Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

(7) Warum wir nicht tun, was wir wissen

Auch Demokratien erliegen der Versuchung, politische Entscheidungen wissenschaftlichen Experten zu überlassen. Diese Anfälligkeit hat viel mit den Beschwer-lichkeiten des politischen Entscheidungsprozesses zu tun, aber auch mit den Eitelkeiten der Wissenschaft.

Wenn im Rahmen politischer Entscheidungsprozesse Gutachten an Wissenschafter vergeben werden, so gibt es dazu im wesentlichen drei Gründe. Erstens: die Politiker, die den Auftrag erteilen, wollen die Entscheidung hinauszögern, indem sie sich durch das Gutachten bescheinigen lassen, dass es noch zu viele Unklarheiten gebe, um jetzt schon zu handeln. Zweitens: man wünscht sich durch das Gutachten eine Bestätigung der eigenen Position. Da solche Bestätigungen ­mei­stens bei der Auseinandersetzung mit einer Gegenmeinung gesucht werden, schafft sich diese durch ein Gegengutachten in der Regel dieselben Chancen. Drittens: die für die Entscheidung verantwortlichen Politiker wollen wirklich etwas wissen, für das die zu Rate gezogenen Wissenschafter kompetent sind.

Man könnte meinen, der dritte Fall sei der normale und die andern beiden kämen nur gelegentlich vor, so wie es überall Abweichungen von der Norm gibt. Aber das ist demokratisches Wunschdenken. Tatsächlich werden die meisten Gutachten aus einem der beiden zuerst genannten Gründe vergeben; der dritte ist eine Idealisierung, die nur selten vorkommt. Darauf deutet bereits der übliche Jargon hin, dass Gutachten vergeben, nicht aber Wissenschafter um ein Gutachten gebeten werden.

Was ich hier behaupte, ist nicht so zynisch gemeint, wie es klingt; denn ich möchte den Ursachen nachgehen, warum Gutachten normalerweise aus den beiden zuerst genannten Gründen vergeben werden. Es wird sich zeigen, dass die Schwäche der Demokratie, die hier offenbar besteht, ihren Anlass sowohl in einer Schwäche der Wissenschaft als auch in einer Schwäche der Organisation des politischen Entscheidungsprozesses hat. Aus dieser Analyse liesse sich vielleicht lernen, wie der dritte Fall zum Normalfall werden könnte, wenn wir bessere Demokraten wären.

Die «Schwäche» der Wissenschaft zeigt sich im zweiten Fall, wenn Gutachten und Gegengutachten vergeben werden. Jede Seite – etwa Regierung und Opposition im parlamentarischen Prozess – sucht sich für die Vergabe ihres Gutachtens einen Wissenschafter oder ein wissenschaftliches Institut aus, von dem sie aufgrund seiner bisherigen Publikationen erwarten kann, dass ihre vorgefasste Meinung gestützt werden wird. Dies ist tatsächlich so. Wie aber ist das möglich?

Die Wissenschaften sind nach Fächern organisiert. Eine gute Fachwissenschaft erkennt man daran, dass das Gegenteil einer in ihr richtigen Aussage falsch ist. Die in den Fachwissenschaften erreichte Gewissheit aber hat auch ihren Preis. «Die Wissenschaft denkt nicht», hat Heidegger etwas provozierend festgestellt. Damit sollte natürlich nicht gesagt sein, dass Fachwissenschafter überhaupt keine Denker sind, sondern dass sie über etwas Bestimmtes nicht nachdenken, nämlich über die Beschränkungen oder Grenzen, denen sie ihre fachlichen Erfolge verdanken.

Diese Art des Erfolgs bringt es dann aber auch mit sich, dass Fachwissenschaften zur Politikberatung allenfalls soweit direkt geeignet sind, wie die politische Frage gerade in den Grenzen des jeweiligen Fachs unterzubringen ist. Dies kommt relativ selten vor. Im allgemeinen sind die politischen Sachfragen keine wissenschaftlichen Fachfragen, sondern gehen über den Horizont von Einzelwissenschaften weit hinaus. Trotzdem werden Fachwissenschafter relativ häufig um Gutachten gebeten, für die sie nur teilweise kompetent sind. Dabei finden in der Regel zwei Fehler statt, die eigentlich zwei Seiten desselben Fehlers sind.

Der eine Fehler ist, dass die Politiker ihren beauftragten Gutachter für kompetent halten, was er aber nur teilweise ist. Damit verbindet sich meistens der Wunsch, dem jeweiligen Fachmann die Verantwortung zuzuschieben. Der zweite Fehler ist, dass der beauftragte Gutachter selbst gar nicht merkt, inwieweit der Auftrag seine Kompetenz übersteigt. Beide Fehler klingen so trivial, dass man sie einem gestandenen Politiker oder Ministerialbeamten einerseits, einem angesehenen Wissenschafter andererseits normalerweise nicht zutrauen möchte. Tatsächlich aber wird in fast allen wissenschaftlichen Gutachten mehr behauptet, als die Autoren wissen und beweisen können.

Ich gebe ein Beispiel – die Energiedebatte der letzten drei Jahrzehnte, die ich unter anderem in mehreren überfraktionellen Enquête-Kommissionen des Deutschen Bundestags miterlebt habe. Auslöser war die Bewertung der Atom- bzw. Kernenergie. Sachverständige, die etwas davon verstehen, sind zunächst natürlich die Physiker, sodann die Ingenieure, die Kraftwerke bauen, und schliesslich die Risikoexperten, die die Sicherheit beziehungsweise Gefährlichkeit des ganzen Systems beurteilen. Das Ergebnis dieser Bewertung war, dass die mit dieser Technik verbundenen Risiken im Normalbetrieb relativ klein und gut zu beherrschen seien, dass mit geringen Wahrscheinlichkeiten jedoch auch katastrophale Unfälle passieren könnten.

Hier sieht man eine klare Nahtstelle zwischen Wissenschaft und Politik. Die wissenschaftlichen Experten können wissen, mit welchen Wahrscheinlichkeiten welche Unfälle – kleine, mittlere oder grosse – zu erwarten sind, wenn die Kraftwerksingenieure und das Personal ihr bestes tun. Ob dieses Mass an Sicherheit eine positive Entscheidung für die betreffende Technik rechtfertigt, können sie aber natürlich nicht wissen, denn dies ist ein politisches und kein technisches Urteil.

Bereits an dieser Stelle aber war die Kompetenzzuweisung zwischen Politik und Wissenschaft in der Energiedebatte, wie ich sie historisch erlebt habe, keineswegs ganz eindeutig. Denn es gab immer wieder Ingenieure, die politisch – denn dafür gibt es keine Experten – behaupteten, ein bestimmtes Mass an Sicherheit sei nun wirklich genug. Und es gab, was ich fast noch schlimmer finde, auch immer wieder Politiker und Bürger, die bereit waren, sich die politische Entscheidung von den Ingenieuren als den vermeintlichen Experten abnehmen zu lassen.

Vor allem aber können die bisher genannten Sachverständigen nur die bestimmungsgemässe Nutzung der Atomkernenergie, also den Normalbetrieb in Friedenszeiten beurteilen. Man muss jedoch ausser der technischen auch die gesellschaftliche Sicherheit bewerten, und in Rechnung stellen, was mit dieser Technik angerichtet werden könnte, wenn nicht alle Menschen immer nur das beste im Sinn haben. Zwar lassen sich gegen Missbräuche sozialpolizeiliche Vorkehrungen treffen, aber diese haben ebenfalls ihren Preis, der auch dann zu hoch sein kann, wenn die Atomkernenergie in unruhigen Zeiten nicht nur – wie Robert Jungk befürchtete – unter den Bedingungen eines Polizeistaats sicher genutzt werden könnte. Wer aber kann überhaupt wissen, was in einigen Jahrzehnten normal sein wird? Vor 65 Jahren herrschte in Europa noch der Zweite Weltkrieg.

In Deutschland hat es in den 1980er Jahren eine politikberatende Studie über die «Sozialverträglichkeit verschiedener Energiesysteme» gegeben, in der ausser der technischen auch die gesellschaftliche Sicherheit bzw. Gefährlichkeit der Nutzung der Atomkernenergie untersucht wurde (K.M. Meyer-Abich und B. Schefold, «Die Grenzen der Atomwirtschaft», 1986). Die Studie war von der Bundesregierung vergeben worden. Nach einem Regierungswechsel war die Reaktion in Politik und Öffentlichkeit so ähnlich wie die der beiden Hunde, von denen Konrad Lorenz berichtet hat und die sich durch einen Zaun anzubellen pflegten. Als eines Tages ein Stück Zaun zur Reparatur herausgenommen worden war, so dass sie nun wirklich miteinander hätten kämpfen oder sich endlich vertragen können, erschraken sie sehr. Was taten die Hunde? Sie rannten schleunigst wieder dorthin, wo der Zaun noch stand, und bellten sich an wie zuvor. So kennt man es auch aus der Politik, wenn die alten Fronten obsolet werden, die Beteiligten aber trotzdem so weiterstreiten wie bisher.

Die Schwäche der Politik, so wie sie hier sichtbar geworden ist, verschränkt sich in einer fatalen Spiegelverkehrtheit mit den Eitelkeiten der Wissenschaft. Jeder Fachwissenschafter liebt ja sein Fach, wozu gehört, dass er es wichtiger findet als andere – sonst hätte er es ja wohl nicht gewählt. Diese Wichtigkeit überträgt sich dann auf seine Selbsteinschätzung, so dass er meistens nicht von alleine draufkommt, an der Beurteilung einer politischen Frage die Kollegen aus anderen Fächern zu beteiligen. Hinzukommen die internen Hierarchien, deretwegen etwa das Selbstbewusstsein der Ingenieure meistens nicht so stark ist wie das der reinen Wissenschafter und deretwegen beide gemeinsam wiederum sich darüber einig sind, den Sozialwissenschaftern haushoch überlegen zu sein. In ihrer eigenen Problemlösungskompetenz sind sie es wohl auch, nicht aber in ihrem Pro­blembewusstsein für die viel komplexeren sozialen und politischen Verhältnisse.

Die Politiker wiederum sind – wie die Öffentlichkeit insgesamt, die sie ja repräsentieren – beeindruckt vom Selbstbewusstsein der Natur- und Ingenieurwissenschafter. Sie fühlen, dass «richtig» und «falsch» in der Politik bei weitem nicht mit derselben Gewissheit zuzuordnen ist wie in den Wissenschaften. Das Gegenteil einer fachwissenschaftlich richtigen Aussage ist falsch; wie aber steht es mit dem Gegenteil der Politik, für die ein Abgeordneter eintritt? Schon ein latentes Gefühl für diese Schwäche bringt die Versuchung mit sich, eine politische Entscheidung ab und zu lieber auf die Wissenschaft zu stützen. Und wenn dann jemand kommt und sagt, um der politischen Kompetenz willen müsse man interdisziplinär nachdenken und sogar die Sozialwissenschaften beteiligen, entgegnen sie, das werde dann aber viel zu unübersichtlich, und halten es wie die Lorenzschen Hunde. Dies ist zwar falsch, aber es hat sozusagen Methode. Was müsste geschehen, um die reziprok gleich falschen Neigungen der Wissenschafter und der Politiker zu überspielen?

Die Antwort auf diese Frage ist eigentlich ganz einfach, klingt aber utopisch. Die Politiker nämlich sind der Öffentlichkeit verantwortlich und sind sehr sensibel dafür, wenn es zu einem Thema öffentliche Debatten gibt. Wenn sich also in der Öffentlichkeit ein Bewusstsein dafür bildete, dass viele vermeintlich technische Fragen in Wahrheit sehr politisch sind und nicht den sogenannten Experten allein überlassen werden dürften, weil es darum geht, wie wir in Zukunft leben möchten, dann würden die Politiker das auch nicht mehr tun. In der Energiedebatte war schon einmal ein solches Bewusstsein entstanden. In gentechnologischen Fragen könnte es entstehen, wenn die Öffentlichkeit sich darüber klar würde, wie sich das Leben verändern könnte, wenn die gentechnischen Möglichkeiten, zunächst in der Medizin, realisiert würden. In der Verkehrspolitik hätte ein solches politisches Bewusstsein entstehen können, wenn vorab darüber nachgedacht worden wäre, wie sich Stadt und Land verändern würden, wenn fast jeder Einwohner ein Auto hätte. Jeder hat ja nur sein eigenes Auto gewollt, aber hätten wir alle auch die Gesamtheit der vielen Autos gewollt?

Im deutschen Grundgesetz steht, die Parteien sollten zur politischen Willensbildung in der Öffentlichkeit beitragen – nicht: ihr diese Willensbildung abnehmen. Da nun hinsichtlich der politischen Bewertung technischer Innovationen ein so grosser Bedarf besteht, wäre es doch geradezu eine ideale Aufgabe für die Parteien – nach einem Vorschlag von Reinhard Ueberhorst –, im politischen Wettbewerb diese Debatten zu stimulieren.

Bisher will die Öffentlichkeit noch nicht wissen, dass technische Entscheidungen zu Energiesystemen, zur Biotechnologie in der Medizin oder zu Verkehrssystemen politischer sind – nämlich unser Leben stärker verändern – als fast alles, was in den Zeitungen für Politik gehalten wird. ­Warum will sie es nicht wissen? Weil dann die Entwicklung von Wissenschaft und Technik in der Öffentlichkeit politisch diskutiert werden müsste, und dazu sind die Leute im allgemeinen zu faul. Wenn «die Leute», also wir in dieser Gesellschaft, indes zu faul sind, um uns in den wichtigsten politischen Fragen ein Urteil zu bilden, haben wir die Demokratie nicht verdient.

Doch so weit möchte ich nicht gehen; denn es gibt ermutigende Ausnahmen, wie die Energiedebatte oder die öffentlichen Debatten vor Volksentscheiden in der Schweiz. Die aufklärerische und demokratische Maxime, in politischen Fragen jederzeit selbst zu denken und die Willensbildung nicht den sogenannten Experten zu überlassen, hat also wohl doch noch Chancen. Einfacher aber ist es, die Demokratie nicht zu haben.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!