(7) …einfach und klassisch?
Modernisieren, kürzen, verdichten. Wird nach so einer Behandlung der klassische Text zum leicht verdaulichen Text? Die «…einfach klassisch»-Reihe hat es versucht – und ist gescheitert.
«Klassikerlesen» ist bei Schülern selten beliebt. Woran liegt das? Der Cornelsen-Verlag gibt die Antwort: am Lesefrust, den die Texte in ihrer überlieferten Form erzeugen müssen. Denn schliesslich seien die Texte nicht für Schüler von heute, sondern für eine gebildete Oberschicht von damals geschrieben – in einem Deutsch, das heute immer weniger direkt verständlich sei. Diesem Hinweis auf den grösser werdenden Abstand zwischen der «Sprache Goethes» und der Sprachwelt eines heutigen Schülers ist sicher nicht zu widersprechen. Der Cornelsen-Verlag hat daraus den Schluss gezogen, dass es nicht mehr ausreicht, die teilweise schwer- oder gar unverständlich gewordenen Texte wie bisher nur in der Rechtschreibung und Interpunktion an die heute gültigen Regeln anzupassen oder gewisse Passagen zu kürzen. Vielmehr wird in den Schullektüren des Verlages mit dem Reihentitel «…einfach klassisch» auch «Wortschatz und Satzbau behutsam dem modernen Deutsch angepasst» (hintere Umschlagseite), um den Schülern so einen leichteren Zugang zu den Texten zu ermöglichen.
Die ersten fünf Texte, die auf diese neue Art gekürzt und bearbeitet wurden, sind Johann Wolfgang Goethes «Götz von Berlichingen», Friedrich Schillers «Wilhelm Tell», Annette von Droste-Hülshoffs «Die Judenbuche», Gottfried Kellers «Kleider machen Leute» und Theodor Storms «Der Schimmelreiter». Messen lassen möchte sich die «…einfach klassisch»-Reihe vorrangig an der Einarbeitung von Modernisierungen. Welch ein Wagnis ein solcher Versuch darstellt, zeigt ein genauer Vergleich einer etwas längeren Passage aus Droste-Hülshoffs Judenbuche:
Reclams UB 1858 (1998), S. 12
Simon Semmler war ein kleiner, unruhiger, magerer Mann […], ein unheimlicher Geselle, bei dem dicktuende Verschlossenheit oft mit ebenso gesuchter Treuherzigkeit wechselte, der gern einen aufgeklärten Kopf vorgestellt hätte und statt dessen für einen fatalen, Händel suchenden Kerl galt, dem jeder um so lieber aus dem Wege ging […].
«…einfach klassisch»-Bearbeitung, S. 15
Simon Semmler war ein kleiner, unruhiger, magerer Mann […], ein unheimlicher Geselle, bei dem Angeberei mit Gutmütigkeit wechselte, der gern als ein vorurteilsfreier Kopf gegolten hätte stattdessen aber für einen unangenehmen, Streit suchenden Kerl galt, dem jeder gern aus dem Wege ging.
Bei dieser in vielerlei Hinsicht fragwürdig bearbeiteten Stelle («dicktuende Verschlossenheit» ist nicht bloß «Angeberei», «gesuchte Treuherzigkeit» keine uneingeschränkte «Gutmütigkeit», «Händel» sind kein «Streit», sondern verbal und handgreiflich ausgetragene Streitigkeiten oder Streitereien, «fatal» hat wenig mit «unangenehm» zu tun) soll es ausführlicher nur um die Übertragung von «aufgeklärt» als «vorurteilsfrei» gehen. Sowohl heute wie um die Mitte des 19. Jahrhunderts gehörte «vorurteilsfrei» zum Bedeutungsumfang des zu beiden Zeitpunkten vieldeutigen Wortes «aufgeklärt». In der zitierten Textstelle geht es aber gar nicht um Vorurteile. Simon Semmler ist vielmehr «Händel suchend» statt «aufgeklärt». Angesprochen wird also der Unterschied zwischen vernunftgeleitetem oder eher jähzornigem Verhalten. Semmler möchte also – abweichend von der Einschätzung durch die anderen Dorfbewohner – gern als ein Mann von klarem Verstand angesehen werden, der sich nicht von spontanen Gefühlsausbrüchen hinreissen lässt. Dies ist eine Bedeutungsnuance, die man heute nicht so ohne weiteres mit «aufgeklärt» verbinden würde. Die Bearbeitung verunklart aber diesen Gegensatz, indem für «aufgeklärt» ein damals wie heute mögliches Teilsynonym eingesetzt wird, mit dem sich der Bezug auf die Neigung Semmlers zu (auch körperlichen) Auseinandersetzungen gar nicht mehr herstellen lässt.
Eine weitere Aufzählung von Stellen mit willkürlichen, unangemessenen oder falschen Übersetzungs- und Bearbeitungsentscheidungen, die man beliebig fortsetzen könnte, würde allerdings am Kern der Sache vorbeigehen. Vielmehr ist das Reihenkonzept hinsichtlich seiner Grundlagen und Implikationen nicht durchdacht worden: Lesen und Verstehen sind komplexe Vorgänge, und ältere Texte sind nicht einfach Übersetzungsvorlagen. Es gilt: Jeder Bearbeiter kann bei einer solchen Modernisierung nur das Verständnis wiedergeben, das sich aus seiner eigenen Lektüre ergeben hat. Lesen und Verstehen ist ein individueller Akt, aus dem sich zwar eine diskutierbare Interpretation, aber kein allgemein gültiges Textverständnis ableiten lässt. Ein solches wäre aber nötig, um eine unanfechtbare Umsetzung eines Textes herstellen zu können. Neben dieser Art von Übersetzung ist die Kürzung von Textstellen eine der Hauptmethoden der Bearbeitung in der Cornelsen-Reihe, was implizit immer bedeutet, der Autor hätte das gleiche auch mit weniger Worten sagen können. Verlag und Herausgeber berufen sich sogar darauf, es habe durch die Anpassung an Rechtschreibung und Zeichensetzung schon immer sinnwidrige Textänderungen gegeben. Schlechte oder falsche Editionspraxis kann aber nicht die Grundlage für ein durchdachtes Darbietungskonzept sein.
Mit den Kürzungen ist ein weiteres Problem der Reihenkonzeption angesprochen. Laut Cornelsen liegt der Sinn und die Qualität der Bearbeitungen gerade in der Kürze (und der damit angeblich einhergehenden Rezeptionsbeschleunigung). Verständlichkeit und Verstehen erfordern aber mehr Text und nicht weniger. Dies gilt sowohl für erläuternde Ergänzungen wie für eine Übersetzung, wenn sie der Bedeutungsvielfalt der Vorlage halbwegs gerecht werden soll. Ein anderes Wort für die Qualität der Originaltexte ist nämlich «Verdichtung». Und jeder Versuch des Verstehens braucht deshalb ein Vielfaches an Zeit und erklärenden Worten (im Gegensatz zu den meisten Gebrauchstexten, bei denen die Möglichkeit zur schnellen Rezeption oberstes Qualitätskriterium ist). Eine weitere sinnvolle Entschleunigung der Textrezeption tritt ein, wenn Schüler die Werkzeuge zur Texterschliessung kennenlernen und ausprobieren, die auch zum selbständigen Umgang mit anderen schwierigen Texten und Problemen unentbehrlich sind. Dass es dem Verlag letztlich doch an einer angemessenen Einschätzung des Problems gemangelt hat, zeigt die Tatsache, dass ein einziger Bearbeiter als ausreichend angesehen wurde, um so unterschiedliche Texte wie Götz, Tell, Judenbuche oder Schimmelreiter im gewünschten Sinne zu bearbeiten. Letztlich macht der Verlag so sein eigenes Konzept unglaubwürdig. Entweder sind die Probleme elementar – dann sind sie auch als solche zu behandeln – oder sie können quasi nebenbei behoben werden.
Die modernisierten Texte des Cornelsen-Verlages können also nur weniges von dem erreichen, was ihre Macher erhoffen. Mancher Schüler wird sich mit den bearbeiteten Texten unter Umständen zuerst vielleicht leichter tun als mit den Originalen und wird der Handlung leichter folgen können. Für Lesemuffel oder Schüler mit unterentwickelter Lesekompetenz werden die ausgewählten Texte aber auch durch die Modernisierung keine unbeschwerte Lektüre. Und Schüler, die sich selbst halbwegs für aufgeweckt halten und dem Lehrstoff gewachsen sind, werden kaum bereit sein, sich längere Zeit und ernsthaft mit einem Abklatsch zu beschäftigen. Es ist die Aufgabe der Schule, Interesse an Sprachkunstwerken zu wecken und erste Fähigkeiten im Umgang mit nicht unmittelbar zugänglichen Texten zu vermitteln. Damit diese Vermittlung gelingt, brauchen Lehrer und Schüler gute Hilfsmittel (Erläuterungen, Wörterbücher, Lexika), die es ermöglichen, die Schwierigkeiten im Umgang mit klassischen Texten selbst zum produktiven Gegenstand des Unterrichts zu machen. Eine weitere unerlässliche Voraussetzung ist die Bereitschaft (auch auf Seiten der Lehrer), sich den alten Texten in ihrer ganzen Fremdheit auszusetzen und dann im Unterricht historisch angemessene Verständnismöglichkeiten zu erarbeiten. Diese Anlässe zu Fremdheitserfahrungen durch modernisierende Bearbeitungen zu verhindern, lässt differenziertes Denken und historisches Bewusstsein verkümmern. Eine Beschleunigung der Klassikerrezeption – was unausgesprochen hinter dem Konzept der Reihe steht – ist ohne eine Reduzierung der Inhalte und der vermittelten Fähigkeiten (und damit der Kompetenz) nicht zu erreichen. Schliesslich sind die Autoren und ihre Texte deshalb interessant, weil sie heute wie damals zur Auseinandersetzung herausfordern, nicht weil sie sich sprachlich und inhaltlich gesichtslos ihrer Zeit angepasst hätten. Und weil Schüler ein Recht auf die unverstellte Kenntnis dieser Herausforderungen haben, sollte ihnen auch heute der echte Goethe und der echte Tell nahegebracht werden. Die neuen Texte des Cornelsen-Verlages sind zur Vermittlung oder Vorbereitung einer ausreichenden Kultur- und Lesekompetenz auf keinen Fall geeignet; vielmehr bringen sie die Schüler um diese Erfahrung und damit um die Erweiterung ihres Horizonts.