(7) Nicht folkloristisch, sondern konnektionistisch!
Multikulturalisten wollen die Kulturen nebeneinander zum Blühen bringen. Interkulturalisten bemühen sich, sie miteinander ins Gespräch zu bringen.
Transkulturalisten hängen der Vision an, durch Verbindung und Durchdringung neue künstlerische Formen und Inhalte zu schaffen. Eine Empfehlung für die Festivals der Zukunft.
Das Jahr 2008 war von der Europäischen Union zum Jahr des Interkulturellen Dialogs erklärt worden. Nun werden im gängigen Sprachgebrauch «Interkulturalität» und «Transkulturalität» kaum unterschieden, sie gelten vielfach als synonym. Von daher sollte man erwarten, dass 2008 das Jahr transkultureller Impulse und transkultureller Festivals gewesen sei.
Tatsächlich hatte die Europäische Festival-Vereinigung die von der Europäischen Union ausgegebene Parole aufgegriffen und eine «Erklärung der Kunstfestivals zum Interkulturellen Dialog» veröffentlicht. Unter den Unterzeichnern fanden sich so prominente Festivals wie das Edinburgh International Festival, das Festival d’Avignon, die Berliner Festspiele oder die Wiener Festwochen. Was hat man sich dabei unter Interkulturalität beziehungsweise Transkulturalität vorgestellt?
Die Leitidee war die folgende. Es gibt viele unterschiedliche lokale Kulturtraditionen; heute leben infolge von Migrationsbewegungen Anhänger davon auch fernab von deren Ursprungsregionen; daher können Festivals, in denen anderswo beheimatete Kulturformen ein Forum für einen Auftritt erhalten, sowohl dem Selbstwertgefühl der Migranten wie der Kommunikation mit den an Ort ansässigen Bevölkerungsgruppen dienen; diese werden Kenntnis von den anderen Kulturtraditionen und Respekt vor ihnen gewinnen. Man hofft also auf eine integrierende Kraft der Festivals.
Nun ist diese schöne Idee allerdings nicht eine neue, dem Jahr 2008 entsprungene, sondern eine bereits seit den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts geläufige. In England hatte man damals in Regionen mit starker Einwanderung aus der Karibik Festivals organisiert, bei denen die Neuankömmlinge ihre Heimatkultur zelebrieren und dadurch zugleich Interesse und Respekt der lokalen community gewinnen konnten. Bekannte und sehr erfolgreiche Beispiele waren das West Indian Carnival Festival in Leeds oder der Notting Hill Carnival in London. Mittlerweile haben diese Protagonisten zahlreiche Gefolgschaften gefunden, in der Schweiz etwa in Form des Afro-Pfingsten Winterthur (seit rund 20 Jahren) und des Caliente Zürich (seit rund 15 Jahren); der Berliner Karneval der Kulturen (seit 1996) ist ebenfalls ein Kind dieser Idee.
Ursprünglich dienten die in den 60er Jahren begründeten Veranstaltungen tatsächlich der Integration. Teilnehmer waren Bevölkerungsgruppen (die Immigranten einerseits, die Stammpopulation anderseits), die auch im Alltag am gleichen Ort zusammenlebten – so konnte die Festivalerfahrung auf das alltägliche Zusammenleben ausstrahlen. Mittlerweile sind diese Veranstaltungen jedoch Attraktionen für von weither anreisende Touristen geworden – weshalb nur noch ein kurzzeitiger Showeffekt besteht, jedoch keine nachhaltige soziale Wirkung mehr. Die Veranstaltungen sind von integrativen zu bloss folkloristischen Unternehmungen mutiert. «Integration» spielt nur noch in der Werberhetorik gegenüber Geldgebern eine Rolle, doch diese fallen auf den faulen Zauber zunehmend weniger herein.
Eine andere Idee von Transkulturalität und speziell eines transkulturellen Theaters hat Peter Brook entwickelt. Er war überzeugt, dass zwischen den Angehörigen der an der Oberfläche so verschiedenen Kulturen auf einer tieferen Ebene grundlegende Gemeinsamkeiten bestehen. Brook sah die Aufgabe des Theaters darin, an diese Tiefendimension heranzukommen. Das Theater sollte seiner Vorstellung zufolge fähig werden, Menschen unabhängig von ihrer Sprache oder kulturellen Tradition zu ergreifen. Um diese Idee zu realisieren, gründete er 1971 das Centre international de recherche théâtrale in Paris und stellte eine Truppe zusammen, deren Mitglieder aus allen Teilen und Kulturen der Welt kamen. Insbesondere suchte er im Austausch mit theaterunerfahrenem Publikum, beispielsweise in Afrika, eine neue Theatersprache zu entwickeln, eine universale «Sprache der Zeichen», die tiefer reichen würde als die Wortsprache (die immer national geprägt ist). Entscheidend für die menschliche Tiefendimension sind eben nicht die Worte, sondern die Gesten, der körperliche, klangliche und mimische Ausdruck, der allen Menschen auf einer elementaren Ebene verständlich ist.
Bisher wurden zwei unterschiedliche Versionen einer transkulturellen Festivalpraxis vorgestellt: einerseits eine folkloristische Praxis, wo es um die Präsentation diverser lokaler Kulturtraditionen geht, und anderseits eine universalistische, die den gemeinsamen Kern aller Menschen in den Blick rücken will. Beide Konzepte mögen noch immer eine gewisse Berechtigung haben, doch ich möchte im folgenden auf eine dritte Möglichkeit hinweisen, die mir zeitgemäss und vielleicht auch zukunftsweisend zu sein scheint. Ich komme damit zu meinem Konzept von Transkulturalität.
Ich will dieses Konzept erläutern, indem ich von der Standardidee von Kultur ausgehe, wie sie der Konzeption folkloristischer Festivals noch immer zugrunde liegt. Man stellt sich die Kulturen wie Kugeln vor – jede soll von eigener Art, Farbe und Grösse sein. Das ist das Bild von Kultur, wie es gegen Ende des 18. Jahrhunderts insbesondere von Johann Gottfried Herder begründet worden war und in den nationalistischen Kulturauffassungen bis heute fortlebt. Jede Kultur soll einen ganz eigenen Charakter aufweisen, sie soll in sich weitgehend homogen und nach aussen abgegrenzt, heterogen gegenüber den anderen Kulturen sein. Herder hat die Implikationen dieses Kugelmodells von Kultur deutlich zum Ausdruck gebracht. Von den einzelnen Kulturen sagt er, dass sie «ihren Mittelpunkt der Glückseligkeit in sich» haben «wie jede Kugel ihren Schwerpunkt». Und im Blick auf das Aussenverhältnis erklärt er, dass die Kulturen einander – eben ob ihres Kugelcharakters – nicht wirklich begegnen, durchdringen oder austauschen, sondern nur «stossen» können.* (Dies ist übrigens die Geburtsstätte der Idee von einem clash of civilizations.)
Sowohl das Konzept der Multikulturalität als auch das der Interkulturalität basieren noch immer auf diesem Kugelmodell der Kulturen. Der Multikulturalitätsvorstellung zufolge sollen die Kulturen nebeneinander stehen und blühen – das ergibt den bunten Strauss mancher Festivals. Die Interkulturalisten hingegen bemühen sich, die Kulturen miteinander ins Gespräch zu bringen. Man stellt dann allerdings immer wieder fest, dass der interkulturelle Dialog nicht gelingt. Zu Unrecht aber wundert man sich über sein Scheitern. Konzeptionell ist nämlich völlig klar, dass Kulturen, die im Stil von Kugeln begriffen sind, unmöglich miteinander kommunizieren können. Die Verstehensformen, die jeweils zu diesen Kulturen gehören, sollen ja so unterschiedlich sein wie die sonstigen kulturellen Tätigkeiten auch, und von daher ist klar, dass eine Kultur eine andere sich immer nur nach ihrer eigenen Vorstellungsart zurechtmodeln, also letztlich nur missverstehen kann. Auf dieser Linie ist der interkulturelle Dialog ein endloses, weil hoffnungsloses Unterfangen. Es ist der Primärzug – das Verständnis der Kulturen im Stil von Kugeln –, der den Sekundärwunsch – ein gegenseitiges Verständnis der Kulturen – unmöglich macht.
Im Gegensatz dazu macht das Konzept der Transkulturalität die Vorstellung einer Kugelverfassung der Kulturen nicht mit, sondern weist darauf hin, dass jede Kultur in sich schon multipel ist, eine Reihe verschiedener Standards, Einflüsse und Wurzeln umfasst. Edward Said hat das 1996 so ausgedrückt: «Alle Kulturen sind hybrid; keine ist rein; keine ist identisch mit einem ‹reinen› Volk; keine besteht aus einem homogenen Gewebe.»**
Eine solche innere Vielfältigkeit der Kulturen war historisch immer schon die Regel, besteht aber heute, im Zeitalter der Globalisierung, in verstärktem Ausmass. Das Konzept der Transkulturalität betont also, dass die Verfassung heutiger Kulturen sich jenseits der alten Vorstellung der Kulturen als Kugeln befindet und dass sie die Grenzen dieser vermeintlichen Kugeln aufs deutlichste überschreitet. Heutige Kulturen sind nicht durch interne Homogenität und externe Heterogenität, sondern durch Verflechtungen, Übergänge, Vernetzungen und Gemeinsamkeiten gekennzeichnet.
Dass Transkulturalität heute auf der gesellschaftlichen Makroebene immer mehr vordringt, steht inzwischen wohl jedermann vor Augen: weltweit leben in der Mehrzahl der Länder auch Angehörige aller anderen Länder dieser Erde; immer mehr werden die gleichen Waren (wie exotisch sie einst auch gewesen sein mögen) allerorten verfügbar; während die westliche Medizin in asiatische Länder vordringt, greift man im Westen zunehmend zu Akupunktur, Quigong und Ayurveda; und Grundfragen der Orientierung, wie Menschenrechte, Feminismus und Ökologie, bestimmen die Agenda heute quer durch die einst für so verschieden erachteten Kulturen.
Transkulturalität dringt aber nicht nur auf der gesellschaftlichen Makroebene, sondern ebenso – und das ist mir besonders wichtig – auf der individuellen Mikroebene vor. Die Individuen sind heute in ihrer kulturellen Formation zunehmend durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen bestimmt, sind kulturelle Mischlinge. Die alltägliche Präsenz unterschiedlicher kultureller Muster (in den Strassen wie in den Medien) bewirkt, dass die Individuen bei ihrer kulturellen Identitätsbildung Elemente unterschiedlicher Herkunft aufgreifen und verbinden. Das gilt nicht etwa nur für Migranten, sondern zunehmend für jedermann. Die Alternativen zum Standard von einst liegen heute nicht mehr in der Ferne, sondern sind Teil des Standards geworden. Heutige Menschen sind zunehmend in sich transkulturell.
Was bedeutet dies alles nun für eine wirklich zeitgenössische kulturelle und künstlerische Praxis und für heutige kulturelle Festivals? Eine erste Aufgabe zeitgenössischer kultureller Produktionen sehe ich darin, die heutige Mischung und Durchdringung der Identität ausdrücklich und fassbar zu machen. Auch dafür gibt es historische Vorbilder. Ich nenne nur Peer Gynt, der mir eine geradezu paradigmatische Figur der Transkulturalität zu sein scheint. Als Peer Gynt seine eigene Identität erforscht, entdeckt er eine ganze Reihe von Personen in sich: einen Passagier, einen Goldgräber, einen Archäologen, einen Propheten, einen Bonvivant… Seiner inneren Pluralität entspricht, dass er auch äusserlich ein Wanderer zwischen unterschiedlichen Ländern und Kulturen ist: zwischen seiner norwegischen Heimat und Marokko, der Sahara und Ägypten, dem Atlantik und dem Mittelmeer und zahlreichen mythischen Orten. Peer Gynt ist meines Erachtens daher eine emblematische Figur. Er repräsentiert den Übergang vom alten Ideal der Person als Monade (kugelartig, monolithisch wie das alte Konzept der Kulturen) zur neuen Seinsweise des Nomaden, des Wanderers zwischen verschiedenen Welten und Kulturen (ein kleiner Buchstabentausch, und alles ist anders).
Meine Empfehlung geht dahin, kulturelle Festivals nicht mehr, der Denkweise des Kugelmodells folgend, als interkulturelle Pralinenpackungen zu konzipieren, sondern dort kulturellen Produktionen zum Auftritt zu verhelfen, für die charakteristisch ist, dass sie in sich Elemente aus unterschiedlichen kulturellen Quellen verbinden. Diese Elemente sollen dabei nicht einfach nebeneinander stehen, sondern sie sollen verwoben, verschmolzen, amalgamiert sein – was im einzelnen auf recht unterschiedliche Weise geschehen kann, etwa indem sie einander ergänzen oder umspielen, modifizieren oder bestreiten, verstärken oder transformieren. In jedem Fall sollte im Ergebnis ein neuartiges Ganzes entstehen.
Ich schlage für heutige und künftige Festivals also einen dritten Typus transkultureller Gestaltung vor, der nicht folkloristisch ist (wie viele der herkömmlichen Festivals) oder fundamentalistisch (im Sinne von Brook), sondern der konnektionistisch angelegt ist. Es geht um kulturelle Gebilde, die uns durch ihre Verbindung unterschiedlicher kultureller Muster vor Augen führen, wie heutige Gesellschaften de facto sind und wie ebenso die Identitätsstruktur der Individuen zunehmend verfasst ist. Transkulturalität, so mein Vorschlag, sollte nicht nur für die Gestalt der Gesellschaft und die Struktur der Individuen, sondern auch für die Gestalt der Werke charakteristisch sein.
Solche Werke würden nicht einfach Bekanntes (oder bislang bloss infolge medialer Nichtkenntnisnahme unbekannt Gebliebenes), sondern wirklich Ungesehenes und Unerhörtes – sie würden genuin Neues präsentieren, Dinge, von denen wir bislang nicht nur keine Kenntnis, sondern keinerlei Ahnung hatten. Adorno schrieb 1961, es sei «die Gestalt aller künstlerischen Utopie heute, Dinge zu machen, von denen wir nicht wissen, was sie sind».*** Diese Devise ist für intensive Kultur und grosse Kunst noch immer gültig. Der Modus aber, wie solche Dinge heute bevorzugt zu erreichen sind, scheint mir ein transkultureller zu sein. Strategien transkultureller Verbindung und Durchdringung erzeugen Werke und Erfahrungen, die uns Neuland betreten lassen. Dies ist meine Empfehlung für heutige Kulturproduktionen generell und für die zeitgenössischen Festivals der Kultur im speziellen.
* Johann Gottfried Herder: «Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit» (1774).
** Edward W. Said: «Kultur und Identität. Europas Selbstfindung aus der Einverleibung der Welt». In: Lettre International, 34, 1996.
*** Theodor W. Adorno: «Vers une musique informelle» (1961). In: «Gesammelte Schriften», Band 16, 1998.