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(7) Identitätssuche und Antisemitismus

Wenn eine Nation als ethnische Abstammungsgesellschaft verstanden wird, ist damit immer auch die Ausgrenzung des Anderen verbunden. Die Autorin argumentiert, dass das Selbstverständnis eines Teils der ungarischen Gesellschaft als «ethnisch homogenes Magyarentum» Antisemitismus fördert.

Auf die Frage, was Antisemitismus bedeute, haben viele eine einfache Antwort parat: Judenfeindlichkeit. Liest man jedoch Definitionen wie, Antisemitismus sei ein «kultureller Code» (Shulamit Volkov 2000), eine «Weltanschauung» (Klaus Holz 2001) oder sogar «neuzeitliche irdische Metaphysik» (Endre Kiss 2004) so wird deutlich, dass es nicht einfach ist, dieses Phänomen zu fassen. Obwohl der Begriff «Antisemitismus», als eine gegen Ende des 19. Jahrhunderts erfundene bewusste Selbstbezeichnung, nicht unproblematisch ist, hat sich in den letzten Jahren in der Forschung ein Konsens um seinen Gebrauch herausgebildet. Danach können die Ansätze, in denen er geistig-strukturell erkennbar ist, nur dann aufgedeckt werden, wenn man ihn als erweiterten anthropologischen Begriff interpretiert. Was heisst das genau?

Die anthropologische Verschiebung des Antijudaismus zum Antisemitismus im Zuge der tiefgreifenden Säkularisierung der Aufklärung sowie die Bedeutung Herders und die Vorstellung von Volk und Volkscharakter führten dazu, dass Juden nicht mehr wegen ihrer Religion, mit Hilfe der Theologie, sondern wegen ihres vermeintlich anderen Volkscharakters, mit Hilfe der Anthropologie, abgelehnt wurden (Hermann von der Dunk 1999). Gleichzeitig verselbständigten sich die jahrhundertealten, auf eine bestimmte, identifizierbare Gruppe zielenden negativen Stereotype und konnten nunmehr auch auf Menschen oder Gruppen angewandt werden, die mit der jüdischen Religion nichts gemein hatten. Auch in Ungarn richtet sich der Antisemitismus nicht nur gegen Juden oder vermeintliche Juden, sondern gegen all diejenigen, die im Gegensatz zum Blut- und Bodenmythos den Kosmopolitismus, die Urbanität und die Intellektualität verkörpern.

Eine hervorragende Erklärung für diesen, im ersten Moment vielleicht undurchsichtigen Zusammenhang lieferte der deutsche Dichter Friedrich Lienhard bereits 1892/93, als er schrieb, der Antisemitismus sei weder eine soziale, noch eine moralische oder gar eine religiöse Frage. Der Antisemitismus sei «überhaupt keine Frage für sich allein», sondern vielmehr «ein negativer Theil an einem positiven Programm. Und dieses positive Programm heisst: Erneuerung der deutschen Cultur in deutschem Geiste und aus unserer deutschen Natur heraus![…] Deutsch sein nach Blut und Geist und, daraus herauswachsend, auch in Politik und Cultur, Gesinnung und That – das ist der wahre Antisemitismus» (zitiert in Uwe Puschner 2001).

Folgt man dem Zitat und sucht man nach sogenannten ethnischen (Blut und Geist) und kulturellen (Cultur und Gesinnung) Kategorien der Zeit, die in die «That» umgesetzt werden sollten, ist ziemlich leicht festzustellen, dass das positive Programm, dessen Kehrseite der Antisemitismus ist, in Ungarn (wie in Deutschland) die völkische Bewegung um die Wende des 19. zum 20. Jahrhundert war, deren Wurzeln bis zu Herder und der deutschen Romantik zurückreichen. «In unserer Region waren es die Intelligenz und der patriotische Adel, die die Nationswerdung vorantrieben. In ihrem Bewusstsein folgten sie nicht dem französischen Muster, sondern der ethno-sprachlichen Konzeption der Nation. In dieser Auffassung versteht man unter dem Begriff ‹Volk› nicht die Schichten, die sich auf der gesellschaftlichen Standesleiter unterhalb des Adels und des Bürgertums befanden, sondern die auf eine archaisch anmutende Gemeinschaft zurückreichende ethnische Identität, mit Hilfe derer es später, um die Jahrhundertwende herum, als Rasse verstanden werden konnte. Zusammen mit dem Sozialdarwinismus, der konservativen Sozialreform und dem aggressiven Nationalismus war dieser völkische Nationsgedanke und diese völkische Organisations-praxis die Brutstätte des Rassismus, dessen diskriminierende Rechtspraxis und Antisemitismus im zweiten Drittel unseres Jahrhunderts in Deutschland, in Österreich, in Ungarn, in Rumänien und eigentlich in der ganzen Region eine derart brutale kulturelle Zerstörung und den Holocaust verursachte» (Péter Hanák 1993).

Typisch für die gegenwärtige Vergangenheitsverdrängung in Ungarn ist die Wortwahl, mit der bis zum heutigen Tag die völkischen Intellektuellen der Zwischenkriegszeit bezeichnet werden. Man nennt sie, irreführend und ihre Gefährlichkeit bagatellisierend, zumeist «volkstümlerisch», «volkstümlich» oder «populistisch».

Wie die deutsche, so war auch die ungarische Bewegung ethnonationalistisch, sie bestimmte also die Identität des Landes als ethnisch homogenes Magyarentum, die Zugehörigkeit zur Nation aufgrund des Blutes und der Abstammung. Dies wurde begleitet von einer aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts stammenden Ablehnung des Westens, des Liberalismus und des Kapitalismus. Doch die Bestimmung einer Nation als ethnischer Abstammungsgesellschaft führt immer zu Exklusion, also zur Ausgrenzung, was sich auch in Ungarn als Antisemitismus niederschlug. Typisch war auch die paternalistische, autoritäre Kulturauffassung, die sich auf die politische Kultur, auf soziale Werte und auf die Moral bezog. All diese Kategorien verstärkten das ethnische Identitätsbewusstsein. Im Unterschied zur deutschen Bewegung zeigte jedoch die ungarische nach den 20er Jahren eine ausgeprägte soziale Empathie im Hinblick auf das Elend der bäuerlichen Schicht (Péter Hanák 1993).

Durch die universalistischen Ideale des Realsozialismus konnte das völkische Denken nicht zurückgedrängt werden. Vielmehr kehrte es nach den wenigen nicht-nationalen Jahren der Nachkriegsperiode wieder. Nachdem ab 1951 die kommunistische Parteiführung aus manipulativen Gründen die der «nationalen Frage» seit Jahrzehnten verbundene und angesehene Intelligenz in ihr totalitäres System einbezog, wurde die Macht jener fortan durch diese legitimiert. Diese Tendenz wurde nach Stalins Tod – bis auf die Jahre um 1956 – auch von der sowjetischen Führung unterstützt, so dass daraus mit der Zeit ein Sozialismus mit «nationalem Antlitz» wurde (Éva Standeisky 2003). «Die traditionelle kommunistische Politik […] hatte über Jahrzehnte eine viel stärkere Affinität zu den Völkischen, als zu den Liberalen, Sozialdemokraten oder zu den radikalen Vertretern der Selbstverwaltung, den Reform-Kommunisten» (Péter Agárdi 1993).

Durch das Auftreten westeuropäischer Kapitalgesellschaften sofort nach der Wende 1989/ 90 wurde die Gesellschaft quasi über Nacht mit dem Prozess konfrontiert, den man allgemein «Globalisierung», «Westeuropäisierung» oder «Amerikanisierung» nennt. Dieser Prozess verstärkte die ethnisierenden Tendenzen in der Gesellschaft, und das völkische Denken erlebte eine neue Blüte. Nach dem Soziologen Detlef Claussen (2000) war die Auflösung des «real existierenden Sozialismus» geradezu eine ethnonationalistische, was auch in Ungarn dazu führt, dass hinter vermeintlichen sozialen und politischen Konflikten in Nationalismus verkleidete ethnische Kategorien versteckt sind. Die Gefährlichkeit des Ethnonationalismus liegt auch heute darin, dass er seine Legitimation aus imaginierten und erfundenen Traditionen der Geschichte «zusammenraubt» (Michael Werz 2000), gleichwie eine säkularisierte Religion eine ethnisch-kulturelle Homogenität beschwört und dadurch die Welt in gut und schlecht, in eigen und fremd unterteilt. In der gegenwärtigen völkischen Bewegung Ungarns fehlt die soziale Komponente. Aber auch heute sind NGOs, also ausserparlamentarische, sogenannte Magyarentums-Organisationen, ein Teil der angesehenen nationalkonservativen Intelligenz und ist das öffentlich-rechtliche Kossuth Rádió dabei, in einer ständigen Mobilisierungskampagne für das «Erwecken des Bewusstseins für das Magyarentum» (Miklós Partrubány 2005) zu missionieren. Gleichzeitig wird vor «magyarenfeindlichen Kräften» gewarnt, die hemmungslos daran arbeiteten, die Gesellschaft zu atomisieren. So wandte sich der «Ungarische Geistige Schutzverein» im August 2005 in einem Aufruf an die Nation und prophezeite deren apokalyptischen Untergang, weil «die Gruppen, die die Garantie ihres eigenen […] Vorankommens in der moralischen und materiellen Zerstörung sehen, unendlich penetrant geworden» seien. Um ihre Ziele zu erreichen, brauchten diese «eine drogen-, alkohol- und medienabhängige, zur gleichen Zeit aber eine bis zum Umfallen schuftende, in ihren natürlichen Selbstschutzmechanismen gestörte, kleingläubige, ungebildete, […] und unterwürfige Nation.» Der Schutzverein müsse deshalb Stellung beziehen und feststellen, dass all diejenigen, die als Ma-gyaren in ihrem eigenen Land leben wollen, «eine positive Diskriminierung benötigen» (Magyar Szellemi Védegylet 2005). Vor wem hier gewarnt wird, ist in Ungarn jedem geläufig: es ist eine Minderheit, die die Mehrheit im eigenen Land (vermeintlich) unterdrückt.

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