(8) Abgrund oder Ausweg?
Hört man die Meinungen von Ökonomen, dann scheint es den meisten Industrienationen nicht an Wissen, wohl aber an politischem Willen und somit an Taten zum Ausbruch aus der Schuldenfalle zu fehlen.
Wer den Status quo bewahrt, der bleibt nicht einfach stehen – er rast möglicherweise mit hoher Geschwindigkeit auf den Abgrund zu. Mit dieser Warnung sorgte Laurence Kotlikoff, Wirtschaftsprofessor an der Universität Boston, am Zermatter Symposium 2007 für den spektakulärsten und am meisten kontroversen Beitrag. Sein drastischer Pessimismus klang bereits im Titel seines Referates an: «Staticide – America’s Pursuit of Its Suicidal Status Quo». Aufgrund ihrer Verschuldung, meint Kotlikoff, begehen die USA Staatsselbstmord. Die Fortsetzung des gewohnten Ausgabengebarens führe zwangsläufig in den Bankrott – eine von westeuropäischer Warte aus erklärungsbedürftige Feststellung.
Die Fakten, mit denen Kotlikoff seine Voraussage untermauert, beruhen im wesentlichen auf der zu erwartenden demographischen Entwicklung, also der dramatischen Zunahme der Langlebigkeit und dem Rückgang der Geburtenrate. Bereits heute schrumpft die Erwerbsbevölkerung in Europa und Japan, und die USA werden sich diesem Trend nicht entziehen können. Die ersten Babyboomer sind mittlerweile um die 60 Jahre alt; der Anteil der über 65jährigen in den USA wird von heute rund 12 auf deutlich über 20 Prozent im Jahre 2030 ansteigen. Dies wird vor allem für die beiden sozialen Auffangnetze Medicare (für Ältere) und Medicaid (für Bedürftige) Konsequenzen haben.
Während die explizite US-Staatsschuld zwar besorgniserregend, aber noch einigermassen überschaubar ist, nimmt die implizite, also versteckte Staatsschuld gigantische Dimensionen an. Kotlikoff errechnet für die USA – ausgehend von der Differenz zwischen dem Gegenwartswert der Verpflichtungen und dem Gegenwartswert der Einnahmen – eine Fiskallücke von 70 Billionen US-Dollar. Ein heutiger Rentner erhält aus den Gesundheitsprogrammen Leistungen von rund 30’000 US-Dollar, was ungefähr 80 Prozent des durchschnittlichen jährlichen Pro-Kopf-Einkommens der USA entspricht. Bis zum Jahr 2035 sollen diese Leistungen auf 50’000 US-Dollar ansteigen. Die jährlichen Kosten der dannzumal 77 Millionen in Rente gegangenen Babyboomer werden sich demnach auf 385 Milliarden US-Dollar belaufen.
Dass die Nachhaltigkeit der Staatsverschuldung in den USA ernsthaft bedroht ist, lässt sich auch daran ermessen, dass seit dem Jahr 2000 die Verteidigungsausgaben um 60 und die übrigen Staatsausgaben um knapp 30 Prozent gestiegen sind, während der Zuwachs des realen Bruttoinlandproduktes nur gerade 15 Prozent betrug – also bei weitem nicht genug, um die ausufernden Leistungsversprechen zu erfüllen. Um die sich ausweitende fiskalische Lücke zu schliessen, müsste die amerikanische Politik gemäss Kotlikoff drastische Massnahmen ergreifen. So müssten beispielsweise entweder die Einkommens- und Unternehmenssteuern dauerhaft um 70 Prozent oder die Lohnabzüge um 109 Prozent erhöht werden. Eine Besserung ist vorderhand freilich nicht in Sicht, weil weder die notwendigen Reformen des Social-Security-Systems noch einschneidende Steuerreformen eingeleitet wurden.
Und Europa? Professor Bernd Marin vom Europäischen Zentrum für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung in Wien zeichnete ebenfalls ein düsteres Bild: «Europe doesn’t work, because Europeans don’t work enough.» Zwar herrscht in vielen Ländern noch eine hohe Arbeitslosigkeit, aber sie lasse sich vernachlässigen angesichts der Nichterwerbstätigkeit, sei es aufgrund von Krankheit, Mutterschaft, Invalidität oder Frühpensionierung. So fehlten Skandinavier während ihres Berufslebens insgesamt vier bis fünf Jahre wegen Krankheit. Mit diesem Befund zeigte Marin auch einen Ausweg auf: die Europäer könnten ihr Sozialmodell ins Gleichgewicht bringen, wenn sie wieder mehr Menschen mehr arbeiten liessen, also eine höhere Erwerbsquote und vor allem eine massvoll längere Lebensarbeitszeit anstrebten.
Schwerer fällt dieser Ausweg in der Schweiz, die im europäischen Vergleich bereits Höchstwerte beim tatsächlichen Pensionsalter und bei der Beschäftigungsquote der 55- bis 64jährigen hat. Hier muss sich die Politik vor allem um die berufliche Vorsorge kümmern, wie Christoph Schenk als Geschäftsleiter der Pensionskasse der UBS zeigte. Weil die zweite Säule im Kapitaldeckungsverfahren finanziert wird, glaubten die Schweizer bisher unerschütterlich an ihre Nachhaltigkeit. Tatsächlich müsse aber aller Sozialaufwand aus dem Volkseinkommen der laufenden Periode gedeckt werden, warnte Schenk. Nicht zuletzt deshalb brauche das Land eine auf Wirtschaftswachstum ausgerichtete Fiskal- und Geldpolitik. Die Forderung nach Nachhaltigkeit gebiete zudem, dass die Leistungen aus der beruflichen Vorsorge auf ökonomisch richtigen Sätzen beruhten. Heute sei der staatlich vorgeschriebene Rentenumwandlungssatz zu hoch. So führe für die Kassen jede Pensionierung zu einem Verlust zu Lasten der Aktiv-Versicherten – in einem echten Kapitaldeckungsverfahren sei dies systemfremd.
Professor Michael Heise, Chefökonom der Allianz/Dresdner Bank, sah schliesslich, wie in den USA, auch in einigen EU-Ländern eine Zunahme der privaten Verschuldung, die mit einem Rückgang der Sparquote einhergehe. Als Gründe für diese Entwicklung nannte er die langanhaltende Tiefzinsperiode, die Deregulierung der Finanzmärkte und die Entstehung neuer Finanzprodukte sowie den Vermögenseffekt, der sich aus der Preissteigerung von Vermögenswerten ergebe. Zwischen der privaten und der öffentlichen Verschuldung gebe es subtile Zusammenhänge, die in einen Teufelskreis münden könnten. Wenn schon die privaten Haushalte nicht sparten, hätte wenigstens der Staat sparen sollen. Deshalb forderte Heise, der Staat solle privates Sparen fördern, beziehungsweise zumindest nicht entmutigen.
Schulden sind aber nicht nur schlecht. Als Mitglied des Direktoriums der Schweizerischen Nationalbank zeigte Professor Thomas Jordan auf, welche Bedeutung die risikofreien Staatsanleihen für den Finanzmarkt haben.* Und mit der Österreichischen Kontrollbank stellte Bankvorstandsmitglied Johannes Attems einen auch für die Schweiz wichtigen Emittenten vor. Mit ihren Anleihen sorgt die Bank für die Exportfinanzierung und -versicherung; dank der Garantie der Republik Österreich gehören die Titel zu den sichersten und, angesichts der Knappheit an «Eidgenossen», meistgefragten Anleihen.
Wie die – derzeit umstrittenen – Ratingagenturen arbeiten, erklärte schliesslich Alexander Kockerbeck, Chefanalyst für Europa bei Moody’s. Als zentrales Kriterium beim Bewerten von Staatsanleihen bezeichnete er die «Fähigkeit und Willigkeit zu bezahlen». Moody’s berücksichtige dabei nicht nur die explizite Staatsverschuldung, sondern beziehe auch die Verschuldungsdynamik sowie die implizite Verschuldung in ihre Bewertungen mit ein. Denn auch wenn eine Verschuldungsdynamik sich jetzt noch verstecken lasse, so komme sie doch in einigen Jahren drastisch zum Vorschein. Aber immerhin genössen Staaten bei der impliziten Verschuldung ein Privileg gegenüber Privaten, stellte Kockerbeck fest: sie könnten den Vertrag verändern, also Leistungen nicht im versprochenen Umfang erbringen.
Wie aber können Staaten der Schuldenfalle entrinnen? Das Symposium stellte nicht nur Probleme dar, sondern zeigte auch Therapien auf. Die Flucht nach vorn, also eine «investive Sanierung», empfahl Professor Ulrich Buller. Als Vorstandsmitglied der Fraunhofer-Gesellschaft warb er für Innovation – von der Schlankheitskur fürs Auto bis zur Medikamentenproduktion durch Pflanzen –, die auch auf dem alten Kontinent Europa wieder Zukunftsmärkte schaffen könne. Dagegen fragten sich die anderen Experten: Wie können die demokratischen Staaten ihre Regierungen und ihre Parlamente darauf verpflichten, allen Begehrlichkeiten und Versuchungen zum Trotz mit den Mitteln haushälterisch umzugehen, also den späteren Generationen keine untragbaren Schulden aufzubürden?
So stellte Jürgen Stark, Chefökonom und Direktoriumsmitglied der Europäischen Zentralbank, den Stabilitäts- und Wachstumspakt der Europäischen Währungsunion vor, den er als Staatssekretär im deutschen Finanzministerium mitgestaltet hat. Das Grundproblem der Politik – wie lassen sich die öffentlichen Finanzen dauerhaft ins Gleichgewicht bringen? – stellt sich in jenen Ländern noch verschärft, die sich in den 1990er Jahren zur Europäischen Währungsunion zusammengeschlossen haben. Bisher musste sich jedes Land, das eine unsolide Geldpolitik betrieb, von den globalen Finanzmärkten disziplinieren lassen: der Wechselkurs sank und die Zinsen stiegen. In der Währungsunion jedoch können alle Länder vom niedrigeren langfristigen Zinsniveau profitieren, ohne die Folgen ihrer nationalen Politik tragen zu müssen. Im Gegenteil – mit unsolidem Haushalten gefährden sie weniger die Stabilität in ihren eigenen Grenzen als jene im gesamten Währungsraum. Dieses Trittbrettfahrer-Problem musste die Währungsunion gemäss Jürgen Stark lösen.
Vor allem das deutsche Finanzministerium drängte deshalb darauf, zwei der Maastricht-Kriterien für den Beitritt zur Europäischen Währungsunion für dauerhaft verbindlich zu erklären. Im Stabilitäts- und Wachstumspakt verpflichteten sich die Mitglieder, ihre Budgetdefizite auf drei Prozent zu beschränken und eine Gesamtverschuldung von mehr als 60 Prozent des Bruttoinlandproduktes zu vermeiden. Zur Kontrolle müssen die Staaten ihre Budgets der Kommission der Europäischen Union einreichen. Falls diese ein Überschreiten der 3-Prozent-Marke feststellt, kann sie mit dem «Blauen Brief» eine Frühwarnung auslösen. Und wenn die allzu grosse Verschuldung tatsächlich eintritt, muss die Kommission ein Verfahren wegen übermässigen Defizits einleiten. Den fehlbaren Ländern drohen massive Bussen.
Ausgerechnet die beiden grössten und wichtigsten Mitglieder, Deutschland und Frankreich, brachen aber 2003 den Pakt. Gewaltiger politischer Druck sorgte jedoch dafür, dass die EU-Kommission im Vorjahr trotz absehbarer übermässiger Defizite die Verwarnungen nicht aussprach. Statt die Regeln des Stabilitätspakts durchzusetzen, weichten die EU-Behörden sie auf. Die Staaten können sich jetzt mit länderspezifischen Faktoren entschuldigen und auf die (erhofften) fiskalischen Effekte schuldentreibender Strukturreformen verweisen. Nur wenige Wochen nach der Verpflichtung auf diese weicheren Regeln im Frühjahr 2007 zeigte sich allerdings, dass wieder zwei wichtige Mitgliedstaaten, Frankreich und Italien, auch diese erneut nicht einhalten.
Das Problem seien also nicht die Regeln, stellte Jürgen Stark fest, sondern das Fehlen des politischen Willens, sich ihnen zu unterwerfen. Die Politik nutze die gegenwärtig guten Zeiten nicht dazu, die Qualität ihrer Ausgaben zu überprüfen; sie dürfe nicht immer neue Budgetposten beschliessen, ohne auch alte zurückzufahren. Denn eigentlich müssten die Staaten mit 35 Prozent des Bruttoinlandprodukts auskommen – die Politik werde nicht darum herumkommen, sich dieser Frage zu stellen.
Der Status quo sei nicht nachhaltig, erkennt EU-Kommissar Joaquin Almunia in seinem Report «Sustainability of Public Finances» von 2006; deshalb könne er keine Option sein. Die Gründe dafür erklärte Barry Anderson, Chef der Budgeting and Public Expenditures Division der OECD, indem er die «Nachhaltigkeitslücke» der EU aufzeigte. Das strukturelle Defizit in den Budgets der Mitgliedstaaten beläuft sich auf 2,25 Prozent des Bruttoinlandprodukts; ohne Korrekturen würde deshalb die Gesamtverschuldung bis 2050 auf 190 Prozent hochschnellen. Das Problem sehen alle, doch sie einigen sich nicht auf Lösungen. Höhere Werte bei Wachstum, Produktivität oder Arbeitsmarktbeteiligung genügten nicht, meinte Anderson; die Staaten müssten auch die versprochenen Bezüge kürzen – je früher sie damit begännen, desto leichter fiele es ihnen.
Als Hilfe empfiehlt der OECD-Experte den Staaten Projektionen, dank deren sie die langfristigen fiskalischen Auswirkungen von kurzatmigen politischen Entscheiden erkennen könnten. Mit Sensibilitätsanalysen lässt sich abschätzen, wie Entwicklungen in der Demographie (Lebenserwartung, Einwanderung), in der Ökonomie (Produktivitätswachstum, Arbeitskräftepotential) und in der Sozialpolitik, wo die Gesundheitskosten am stärksten drücken dürften, die Staatshaushalte beeinflussen. Das dürfe aber keine akademische Übung bleiben, betonte Anderson. Die Regierungen müssten bei ihren jährlichen Budgetpräsentationen auch die langfristigen Projektionen aufzeigen, verständlich für Medien, Politiker und Publikum. Denn nur «Predigen», betonten verschiedene Votanten in der Diskussion, führe in demokratischen Ländern zu einer weitsichtigeren Politik.
Wie sich die Politiker selber zügeln können, zeigte schliesslich Peter Siegenthaler, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, am Beispiel der Schuldenbremse auf.** Sie habe sich bisher bewährt, stellte er fest. Für solche Zwangsmittel gilt allerdings in der Schweiz ebenso wie in der EU, was er in ein schönes Bild fasste: das Parlament hat sich, um dem Gesang der Sirenen zu widerstehen, zwar an den Mast gebunden, aber die Ohren nicht verstopft – jetzt dürfen die Stricke nicht reissen.
* vgl. dazu auch den Beitrag von Thomas Jordan auf den Seiten 21 bis 24 dieser Ausgabe.
** vgl. dazu auch den Beitrag von Peter Siegenthaler auf den Seiten 26 bis 27 dieser Ausgabe.