(7) Kleinheit als Wettbewerbsvorteil
Die Schweiz gehört als Wirtschaftsmacht ins Mittelfeld und erreicht bezüglich Wirtschaftsfreiheit Spitzenränge. Kleinheit ist im internationalen Wettbewerb kein Nachteil mehr, sondern ein Vorteil – dann jedenfalls, wenn sie als dauernde Herausforderung zum Lernen genutzt wird.
Ist die Schweiz ein Mythos, ist sie eine Idee, oder ist sie ganz einfach ein Experiment? Der unkonventionelle Pädagoge und Mythenforscher Carl Englert-Faye hat 1940 den Weg der Schweiz unter dem Titel «Vom Mythos zur Idee» beschrieben – natürlich zeitgebunden, aber wegen der Reichhaltigkeit des Quellenmaterials noch immer lesenswert. Der Historiker Herbert Lüthy hat später in seinem Essay «Tugend und Menschenrechte» auf den subtilen Zusammenhang zwischen Idee und Experiment hingewiesen: «Kein Experiment kann eine Idee widerlegen. Doch wenigstens für die unmittelbar Mit- und Nachlebenden geht auch eine Idee nicht unbeschädigt aus einem Experiment hervor.»
Der Kleinstaat Schweiz, so lautet meine These, ist kein Modell, er ist ein relativ erfolgreiches historisches Experiment mit offenem Ausgang. Wie beschädigt bzw. geläutert die Idee aus dem Experiment hervorgeht und ob sich daraus überhaupt eine konsistente Idee herauskristallisiert, bleibt eine offene Frage. Die Antwort fällt uns nicht in den Schoss. Wenn sie positiv ausfallen soll, müssen wir dafür kämpfen. Es geht nicht um die Wahrung eines gern als Sonderfall bezeichneten Besitzstandes, sondern um das Bemühen, dessen Wurzeln zu verstehen und unter veränderten Umständen weiterzuentwickeln. Davon ist in der Schweiz gegenwärtig wenig zu spüren. Unbelehrbare Anpasser und Widerständler blockieren sich gegenseitig.
Fest steht, dass die wohl wichtigste Trumpfkarte der Schweiz ihre auf der relativen Kleinheit basierende Experimentier- und Lernbereitschaft ist. Lernen ist ohne Vergleich zwischen unterschiedlichen Lösungsmustern nicht erfolgreich; darum ist gerade der Kleine auf eine interne Vielfalt unterschiedlicher noch kleinräumigerer Experimente angewiesen, deren Wettbewerb man nicht harmonisieren, sondern vermehrt analysieren und auswerten sollte. Non-zentraler Wettbewerb ermöglicht und erzwingt die Bereitschaft zu permanentem Lernen. Diese Bereitschaft beruht wohl zur Hauptsache auf der bitteren Erfahrung, dass sich der Kleine auf die Dauer nur halten kann, wenn er weder verdummt noch verfettet. Der aus Prag stammende Politikwissenschafter Karl W. Deutsch, übrigens ein Bewunderer der Schweiz, hat politische Macht als einen Zustand beschrieben, der es den Mächtigen erlaubt, nicht lernen zu müssen. Kleine können sich das nicht leisten und stehen dauernd unter dem Druck, sich lernend zu behaupten und an veränderte Strukturen anzupassen, ohne sich dabei selbst aufzugeben.
Die Geburt der Schweiz erfolgte eher aus dem Geist der Vielfalt autonomer Gemeinden als aus dem Geist der Gleichberechtigung und der Demokratie im Sinn des Mehrheitsprinzips und der Partizipation. Ihr Erfolgsrezept beruht auf einem nach innen und aussen offenen Dauer-experiment um die politisch jeweils tauglichste Mischung von Freiheit, Selbstbestimmung und Selbstbeschränkung.
Das Lob der Kleinheit gehört zu den Konstanten der eidgenössischen Selbstdarstellung. Es entsteht dabei gelegentlich der Eindruck, dass man damit gegen aussen dokumentieren wolle, wir seien besser als andere, weil wir dank unseren Exporten und unserer Attraktivität als Finanzplatz und Tourismusdestination trotz dieser Kleinheit, wenn nicht militärisch, so doch ökonomisch, in der Liga mittelgrosser Länder mitspielten. Die Schweiz kompensiert aus dieser Sicht fehlende politische Macht mit Wirtschaftsmacht und schafft es in vielen einschlägigen internationalen Ranglisten meist unter die ersten 10. Wenn man diese Ranglisten analysiert, fällt allerdings auf, dass vermutlich heute nicht mehr der Erfolg der Kleinen begründungspflichtig ist, sondern die Tatsache, dass es auch Grossstaaten und insbesondere der Weltmacht USA gelingt, mit den erfolgreichen Kleinen wie Singapur, Hongkong und Neuseeland mitzuhalten. Im Index, der die globale Wettbewerbsfähigkeit misst («Global Competitiveness Report»), belegt die Schweiz Rang 1, im Index «Economic Freedom oft the World» Rang 4. Es ist an der Zeit, dass wir in der Schweiz von der Argumentation wegkommen, wir hätten trotz unserer relativen Kleinheit Erfolg, und alles daran setzen, die offensichtlichen Vorzüge der Kleinheit nach aussen und innen ins Spiel zu bringen. Wir müssen nicht trotz, sondern wegen unserer relativen Kleinheit den Erfolg suchen.
Kleinheit ist allerdings nur in Kombination mit möglichst grosser Eigenständigkeit vorteilhaft. Wer als Kleiner bei Grossen andockt, verliert ausgerechnet jene Beweglichkeit und jenes Anderssein, das ihm erlaubt, sich zu profilieren. Vor allem Länder, die gleichzeitig relativ klein und relativ reich sind, laufen in Gemeinschaften, die nach Mehrheitsprinzip entscheiden, ständig Gefahr, durch für sie ungünstige Koalitionen überstimmt zu werden. Dies gilt vor allem dann, wenn es um grossräumige zwangsweise Umverteilung geht und um die Definition dessen, was bei einer begehrlichen Mehrheit jeweils als «solidarisch» gilt.
Seit Jean-Jacques Rousseau wird die Kleinheit deshalb gelobt, weil sie ein Maximum an demokratischer Mitbestimmung erlaubt. Der aus heutiger Sicht entscheidendere Vorzug der Kleinheit ist aber nicht die politische Bürgerbeteiligung; es ist vielmehr die Tatsache, dass im kleinen Rahmen das Wachstum einer immer mächtiger, teurer und schwerfälliger werdenden zentralen Grossbürokratie begrenzt werden kann. Kleine haben keine bessere Politik, sie haben weniger Machtpolitik. Sie sind lernfähiger, nicht weil sie klüger oder fleissiger wären, sondern weil sie weniger Macht haben und mehr darauf angewiesen sind, sich permanent optimal an Veränderungen anzupassen. Diese Anpassung wird nicht primär von den politischen Akteuren erbracht, die sich in der Regel besser aufs Bremsen verstehen, sondern durch möglichst staatsunabhängige, aber global vernetzte Akteure der Wirtschaft.
Zentralisten und Etatisten aller Parteien diagnostizieren heute eine Überforderung kleinräumiger politischer Strukturen. Sie wollen die Probleme lösen, indem sie die Flucht in den grösseren politischen Verband propagieren. Die Überforderung entsteht aber durch ein häufig nicht nur unnötiges, sondern geradezu schädliches Wachstum bei den Staatsaufgaben und Staatsausgaben. Diese Entwicklung wird als unausweichliches «natürliches zivilisatorisches Phänomen» hingestellt und nicht als Grundproblem, das durch einen geordneten Rückzug zu lösen wäre. Eigentlich sollte man nicht erstaunt sein, dass die Politik ihre Probleme nicht durch «weniger Staat und weniger Politik» lösen will, sondern durch permanenten Ausbau und zusätzliche Hierarchisierung ihrer Strukturen. Auch Kleinstaaten sind vor diesem Teufelskreis nicht gefeit, aber sie kommen schneller an eine Grenze, an der die Flucht in den grösseren Verband selbst zum politischen Thema wird und sich – vor allem bei der Kosten-Nutzen-Frage – einer vergleichenden Kritik stellen muss.
Für die Organisation eines Staates gibt es keine wissenschaftlich definierbare «beste Lösung». Auch hier gibt es nur den Informationsaustausch aufgrund verschiedener historischer Erfahrungen. Der «richtige Weg» ist in einem Wettbewerb der Ideen, Modelle und Vorschläge immer wieder neu zu ermitteln. Entscheidend ist dabei die Bereitschaft zum permanenten Lernen auf Gegenseitigkeit, zum Kopieren des Erfolgs und zum Vermeiden des Misserfolgs. Dieses Lernen ist nur möglich, wenn die Vielfalt der Experimente nicht durch eine allwissende Zentrale zur Einfalt gemacht wird und wenn man sie nicht als Relikt krampfhaft konserviert, sondern vermehrt als Chance für vielfältige zukunftsträchtige Problemlösungsverfahren nutzt. Eine entscheidende Voraussetzung erfolgreichen gemeinsamen Experimentierens ist jene Kleinheit, die ihrerseits wieder auf noch kleineren Einheiten beruht, die nach dem Subsidiaritätsprinzip vernetzt sind.
Eine friedliche Bürgergesellschaft wäre dadurch charakterisiert, dass sie mit wenigen öffentlichen Ordnungsvorschriften, technischen und sozialpolitischen Infrastrukturen auskommt und ihre Konflikte unter den Betroffenen und Beteiligten privatautonom lösen lässt. Der Kampf um die regionale und kommunale Autonomie ist identisch mit dem Kampf gegen politische Strukturen, deren Grösse statt auf einen friedlichen ökonomisch-zivilisatorischen Wettbewerb immer noch auf Kriegserfolg sowie äussere und innere Machterhaltung abgestimmt ist. Zentralisierte Macht verleitet auf allen Stufen dazu, das vielfältige Lernen der Kleinen im Wettbewerb durch den einfältigen Zwang der Grossen zur Vereinheitlichung zu ersetzen.