(7) Konfuzianische Stadtrepubliken mit britischem Erbe
Der Aufstieg der beiden asiatischen Stadtrepubliken Singapur und Hongkong, von militärisch zerstörten Besatzungszonen zu regionalen und internationalen Handels- und Dienstleistungszentren, ist bemerkenswert. Verkehrslage, Rechtsstaatlichkeit und politische Kleinräumigkeit waren die wichtigsten Faktoren dieser urbanen Entwicklung.
Singapur und Hongkong sind im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts zu den erfolgreichsten Städten Asiens geworden und haben, ohne direkten Zugang zu einem Flächenstaat, ohne Schwerindustrie und ohne eigene Rohmaterialvorkommen, grossen Wohlstand für ihre Bürger geschaffen. Sicher, das Ethos beider Stadtrepubliken wird von der Lehre des Konfuzius geprägt. Ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Erfolg war jedoch die Fruchtbarmachung der verkehrsgeographischen Lage sowie das britische Erbe, insbesondere in Form von Rechtsstaatlichkeit und einer qualitativ hochstehenden Verwaltung.
Singapur und Hongkong sind, wenn nicht von der Geschichte, so doch von ihrem derzeitigen Status her, zwei sehr unterschiedliche Fälle. Singapur ist ein unabhängiger Staat, derweil Hongkong den Status einer administrativen Sonderzone im Staatsganzen der Volksrepublik China besitzt und über keine nationale Souveränität verfügt. Während Singapur 1965 mit dem Rauswurf aus dem Staatsverband der Malaysischen Föderation sozusagen in eine Zwangsunabhängigkeit entlassen wurde, hat Hongkong am 1. Juli 1997 die britische Kolonialherrschaft gegen die Unterstellung unter die Pekinger Obrigkeit getauscht.
Die 1998 erschienene Autobiographie «The Singapore Story» des langjährigen und noch heute als elder statesman dominanten Singapurer Regierungschefs Lee Kuan Yew mag nicht das objektivste Dokument für die Geschichte des Stadtstaats im Herzen Südostasiens sein. Sie ist aber ein Buch, das wichtige Lektionen und nützliche Einblicke in das vor allem bei der Staatsgründung turbulente Geschehen liefert. Singapurs Existenz als unabhängiger Stadtstaat begann unter schlechtesten Voraussetzungen. Der Hinauswurf aus der Malaysischen Föderation beraubte die Stadt ihres natürlichen Hinterlands. Gleichzeitig begannen die Briten, ihre Flottenpräsenz östlich von Suez drastisch abzubauen. So verlor Singapur als Basis und Zwischenstation der britischen Navy eine seiner wichtigsten Einnahmenquellen. Der Weg in die aufgezwungene Unabhängigkeit brachte schwerwiegende soziale und politische Unruhen mit sich. Zum einen litt Singapur unter zuweilen blutigen Rivalitäten zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen, zum andern versuchten «fünfte Kolonnen» von Mao, die kapitalistische Festung Singapur sturmreif zu schiessen.
In dieser Situation blieb Singapur keine an- dere Wahl, als vollumfänglich auf die einzige Ressource zu setzen, die es noch besass: seine Urbanität. Lee Kuan Yew mag mit seinem autoritären Führungsstil einige Fehler begangen haben; doch seine Erkenntnis, dass Singapurs Zukunft in seiner Funktion als regionales und gar kontinentales Dienstleistungs- und Handelszentrum liege, war richtig. Richtig war auch, dass der in England und im englischen Bildungssystem herangewachsene Lee wusste, dass gerade für den Dienstleistungsbereich die politische und soziale Stabilität eine zentrale Voraussetzung ist – eine Erkenntnis, der übrigens auch die Schweizer Eidgenossenschaft bei der Entwicklung ihres modernen politischen Systems Rechnung getragen hat.
Im Fall Hongkongs verliefen die Dinge nicht so dramatisch wie in Singapur. Dennoch, auch die Weltstadt am Perlflussdelta hatte im 20. Jahrhundert ihre Bewährungsproben zu bestehen. Die Japaner hatten im zweiten Weltkrieg sowohl Singapur wie auch Hongkong besetzt und grosse Verluste an Menschen, Infrastruktur und Vermögen verursacht. Wenige hätten Anfang der 60er Jahre der ziemlich heruntergekommenen Stadt den Wohlstand prophezeit, den sie zu Beginn des 21. Jahrhunderts haben sollte. Doch die Stadt fand wieder zu alter Blüte zurück; sie profitierte davon, dass aus dem benachbarten chinesischen Festland, das unter dem Steinzeitkommunismus Mao Zedongs zu leiden hatte, viele fähige, unternehmerisch begabte Menschen nach Hongkong flohen. Einer der erfolgreichsten Tycoons, Li Ka-shing, gehört als Schanghaier Flüchtling in diese Kategorie. In den 60er Jahren begann Hongkong mit der Produktion von Billiggütern wie Plastikblumen und Spielzeug. Die Wirtschaftsreformen Deng Xiaopings ermöglichten es China Ende der 70er Jahre, wirtschaftliche Sonderzonen für die Exportproduktion einzurichten. Je mehr sich die chinesische Wirtschaft modernisierte und gegenüber dem Ausland öffnete, desto verlockender wurde es für Hongkonger Unternehmen, ihre Produktionsstätten auf das nahe Festland, in die Provinz Guangdong, zu verlegen. Innert kürzester Zeit stieg dabei ein gottverlassenes Nest namens Shenzhen zur modernsten Millionenstadt im Reich der Mitte auf.
Bei den tiefgreifenden strukturellen Verwerfungen, die die Verlagerung von Produktionsstätten nach China mit sich brachte, hätten die Hongkonger ihr Schicksal beklagen und zu allerlei Staatsbeihilfen Zuflucht nehmen können. Für ersteres hatten sie keine Zeit, und für letzteres gab es bei den britischen Kolonialherren kein Gehör. Also blieb nur ein Befreiungsschlag übrig. Hongkong erkannte seine Chance als regionales Handels-, Finanz- und Dienstleistungszentrum und konzentrierte fortan seine Anstrengung darauf, die Möglichkeiten in Realität umzusetzen. 1997/98, gerade als Hongkong mit der Rückkehr zu China eine präzedenzlose Bewährungsprobe zu bestehen hatte, wurde Südostasien von einer schweren Währungs- und Finanzkrise geschüttelt. Auch Hongkong litt unter deren Auswirkungen.
Wollte man der Medienberichterstattung glauben, so hätte Hongkong schon längst in der Misere und Bedeutungslosigkeit versinken müssen. Alle paar Jahre und nach jeder volkswirtschaftlichen Zäsur haben die internationalen Meinungsmacher der Stadt eine düstere Zukunft prognostiziert. Noch jedes Mal hat indessen Hongkong den professionellen Schwarzsehern ein Schnippchen geschlagen. Dies gilt auch für die Zeit nach dem Transfer. Hongkongs Überleben ist dem weitsichtigen Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping zu verdanken. Dieser hatte, in einem besonders innovativen Akt der sprichwörtlichen chinesischen Pragmatik, für die Hafenstadt die Formel «ein Land, zwei Systeme» entwickelt. Natürlich gab es grosse Nervosität, als das Datum der Rückkehr nach China unweigerlich näherrückte. Nicht wenige Hongkonger beschafften sich zur Sicherheit einen kanadischen oder australischen Pass. Mit der Formel «ein Land, zwei Systeme» sollte sichergestellt werden, dass die Stadt auch nach der Rückkehr unter chinesische Souveränität Identität und Institutionen bewahren konnte. Inzwischen liegt der Tag der Übergabe bereits neun Jahre zurück, und es kann in einer ersten Bilanz anerkannt werden, dass Peking sich an die Abmachung gehalten hat. Im Unterschied zum Festland, verfügt Hongkong über einen funktionierenden Rechtsstaat und über alle Bürger- und Menschenrechte, die man von einer westlichen Demokratie erwartet.
War erst einmal die Besorgnis über die Zukunft im Staatsverband der Volksrepublik verflogen, konnten sich die Hongkonger aufmachen, darüber nachzudenken, welche Standortvorteile diese neue Situation ihnen bieten würde. Rasch erkannte man, dass der administrativen Sonderregion das Privileg eines eigentlichen Offshore-Zentrums auf festlandchinesischer Erde zukam. Ursprünglich hatte man befürchtet, dass das sehr dynamische und über ein wirtschaftlich überaus gewichtiges Hinterland verfügende Schanghai Hongkong bald den Rang ablaufen würde. Dies ist indessen nicht eingetreten, vor allem deshalb, weil Schanghai im Gegensatz zu Hongkong vollständig den festlandchinesischen Rechts- und Regulationsvorschriften unterworfen ist. Einmal mehr konnten somit die Hongkonger nach den schweren Herausforderungen der sogenannten Asienkrise den Boden unter den Füssen wiederfinden. Heute floriert die Stadt gerade wegen des chinesischen Hinterlands. Aus China kommen immer mehr Touristen, wohlhabende Chinesen kaufen in Hongkong ihren Zweitwohnsitz und führen in Hongkong ihre Finanztransaktionen durch.
Jenseits dieser rein opportunistischen Standortvorteile, deren sich die beiden Stadtrepubliken Hongkong und Singapur geschickt bedient haben, gibt es indessen auch einige grundsätzliche Lektionen zum Thema Kleinstaat und Bürgerverantwortung. Historisch ist Asien ein Kontinent, der von mächtigen Grossreichen dominiert wurde und auch heute wieder dominiert wird. Diese riesigen Gebilde, im Vergleich zu denen selbst das Imperium Romanum bescheidene Dimensionen einnimmt, haben Kulturen unvergleichlicher Reichhaltigkeit geschaffen. Anderseits ist in diesen Riesenreichen das Streben nach Kleinstaaten und Stadtrepubliken marginalisiert worden, wie es den deutschen und italienischen Sprachraum nachhaltig geprägt hat.
Heute kann Asien der westlichen Welt mit Singapur und Hongkong zwei Stadtrepubliken präsentieren, deren wirtschaftliche Erfolge ihresgleichen suchen. Wie erwähnt, vermag die politische Konstitution weder Singapurs noch Hongkongs den Anforderungen einer modernen Demokratie des 21. Jahrhunderts gerecht zu werden. Hier gibt es in der Tat noch viel Raum für Verbesserungen, wobei der Durchbruch im Falle Singapurs wohl eine Frage des Generationenwechsels und im Fall Hongkongs eine Frage der politischen Entwicklung in Peking ist. Dessen ungeachtet kann gelten, dass Hongkong und Singapur das doppelte Fundament einer modernen zivilisierten Gesellschaft besitzen, das sie für viele Asiaten zu einem nachahmenswerten Vorbild werden lässt. Beide Stadtrepubliken sind Rechtsstaaten und beide Stadtrepubliken haben eine lebendige Bürgergesellschaft.
Es mag ein trivialer – aber dennoch aufschlussreicher – Sachverhalt sein: Singapur und Hongkong gehören, von Japan abgesehen, zu den wenigen asiatischen Millionenstädten, in denen es nicht nur keine No-Go-Aereas gibt, sondern in denen auch ein sehr gut ausgebautes öffentliches Transportsystem und ein umfassendes Netz von Trottoirs besteht. In beiden Stadtrepubliken ist nicht nur die Rechtsstaatlichkeit, sondern auch die Bürgergesellschaft, das Engagement des einzelnen für die weitere Gesellschaft, ein unzweideutiges Erbe der Briten. Zwar ist in Hongkong und Singapur, wie in allen asiatischen Städten, mit dem architektonischen Erbe rücksichtslos umgegangen worden; dennoch gibt es eine Reihe gesellschaftlicher Initiativen, die von nichtgouvernementalen Aktionen bis zum privaten Einsatz für die Umwelt reichen, die in der allgemein auf den Familienverband ausgerichteten chinesischen Welt sonst kaum anzutreffen sind.
Querverweise auf die Lebensqualität in Hongkong oder Singapur lösen in grösseren Ländern immer wieder den Vorwurf aus, dass es nicht angehe, diese territorialen und demographischen Winzlinge mit weitläufigeren und volkreicheren Nationen zu vergleichen. Das Beispiel Hongkongs oder Singapurs sei deshalb für einen Milliardenstaat wie China oder Indien kein Bezugspunkt. Es trifft dies in den meisten Belangen unzweifelhaft zu; doch bei einer sorgsamen und vor allem auf konkrete Sachfragen gerichteten Auswertung des Vorbildwerts der beiden Stadtrepubliken Singapur und Hongkong kann es durchaus möglich sein, dass man zu nützlichen Erkenntnissen gelangt. Wie bereits erwähnt, haben die politischen Systeme der beiden Stadtrepubliken ihren Ursprung in Entwicklungen sui generis und sind deshalb kaum übertragbar. Im Falle Indiens mit seiner funktionierenden Demokratie ist jedenfalls die halbwertige Demokratie Hongkongs oder Singapurs von vornherein bedeutungslos. Anderseits können die politischen Erfahrungen in Hongkong und Singapur durchaus für die Volksrepublik China von Nutzen sein, wo die ersten, schwierigen Schritte in Richtung Rechtsstaatlichkeit und Demokratie erst noch vollzogen werden müssen.
Dennoch, Hongkong und Singapur bieten wichtiges Lehrmaterial. Da ist zunächst einmal der Vorteil der Kleinräumigkeit politischer Einheiten. Mumbai, das einen Löwenanteil zum indischen Bruttoinlandprodukt und zum indischen Steueraufkommen leistet, muss mit Neid auf Singapur und Hongkong blicken, wo das Steueraufkommen für den eigenen Bedarf der Bürger einbehalten wird. Man braucht nur das immense Qualitätsgefälle zu berücksichtigen, das bei der öffentlichen Infrastruktur besteht, um zu erkennen, wie verhängnisvoll beispielsweise der fiskalische Zentralismus ist. Doch jenseits des Geldes gibt es einen generellen Standortvorteil, den Singapur und Hongkong als kleinräumige politische Einheiten geniessen: der Vollzugszwang, dem die staatlichen Instanzen verpflichtet sind. Natürlich können sich Hongkong und Singapur institutionell und bezüglich politischer Mitsprache der Bevölkerung nicht mit den demokratischen Industriestaaten messen. Trotzdem muss jeder, der objektiv die Lebensbedingungen in Singapur und Hongkong mit den Lebensbedingungen in Asien (exklusive Japan) oder auch mit den Lebensbedingungen in Westeuropa oder in den USA vergleicht, zum Schluss kommen, dass die beiden asiatischen Stadtrepubliken besser wegkommen. Die Behörden scheinen in Hongkong und Singapur den Puls ihrer Bürger besser zu fühlen, als dies anderswo der Fall ist – und dies ist letztlich ja kein kleiner Standortvorteil!