(8) Ohne «Superdemokratie» kein «Superkapitalismus»
Der Markt hat Weltformat. Die Demokratie noch nicht. Das schafft Probleme für die Demokratie und den Markt. Deshalb brauchen wir transnationale und direktere Bürgergesellschaften.
Beginnen wir mit der guten Nachricht: die Volksrechte, das Recht der Bürger auf eine direkte Mitsprache in politischen Sachfragen, sind weltweit auf dem Vormarsch. Für die Weltbank bildet die politische Beteiligung der Bürger auf der lokalen Ebene einen der wichtigsten Trends überhaupt. Auch auf der nationalen Ebene tut sich was. Zu Beginn dieses Jahres kannten neun von zehn Staaten weltweit zumindest vereinzelte direktdemokratische Verfahren. Zusammen mit einer Stärkung rechtsstaatlicher Systeme und erhöhten Ansprüchen an die Transparenz («Good Governance»), besitzen in einer Welt, in der nationale Grenzen eine immer geringere Rolle spielen, die Volksrechte das Potential, die Bürgerrolle nachhaltig zu stärken – und die Defizite unserer heutigen, meist auf Nationalstaaten und indirekte, parlamentarische Entscheidungsprozesse begrenzten Demokratien zu überwinden.
Dies ist der Anfang einer historischen Entwicklung und nicht etwa das Ende der Geschichte, wie es vom US-amerikanischen Politikwissenschafter Francis Fukuyama zu Beginn der 1990er Jahre voreilig ausgerufen wurde. Von einer Schlussphase der politischen Systementwicklung kann nämlich auch zwei Jahrzehnte nach dem Fall der Berliner Mauer nicht die Rede sein. Da überzeugt die Analyse des wie Fukuyama lange an der Harvard-Universität lehrenden Juristen Robert Reich schon mehr. In seinem zu Beginn dieses Jahres auch auf deutsch erschienen Buch «Der Superkapitalismus» beschreibt der frühere amerikanische Arbeitsminister, wie trotz der erfreulichen Modernisierung unserer repräsentativen Demokratien der Einfluss der Bürgergesellschaften in den letzten Jahrzehnten zurückgedrängt worden ist. Die auf lokaler und nationaler Ebene erkämpften Spielregeln zugunsten des Gemeinwohls sind in den Schatten des globalen Weltmarktes gerückt. Als «Superkapitalismus» bezeichnet Reich die zu Beginn des 21. Jahrhunderts feststellbare Dynamik, die die Unternehmer und als Konsequenz auch Verbraucher und Anleger über alle Grenzen hinaus gestärkt hat. Die Antwort auf den «Superkapitalismus», so soll im Folgenden aufgezeigt werden, heisst «Superdemokratismus».
Doch zunächst zurück zu unserer kritischen Bestandesaufnahme zum aktuellen Ungleichgewicht zwischen Kapitalismus und Demokratie. Die jüngste Bankenkrise, ausgelöst durch den Verfall des Immobiliengeschäftes in den USA, hat es deutlich gemacht: während der Markt-Zug die Station «Globus Hbf» längst erreicht hat, tut sich der Demokratie-Zug immer noch ungeheuer schwer, die Reise von den Zentralbahnhöfen der Nationalstaaten in die Schaltstellen transnationaler, regionaler Gemeinschaften hinter sich zu bringen. Das Ringen um verfassungsähnliche Verträge in Europa («Lissaboner Vertrag» der EU) oder Asien (ASEAN-Charta) sprechen eine deutliche Sprache. In anderen Teilen der Welt, wie Nordamerika (NAFTA), Südamerika (OAU) oder Afrika (AU), beschränken sich die Koordinationsanstrengungen auf Freihandelsverträge. So bleibt auf der globalen Ebene die demokratisch-politische Dynamik noch sehr weit hinter der marktwirtschaftlich-kapitalistischen zurück. Das freut zunächst einmal Verbraucher und Anleger, die sich weltweit – so Reich – «die besten Schnäppchen aussuchen» können, ohne dabei Rücksicht auf gemeinsame Spieregeln nehmen zu müssen oder als Bürger in die Verantwortung genommen zu werden. Gleichzeitig spüren wir immer deutlicher eine ungeheuere Kluft: als Konsumenten können wir heute für wenige Franken oder Euro innerhalb von Sekunden auf dem Internet einen Flug ans Schwarze Meer buchen oder ein elektronisches Wunderding aus einer Fabrik vom anderen Ende der Welt bestellen; als Bürgerinnen und Bürgern fällt es uns gleichzeitig immer schwerer, den Zusammenhang unseres Handelns und Wählens mit den tatsächlich gefällten Beschlüssen zu erkennen.
Entscheidend für die notwendige Überbrückung dieser wachsenden Kluft ist die Einsicht, dass Kapitalismus und Demokratie ganz unterschiedliche Funktionen zu erfüllen haben. Der Markt ist dazu da, Anreize für ein freiheitliches und unternehmerisches Handeln zu schaffen – als wichtigster Baustein dient das Privateigentum, das Ziel ist das individuelle Wohl. Die Politik ihrerseits ist dazu da, gemeinsame Spielregeln aufzustellen, um die (in einer freiheitlichen Gemeinschaft notwendigerweise entstehenden) Konflikte friedlich auszutragen und sich gemeinsam auf Problem-
lösungen zu einigen – der bedeutendste Baustein ist das demokratische Mitspracherecht, das Ziel ist das Gemeinwohl. Interessanterweise reagieren nicht die politischen Gemeinschaften auf der lokalen, nationalen oder gar supranationalen Ebene am nervösesten auf den Siegeszug des «Superkapitalismus», sondern die «Superkapitalisten» selbst. Also gerade jene, die selbst am meisten von den grenzenlosen Handelsströmen der globalisierten Wirtschaft profitieren sollten. Nicht in der Uno-Generalversammlung, im EU-Parlament oder dem Schweizerischen Nationalrat wird heute am intensivsten über die globalen Herausforderungen bei der Sicherung anständiger Arbeitsbedingungen, internationaler Schuldenerlasse oder dem richtigen Umgang mit dem Klimawandel gestritten, sondern am Davoser Weltwirtschaftsforum und in den Aufsichtsräten multinationaler Unternehmen. Dies hängt einerseits damit zusammen, dass sich die Wirtschaftsakteure um ihren angeschlagenen Ruf in der Öffentlichkeit Sorgen machen und andererseits damit, dass Menschen eben nie nur Manager, Verbraucher oder Anleger sind, sondern immer auch Mitglieder einer Familie, eines Quartiers, einer Bürgergesellschaft und staatlicher Gemeinschaften. Die Kapitalisten wissen besser als alle anderen, dass das globale Geschäftemachen ein ganz grosses Handikap hat: die Blindheit gegenüber dem Gemeinwohl.
Immer wieder haben Apologeten des Kapitalismus versucht, die Marktwirtschaft als einzige funktionierende Antriebskraft und Grundlage einer freiheitlichen und gerechten Ordnung darzustellen und gleichzeitig den Staat und mitunter sogar die Demokratie als Hemmschuh oder gar «Diktatur der Mehrheit» zu denunzieren. Was in der Theorie einen gewissen Sinn hat und im Rahmen kleiner Gemeinschaften und Wirtschaftsstrukturen auch funktionieren kann, ist jedoch im globalen Kontext und der ungeheuren Dynamik von bald sieben Milliarden Menschen auf Checks and Balances angewiesen. Solche ausgleichenden Kontrollen und Gegengewichte fehlen aber im Zeitalter des «Superkapitalismus» in den Augen der allermeisten Menschen noch immer, und deshalb haben nicht wenige mächtige Marktakteure begonnen, quasistaatliche Aufgaben zu übernehmen.
Den sogenannten Multis ist zwar zugute zu halten, dass sie – mehr aus Hilflosigkeit denn aus Notwendigkeit – solche neuen, ihren eigentlichen Aufgaben im Grunde wesensfremden Aktivitäten wahrnehmen. Trotzdem könnte der wachsende Allzuständigkeitsanspruch finanzstarker kapitalistischer Akteure dazu führen, dass staatliche Gemeinschaften und bürgergesellschaftliche Organisationen als obsolet betrachtet werden – und damit «unsere Demokratien» – wie Robert Reich warnt – tatsächlich nachhaltig untergraben werden. Wenn eine Logistikfirma wie TNT beginnt, ein eigenes, weltweit einsetzbares Katastrophenhilfskorps zu unterhalten oder der Getränkemulti Coca-Cola ein internationales Wasserschutzprogramm betreibt, dann handelt es sich dabei um unternehmerische Ansprüche, die in eine falsche Richtung weisen. Weshalb? Sie schwächen die «Gewaltenteilung» zwischen Markt und Demokratie ebenso wie es einst die Ansprüche und Praktiken von Regierungen getan haben, die Unternehmen verstaatlichten. Wir dürfen uns insbesondere nicht durch den vordergründigen Applaus sowohl seitens der NGOs – die sich von den Unternehmen zusätzliche Mittel und Aufgaben versprechen – wie auch seitens von Regierungen – die auf eine Entlastung hoffen – blenden lassen: je globaler und komplexer das Zusammenleben auf dieser Welt wird, desto bedeutsamer ist es, zwischen den Zuständigkeiten und Aufgaben des privatwirtschaftlichen Marktes und der öffentlichrechtlichen Demokratie klar zu unterscheiden.
Das führt uns zum Kerngedanken dieses Beitrages. Wie kann das heute sehr ungleiche Kräfteverhältnis zwischen dem bereits im vorderen Mittelfeld der Superleague auftrumpfenden Marktes und der erst knapp vor dem Aufstieg in die Challengers’ League stehenden Demokratie ausgeglichen werden? Eine Relegation des Kapitalismus in eine untere Liga scheint ebenso unrealistisch wie unerwünscht. Ein Fortbestehen der Liga-Unterschiede hat ebensowenig Sinn; denn ohne Konkurrenz verkommt der Markt auf der globalen Ebene zum Einzelkämpfer und schafft angesichts seiner strukturbedingten Defizite mehr Probleme, als er zu lösen vermag. Als einzige sinnvolle Perspektive bleibt deshalb der schrittweise Aufstieg der Demokratie in die Superleague.
In diesem Kontext werden die Entwicklungen der letzten zwei Jahrzehnte seit dem Ende des Kalten Krieges verständlicher. Nicht nur hat die Demokratie sich in diesem Zeitraum weltweit ausgebreitet. Zusätzlich zu dieser räumlich-quantitativen Expansion fanden und finden verfahrensmässig-qualitative Demokratisierungen der Demokratie statt, wie bereits eingangs kurz erwähnt. So sieht der neue Vertrag der Europäischen Union, zum erstenmal in der Geschichte ein transnationales direktdemokratisches Instrument vor, nämlich die Europäische Volksinitiative. Diese geht von einem Quorum von einer Million Bürgern aus mehreren EU-Mitgliedstaaten für die Unterbreitung eines neuen Gesetzes aus – im gleicher Weise wie dies das Europäische Parlament und der Europäische Rat gegenüber der Kommission heute schon können.
Aber nicht nur im Rahmen länderübergreifender Quasi-Verfassungen wie dem «Lissaboner Vertrag» lässt sich zeigen, dass wir uns unter den Vorzeichen des «Superkapitalismus» zu einer «Superdemokratie» hin bewegen; deutlich wird dies auch am Beispiel von Ländern, die erst kürzlich dem Merkantilismus abgeschworen – diese Marktöffnung jedoch mit einer gleichzeitigen Stärkung der Demokratie verbunden haben. Dazu zwei Beispiele.
Beispiel eins: Costa Rica. Der zentralamerikanische Kleinstaat überlebte das kriegerische 20. Jahrhundert, indem er zu einem frühen Zeitpunkt seine Armee abschaffte und, im Unterschied zu Nachbarstaaten wie Nicaragua, Guatemala oder Panama, in die Bürgergesellschaft investierte. Gegen aussen führte dies jedoch zu einer gewissen Abschottung. Costa Rica litt lange unter Protektionismus und fehlenden Handelsabkommen. Nach seiner Wiederwahl ins höchste Staatsamt, setzte sich der Friedensnobelpreisträger Oscar Arias in den letzten zwei Jahren für eine behutsame und demokratisch gutverankerte wirtschaftliche Öffnung des Landes ein. Das Kernstück dieser neuen Politik, das Freihandelsabkommen mit den USA und weiteren zentralamerikanischen Staaten, brachte Arias, bei der ersten Volksabstimmung des Landes im letzten Oktober, bei einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger durch. Zuvor hatte er die nationale Verfassung des Landes durch die Einführung von Volksrechten – Initiative und Referendum – erweitert und modernisiert und damit den Mut und Willen zur gesellschaftlichen Öffnung gestärkt.
Beispiel zwei: Taiwan. Der Inselstaat zwischen China und den Philippinen ist mit einer Fläche von 35’0002 km kleiner als die Schweiz; doch beherbergt die «schöne Insel» mehr als 24 Millionen Einwohner. Während die nahe Grossmacht China als Paradebeispiel dafür dienen kann, was passiert, wenn sich ein kapitalistischer Markt im Namen des Sozialismus ohne Demokratie entwickelt, ist es einer bürgerlichen Gesellschaft wie der taiwanesischen gelungen, sich nicht nur gegen die Ansprüche ihres mächtigen Nachbarn zu wehren, sondern gleichzeitig eine Militärdiktatur in eine für die Region mustergültige Demokratie überzuführen. Bei den jüngsten Wahlen im März 2008 wählten die Taiwanesen einen neuen Präsidenten und stimmten gleichzeitig über zwei Volksinitiativen ab. Statt wie in China zu Schüssen auf Andersdenkende, führte dies in Taiwan zum zweiten friedlichen Machtwechsel innerhalb von acht Jahren und zu einer weiteren Festigung der Volksrechte in einer Weltregion, wo die direkte Demokratie historisch kaum eine Rolle gespielt hat.
Die beiden Beispiele zeigen, dass eine freiheitlichere Marktwirtschaft und eine freiheitlichere Demokratie sehr gut zueinander passen – ja, ich würde sagen, sogar einander bedingen. Kleinere Staaten – die Schweiz gehört als liberaler Staat mit stark ausgebauten Volksrechten auch zu dieser Gruppe – haben dies früher erkannt, als viele mittlere und grössere Mächte, wo, historisch betrachtet, nicht die Freiheit und der Schutz des Einzelnen, sondern vielmehr die Macht der Regierenden – ob gewählt oder nicht – im Vordergrund gestanden ist. In einer globalisierten Welt gibt es aber keine Mehrheiten bzw. Hegemonien mehr, sondern nur noch sehr viele Minderheiten und Akteure. Wie auf den unteren Ebenen, so hängt ihr gleichzeitig konfliktträchtiges und friedliches Zusammenleben von rechtsstaatlich verankerten und garantierten Freiheiten und den Spielregeln ab, die zu einem möglichst ausgewogenen Gleichgewicht von Markt und Demokratie beitragen können. Zur Jahrtausendwende wurde die Welt superkapitalistisch, unsere gemeinsame Aufgabe im 21. Jahrhundert ist es, sie superdemokratisch zu machen.