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(8) Sonderfall London

Die Stadtregion London versucht kommunale Demokratie mit den Erfordernissen des Managements einer global vernetzten Metropole zu verbinden. Die gegenwärtige Lösung vermag nicht zu befriedigen.

London nimmt in Grossbritannien gleich mehrfach eine Sonderstellung ein und ist auch als Begriff durchaus vielschichtig: London ist sowohl Hauptstadt des Vereinigten Königreichs von Grossbritannien und Nordirland als auch englische Hauptstadt. Im engsten Sinne schliesslich bezeichnet London dann lediglich den historischen, nur eben 2,6 km2 grossen Kern der Stadt, die City of London, die sich als Verwaltungseinheit sui generis der üblichen britischen Kommunalverwaltungsstruktur weitgehend entzieht.

Üblicherweise wird unter London jedoch ein Gebilde verstanden, das sich neben der City aus den 32 Londoner Stadtbezirken (boroughs) zusammensetzt, von der Greater London Authority (GLA) koordiniert und Greater London genannt wird. Greater London hat dabei mit etwa 7,5 Millionen Einwohnern ziemlich exakt die Einwohnerzahl der Schweiz. Allerdings ist die Schweiz flächenmässig mehr als 26mal so gross wie das Gebiet von Greater London. Doch selbst mit Greater London hört London im Grunde genommen noch nicht auf. Nimmt man die umliegenden, eigenständigen Städte hinzu, die durch ihre wirtschaftlichen Beziehungen, ihre Transportverbindungen und nicht zuletzt durch ihre Pendler aufs engste mit London verbunden sind, so ergibt sich eine südenglische Metropolregion mit – je nach Definition – zwischen 12 und 14 Millionen Einwohnern. Der amerikanische Schriftsteller Henry James ging in einem Bonmot sogar noch weiter: «All England is a suburb of London.» England, wenn nicht das gesamte Vereinigte Königreich, ist in der Tat stark an London orientiert. London ist unangefochten das dominierende wirtschaftliche, politische und kulturelle Zentrum Gross-britanniens.

Im Vergleich mit der Schweiz ergeben sich unter anderen folgende Unterschiede. Zürich umfasst als grösste schweizerische Metropolregion etwa 1,3 Millionen Einwohner, während allein in den sechs innersten Londoner Boroughs (Westminster, Kensington & Chelsea, Hammersmith & Fulham, Wandsworth, Lambeth, Southwark und Tower Hamlets) bereits über 1,4 Millionen Menschen leben. London spielt also schon bezüglich Einwohnerzahl durchaus in einer andern Liga.

Aber auch auf einer anderen Ebene sind die Unterschiede gewaltig, nämlich bei der Anzahl politischer Institutionen. Nimmt man das Gebiet der GLA, so besteht es wie gesagt aus 33 konstitutiven Einheiten (City of London plus 32 Boroughs), die gemeinsam die GLA bilden. Bei der nach Einwohnern quasi gleich grossen Schweiz hingegen haben wir es mit beinahe 2’900 Gemeinden und 26 Kantonen zu tun, die zudem alle im Vergleich mit ihren Londoner Pendants eine viel grössere Autonomie geniessen.

Die Londoner Stadtverwaltung ist als unterste Stufe der britischen Kommunalverfassung bei weitem nicht so autonom wie die Stadtverwaltungen vergleichbarer kontinentaleuropäischer Städte, und sie ist auch für eine viel grössere Zahl von Bürgern zuständig. Während schweizerische Metropolregionen auf einem breiten, komplexen Fundament aus Gemeinden und Kantonen ruhen, sind die Verwaltungsstrukturen des Vereinigten Königreichs – allen voran die Struktur Londons – vor allem Geschöpfe des Zentralstaats. Zurzeit wird Greater London von der GLA koordiniert, die erst 1999 durch ein Gesetz (Greater London Authority Act) geschaffen wurde. Der Greater London Council, der die Stadt von 1965 bis 1986 unter seinem sozialistischen Vorsitzenden Ken Livingstone verwaltet hatte, war von Margaret Thatchers konservativer Regierung wegen politischer Divergenzen aufgelöst worden. Der Vorgänger des Greater London Council war der London County Council, der aber flächenmässig nur Zentrallondon abdeckte und von 1889 bis 1965 existierte.

Was diese Aufzählung der historischen Verwaltungsstrukturen zeigt, ist zum einen der Mangel an kommunaler Kontinuität in der Verwaltung, zum anderen die Tatsache, dass die staatlichen Strukturen Englands im letzten Jahrhundert top-down bestimmt wurden. In diesem Prozess entwickelte sich das Vereinigte Königreich zu einem der höchstzentralisierten Staaten der Welt. Dabei kann England durchaus auf eine lange Geschichte kommunaler Autonomie zurückblicken. Gerade die City of London hatte ihre Autonomie gegenüber den jeweiligen Monarchen stets verteidigt. Dafür beruhte die Monarchie nicht zuletzt auf der politischen und finanziellen Unterstützung der Städte. Anfang des 19. Jahrhunderts wurden die Ausgaben der lokalen politischen Einheiten Englands nahezu vollständig durch lokale Einnahmen gedeckt. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lag die Hälfte der Staatsausgaben noch in der Hand kommunaler Träger. Das Bild im England des frühen 21. Jahrhunderts stellt sich demgegenüber für die Gemeinden deutlich schlechter dar. Auf die kommunalen Einheiten entfällt zwar immer noch ein Anteil etwa eines Viertels der Staatsausgaben, wogegen sie aber direkt nur etwa vier bis fünf Prozent des Steueraufkommens erhalten. Das Resultat ist eine starke finanzielle Abhängigkeit der Gemeinden von der Zentralregierung und mithin ein Mangel an fiskalischen Anreizen für Kommunalpolitiker. Dies betrifft zum Beispiel die Bereitstellung von Siedlungsraum. Wo es kaum lokale Steuern gibt, muss man sich weniger um den Zuzug neuer Einwohner bemühen. Das Ergebnis sind extrem hohe Hauspreise.

Es würde sich lohnen, dem historischen Erfolgsgeheimnis des Wettbewerbs zwischen Stadtautonomie, Adel und Krone nachzuspüren und daraus Folgerungen für eine zeitgemässe Kooperation und Koordination zwischen City, City-State, Nationalstaat und EU abzuleiten. Der jetzige Zustand kann kaum als optimale Lösung taxiert werden.

Auch an einer anderen Zahl lässt sich der Niedergang der lokalen Demokratie ablesen. Im Jahr 1900 gab es in London noch 12’000 gewählte Vertreter, die mit der Verwaltung kommunaler Dienste betraut waren. Am Ende des 20. Jahrhunderts waren es gerade noch 2’000 – dafür gab es umso mehr Bedienstete der Zentralregierung, die an ihre Stelle getreten waren. Muss man sich bei dieser Kombination aus mangelnden Kompetenzen und Bürgerferne darüber wundern, dass bei den letzten Kommunalwahlen mehr als zwei Drittel der Wähler der Urne fernblieben? Kann es wirklich überraschen, dass die dominierenden Themen dieser Wahlen die sexuellen Eskapaden des Vize-Premierministers, die Probleme des Nationalen Gesundheitsdienstes und ein Skandal im Innenministerium waren – also allesamt nationale Angelegenheiten? Es wäre jedoch auch unehrlich gewesen, wenn über Lokalpolitik gesprochen worden wäre; denn der Einfluss der Stadträte ist auf jenen Gebieten gering, die die Bürger am meisten betreffen. Der Chefkolumnist des Daily Telegraph, Danny Kruger, kennzeichnete das Dilemma der britischen Kommunalpolitik mit dem Zitat: «A blind man in a dark room, looking for a black hat that isn’t there – the classic description of metaphysics applies just as well to British local politics.[…] The black hat that isn’t there is power.»

Doch es gibt auch positive Ansätze in der Londoner Kommunalpolitik, und hier ist vor allem die Einrichtung eines Bürgermeisters für Greater London zu nennen. Seit dem Jahr 2000 wird dieses Amt von Ken Livingstone ausgeübt – eben jenem Ken Livingstone, dessen linksgerichtete Politik Margaret Thatcher seinerzeit zur Auflösung des Greater London Council veranlasst hatte. Livingstones politische Ansichten haben sich seit jener Zeit nur marginal geändert, und nicht zuletzt aufgrund seiner Äusserungen etwa zur Nahostpolitik oder über George W. Bush ist er höchst umstritten. Aber allein die Tatsache, dass es nunmehr einen direkt gewählten Bürgermeister gibt, hat der Londoner Politik neuen Schwung, ja neue Legitimität verliehen. Verbunden mit dem anzuerkennenden politischen Mut Livingstones sind daraus eine Reihe bemerkenswerter Projekte und Erfolge hervorgegangen. So wurde gegen den Widerstand vieler Geschäftsleute eine City-Maut eingeführt, die den Verkehr im Stadtzentrum deutlich reduziert hat. Der öffentliche Nahverkehr konnte besonders bei den Bussen deutlich ausgebaut werden – wenngleich dies mit einer massiven Subventionierung einherging. Schliesslich gelang es auch, den Zuschlag für die Ausrichtung der Olympischen Spiele im Jahr 2012 zu erhalten. Inwiefern dies tatsächlich Livingstones Verdienst ist, mag dahingestellt bleiben. Aber eine Stadt ohne politischen Repräsentanten hätte es in ihrer Bewerbung zweifellos schwerer gehabt.

Für Londons Zukunft bleibt allerdings noch eine Menge zu tun, gerade auch im Bereich der öffentlichen Infrastruktur. Zu hoffen ist dabei, dass der mit der Einrichtung der GLA eingeschlagene Weg zu einer langfristigen Stärkung der Kommunalpolitik gegenüber der britischen Zentralregierung führt.

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(3) Weniger Staat, mehr Stadt

Die Idee des «City-State» verbindet in komplexer und vielleicht auch widersprüchlicher Weise das Konzept Stadt mit dem Konzept Staat. Der folgende Beitrag sieht mehr Zukunftschancen bei der Stadt als beim Staat. Konrad Hummlers Vision vom «City-State Schweiz» als Alternative zum EU-Beitritt ist zukunftstauglich, muss aber zu weiteren Überlegungen führen.

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