut in der Bibel las». Bosshard suchte dann die Worte selber in der Bibel auf und wiederholte jedesmal das Gehörte, bis er selber lesen konnte. Bald las er, im Verborgenen und leise die Bibel. Bosshard schreibt: «Aber mein Leiselesen lag meinen Eltern gar nicht recht; sie schlugen mich: ‹Ich soll laut lesen›.» Das aber konnte er nicht, denn er wollte «den Nachbarsweibern», die bei einer lauten Lektüre hätten mithorchen können, nicht zum Gelächter werden.

Die zweite Situation ist den Lebenserinnerungen «Sieben Mal sieben Jahre aus meinem Leben» (1853) von Jakob Stutz von Isikon bei Hittnau im Zürcher Oberland entnommen. Jakob Stutz kam, nachdem er seine Eltern verloren und auf einer Mühle gearbeitet hatte, mit achtzehn Jahren für einige Zeit ins Pfarrhaus, um Unterricht in der deutschen Sprache zu erhalten. Er sollte Schulmeister werden. Eines Tages überreichte ihm der Pfarrer ein Geographiebuch der Schweiz und forderte ihn auf, darin zu lesen. Jakob Stutz setzte sich in der Stube ans Fenster und las sehr laut – denn anders zu lesen wusste er nicht, und störte damit sowohl den Pfarrer bei seiner Verrichtung als auch die Frau Pfarrerin. Dem Pfarrer ging endlich die Geduld aus: «Ob man so närrisch thun müsse? Ob ich nicht wisse, dass man auch mit geschlossenem Mund, ohne einen Laut zu hören, die Worte nur in Gedanken lesen könne?»

Die dritte Szene ist dem «Räisonierenden Baurengespräch über das Bücherlesen und den üsserlichen Gottesdienst» entnommen, einem von Ulrich Bräker im Jahr 1777 verfassten Theaterstück, das die Probleme verhandelt, die das Lesen im Toggenburg, einer frühen protoindustriellen Region, mit sich brachte. Darin kritisiert eine Grete das «Büchernaschen» ihres Mannes. Sie hatte ihn «vor dem Mittagessen ob das Hauss, hinter ein Gebüsch» in Beaumonts Kindermagazin lesend angetroffen und Krach geschlagen. Was sie ihrem Manne vorwirft, ist seine Pflichtvergessenheit, die bei den kargen wirtschaftlichen Verhältnissen, wo vorerst die Notdurft befriedigt werden musste, um so schwerer wog. Darüber hinaus deutet sie das stille Lesen ihres Mannes als eine Form verweigerter Kommunikation: «[D]ennk doch, wann du ein Weib wärst; und dein Mann würde dich immer fliehn, […] oder mit einem Buch dahoken, kein Wort sagen, kein Mund regen, kein Aug bewegen, als wann du ein stummer Hund wärest: würd dir dein Leben nicht saur, und ewig langweilig seyn?»

Die drei Situationen sind aufschlussreich, weil hier jeweils eine Lektürepraktik eine Auseinandersetzung nach sich zieht. Die Eltern Heinrich Bosshards, wie auch Jakob Stutz und Grete sind im Lesen wenig geübte Personen, die das stumme oder leise Lesen anderer mit Beunruhigung und Abneigung vermerken. Für sie ist Lesen eine dreifaltige Einheit, die sich aus Sehen und Hören einerseits und Verstehen anderseits zusammensetzt. Ihnen war das laute Lesen, bei dem sie die Klanggestalt eines Wortes oder eines Satzes hörend erfuhren, unverzichtbare Verstehenshilfe.

Wenn Grete das stumme Lesen ihres Mannes als Kommunikationsverweigerung bezeichnet, so muss man ihr beipflichten. Zugleich hat man das stille Lesen ihres Mannes als den Anfang eines Individualisierungsprozesses zu würdigen. Dass er sich wie ein Kind hinter einem Busch verstecken muss, zeigt, wie prekär die Voraussetzungen für einen solchen Prozess im ländlichen Toggenburg waren. Auch das Schamgefühl, das Heinrich Bosshard beim Lautlesen empfand, weist in dieselbe Richtung einer zunehmenden Individualisierung.

Die in der Struktur der extensiven Lektüre angelegte Absonderung und Vereinzelung der Lesenden und der raschere Umlauf der Lesestoffe führte zu divergierenden Leseerfahrungen und zum Ende eines in der Wiederholungslektüre immer gleicher Texte gesicherten, für die Angehörigen des «ganzen Hauses» identischen und verbindlichen Orientierungshorizontes. Die Lesenden erschlossen sich mit ihrer Lektüre Bereiche, die die engen, durch soziale Unterdrückung, räumliche und seelische Begrenztheit gekennzeichnete Wirklichkeit sprengten. Dass diese durch den solitären Leser eingeleitete soziale Fragmentierung und Individualisierung, ob nun eingebildet oder real, bei den Zeitgenossen Ängste auszulösen vermochte, darf nicht verwundern.

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