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(8) Bundesbahnfreies Hoheitsgebiet

Durch das Appenzellerland führt keine Nationalstrasse. Und keine Bundesbahn. Wie der öffentliche Verkehr auszusehen hat, bestimmen die Appenzeller selbst.
Für die Wahrung ihrer Autonomie bleiben sie freilich auf Bundesgelder angewiesen.

Das Appenzellerland ist landschaftlich reizvoll und politisch eigensinnig, welch zweite Eigenschaft auch mit der besonderen geographischen Lage zusammenhängen mag – das Hoheitsgebiet der beiden Kantone wird lückenlos vom Kanton St. Gallen umschlossen. Die enge Umarmung und die bloss zaghaften Liebeserklärungen führen im Innern zu Geborgenheit und Verbundenheit, zugleich aber zu einem Verlust an Autonomie und Selbstbestimmung. Der Weg in die weite Welt verläuft stets über St. Galler Hoheitsgebiet – alle Bahn- und der überwiegende Teil der Buslinien verbinden das Appenzellerland mit seinem einzigen Nachbarkanton.

Eine Besonderheit des Appenzellerlandes besteht darin, dass weder die Schweizerischen Bundes-Bahnen (SBB) noch die Nationalstrassen dessen Gebiet berühren. Die beiden Appenzell unterscheiden sich damit markant von allen anderen Kantonen. Der Status eines SBB-freien und nationalstrassenlosen Hoheitsgebietes bietet gewichtige Vorteile. Die beiden Kantone als Miteigentümer der Privatbahnen haben in deren Gremien ein zentrales und direktes Mitspracherecht. Der politische Zugriff ist viel unmittelbarer als in einem durchschnittlichen SBB-Kanton. So kann das Angebot des öffentlichen Verkehrs (öV) kurzfristig verändert und den Bedürfnissen der einheimischen Bevölkerung angepasst werden. Ähnliches gilt auch für das Angebot auf den Postautolinien. Die PostAuto Schweiz AG, Region Ostschweiz, St. Gallen, entscheidet abschliessend über Verbesserungen, die von den beiden Appenzell gewünscht werden.

Der öV im Appenzellerland ist heute reiner Personentransport; der Güterverkehr spielt sich ausschliesslich auf der Strasse ab. Vor dem Hintergrund der geographischen Gegebenheiten und aus Gründen der Effizienz hat sich diese Arbeitsteilung in den letzten Jahrzehnten so herausgebildet. Die Gestaltung, Organisation und Finanzierung des öV ist immer noch eine klassische Verbundaufgabe von Bund, Kantonen und Gemeinden. Alle drei staatlichen Ebenen haben je ihre spezifischen Aufgaben. Das Zusammenwirken von Bund, Kantonen und Gemeinden darf als in der Regel unproblematisch bezeichnet werden. Solange die Regionalautonomie gewahrt bleibt, besteht jedenfalls kein Anlass, diese eingespielten Mechanismen in Frage zu stellen.

Die beiden Appenzell sind freilich auf Kooperationen angewiesen. Vor rund 10 Jahren ist auf Initiative des Kantons Appenzell Ausserrhoden das inoffizielle Gebilde «Verkehrsregion St. Gallen» entstanden. Ihm gehören die Kantone St. Gallen, Thurgau, Appenzell Ausserrhoden und Appenzell Innerrhoden sowie, als einziges kommunales Gemeinwesen, die Stadt St. Gallen an. Diese spezielle Berücksichtigung der Stadt St. Gallen ist eine kluge Entscheidung und darüber hinaus die logische Konsequenz aus der, vor allem auch verkehrstechnischen, regionalen Sonderstellung der Gallusstadt. Seither werden alle grösseren Verkehrsprojekte gemeinsam entwickelt und bearbeitet. Die Vorarbeiten werden in den jeweils zuständigen Fachstellen der Kantone und der Stadt St. Gallen (öV-Aemter, Tiefbauämter oder Planungsämter) geleistet, bei Bedarf unter Beizug externer Fachleute. Die politische Weichenstellung findet anschliessend im Verkehrsrat statt, in dem die vier Kantonsregierungen sowie der Stadtrat St. Gallen vertreten sind. Der Verkehrsrat ist also kein Entscheidungsorgan, sondern bloss das antragstellende Gremium zuhanden der Kollegialbehörden.

Das Appenzellerland ist eine Oase der Privatbahnen; nicht weniger als deren fünf, nämlich Appenzeller Bahnen (AB), Schweizerische Südostbahn AG (SOB), Trogener Bahn (TB), Rorschach-Heiden-Bergbahn (RHB) und Bergbahn Rheineck-Walzenhausen (RhW), sichern die Bahnerschliessung. Während die SOB nur die Gemeinde Herisau bedient und damit das Appenzellerland nur am Rande berührt, stellen die anderen vier Unternehmen die Verbindung zwischen dem Appenzellerland und dem Nachbarkanton St. Gallen flächendeckend sicher. Nach einem mehrjährigen Vorbereitungsprozess sowie vielen politischen Irrungen und Wirrungen, ist es im Jahre 2006 gelungen, die vier Bahnen zu den «Appenzeller Bahnen» zusammenzuschliessen. Der Bund und der Kanton St. Gallen haben diesen Prozess von Anfang an begrüsst, allerdings die politisch heiklen Entscheidungen vertrauensvoll und grosszügig den Behörden des Appenzellerlandes überlassen. Dieser Zusammenschluss, der nicht in einem anonymen Grossbetrieb, sondern in einem nach wie vor überschaubaren und persönlich gefärbten Mittelbetrieb endet, bringt mittel- und langfristig zahlreiche Vorteile, wie Stärkung der Position nach aussen; nur noch ein Ansprechpartner für Bund und Kantone; kostengünstigerer Mitteleinsatz sowie geringere Abgeltung für dieselbe Leistung oder aber eine bessere Leistung für dieselbe Abgeltung. Wenn es dem Verwaltungsrat und der Geschäftsleitung der neuen Unternehmung nun gelingt, die unterschiedlichen Betriebskulturen zusammenzuführen und so den Reibungsverlust zu minimieren, darf damit gerechnet werden, dass es bei dieser Fusion nur Gewinner gibt.

Die sogenannte Durchmesserlinie von Trogen in die Stadt St. Gallen und von hier weiter bis nach Appenzell ist eines der zukunftsträchtigen Projekte der neuen Appenzeller Bahnen. Dieses Projekt umfasst zwei ganz unterschiedliche Dimensionen, nämlich die Beseitigung des letzten Zahnradstückes auf der Strecke St. Gallen-Appenzell einerseits, so dass inskünftig leichteres und kostengünstigeres Adhäsions-Traktionsmaterial eingesetzt werden kann, sowie die Verknüpfung der heute isolierten Linien Appenzell–St. Gallen und Trogen–St. Gallen anderseits. Somit können namentlich Bahnreisende aus dem Appenzeller Mittelland umsteigefrei das Zentrum der Stadt St. Gallen erreichen. Dieses Vorhaben gilt sowohl beim Bund als auch bei den Behörden von Kanton und Stadt St. Gallen als prioritäres Agglomerations-Projekt, dessen Kosten bis zu 50 Prozent aus Bundesmitteln (Agglo-Topf) gedeckt werden können, vorausgesetzt allerdings, dass die beteiligten Kantone St. Gallen und beide Appenzell die Finanzierung der Restkosten sicherstellen. Das Gelingen dieses Projektes setzt die Überwindung von Unstimmigkeiten voraus, die in der jüngsten Vergangenheit als Folge unterschiedlicher Vorstellungen in der Steuerpolitik aufgetreten sind.

In den letzten Jahren ist das öV-Angebot im Kanton Appenzell Ausserrhoden, in enger Absprache mit den Gemeinden und den jeweils zuständigen Bahn- bzw. Busbetrieben, sukzessive ausgebaut worden. Heute sind sämtliche 20 ausserrhodischen Gemeinden während des ganzen Jahres bis gegen Mitternacht durch den öV erschlossen. Dieses Angebot stellt gesamtschweizerisch eine absolute Spitzenleistung dar und ist Ausdruck des politischen Willens von Kanton und Gemeinden, die Wohnattraktivität des Kantons zu steigern.

Das Appenzellerland ist bekanntlich ein äusserst beliebtes Naherholungsgebiet, schwergewichtig für Gäste aus der Ostschweiz und dem süddeutschen Raum. Vor allem Familien, Schüler sowie Rentner benutzen hierfür sehr oft den öV. Deshalb erstaunt es nicht, dass die AB rund 30 Prozent des Verkehrsertrags den touristischen Gästen verdanken. Ähnlich liegen die Verhältnisse, mit einem geschätzten Anteil von 15 Prozent, auch beim Postauto. Mit der Eröffnung des Reka-Feriendorfs in Urnäsch im diesem Frühjahr dürfte diese Tendenz zunehmen. Die Betreiberin rechnet jährlich mit rund 50’000 Logiernächten. Wenn die Bahn- und Busunternehmen, in enger Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen im Tourismus, attraktive Angebotskombinationen auf den Markt bringen, wird sowohl der Tourismus als auch der öV von diesem neuen Betrieb in Urnäsch profitieren.

Der öV befindet sich im Appenzellerland auf einem höchst beachtlichen Niveau, das es in den nächsten Jahren zu konsolidieren gilt. Sofern der Bund seine finanzielle Unterstützung im bisherigen Rahmen weiterführt, kann davon ausgegangen werden, dass keine Abstriche am bestehenden Angebot nötig sind. Im öV-Bereich sind die Weichen für eine Vorwärtsstrategie gestellt. Sie muss nun nur noch gut vermarktet werden.

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