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(7) Die Verschweizerung Europas

Wenn Europa nur endlich aus seinem politischen Traum erwachte! Dann wäre es vielleicht bald keine Europäische Union mehr, sondern eine Confoederatio Europaea.

Es gibt zwei Arten von EU-Skeptikern. Die einen behaupten, die EU sei eine grosse, bürokratische Harmonisierungs- und Umverteilungsmaschinerie, ein neues kontinentumspannendes «kaltes Ungeheuer» (Nietzsche). Für die anderen hingegen ist die EU eher ein Gespenst als ein Ungeheuer, nicht in der Lage, einen Bürgerkrieg auf europäischem Territorium – wie 1999 in Kosovo – zu verhindern. Beide haben recht. Die EU ist ein seltsames Zwittergebilde, mächtig und ohnmächtig zugleich, höchst real und doch irgendwie fiktiv, ambitioniert und immer wieder kläglich an eigenen Ambitionen scheiternd.

Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, wie es zu dieser Kluft kam. Als Frankreich, Deutschland, Italien und die Benelux-Staaten sich 1951 entschlossen, nach dem Plan des französischen Aussenministers Robert Schuman eine «Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl» (Montanunion) zu gründen, war kein paneuropäischer Geist im Spiel. Die spätere «Europäische Union» wird zwar heute gerne als Konsequenz eines historischen Entwicklungsprozesses beschrieben, doch ist dies bloss ein nachträglich untergeschobener Gründungsmythos. Das westliche Nachkriegseuropa wurde nicht von europa-euphorischen Idealisten aufgebaut, sondern von kriegsmüden Realpolitikern. Es war nicht das Resultat einer hehren kulturellen Idee, sondern ein Ergebnis aus Zufall, Interessenpolitik und Pragmatismus.

Die Franzosen wollten nach drei kraftzehrenden Kriegen die Macht der Deutschen einbinden; sie fürchteten sich davor, von ihren anglo-amerikanischen Alliierten im Stich gelassen zu werden; zudem war ihre darniederliegende Industrie auf deutsche Kohle angewiesen. Nachdem es ihnen nicht gelungen war, sich mit anderen Staaten gegen Deutschland zu verbünden, blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihr Deutschland-Problem zu europäisieren, getreu dem Motto von Ludwig von Mises, dass «Marktwirtschaft und Krieg letzten Endes unverträglich sind». In der Präambel zum Vertrag von 1951 ist deshalb konsequent von Frieden und wirtschaftlichem Wohlstand die Rede – hochgesteckte politische Ambitionen sucht man vergebens.

Zwischen 1951 und 1992, dem Jahr, in dem die EU geboren wurde, ist viel geschehen; es fand ein radikales politisches Umdenken statt, mit durchaus realen Auswirkungen. Im Vertrag von 1951 heisst es zurückhaltend: «Europa kann nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden.» Man bemerke: Europa muss erst noch gebaut werden; es ist also nicht gegeben, sondern vielmehr aufgegeben. Es existiert kein europäischer Geist noch eine europäische Wurzel, die der Gemeinschaft vorausginge. Die Idee besteht im Gegenteil darin, dass sich verschiedene Staaten mit gleichen oder ähnlichen Interessen zusammenschliessen, um eine Verbundenheit – in diesem Fall den freien gemeinsamen Markt – zu erreichen.

Dieser Gedanke unterscheidet sich radikal von der Rhetorik, die die Präambel des Vertrags von Maastricht auszeichnet, der im Jahr 1992 die «Europäische Union» begründete. In fast schon metaphysischer Art und Weise wird hier eine europäische Einheit beschworen, die es auf institutioneller Ebene gleichsam einzuholen gilt. Es soll zusammenwachsen, was zusammengehört; oder, im offiziellen Wortlaut: weitere Schritte müssen getan werden, «um die europäische Integration voranzutreiben». Dabei ist für die EU-Architekten klar: wer in quasigöttlichem Auftrag handelt, ist den Europäern keine Rechenschaft schuldig.

Seither rätseln diese Europäer in endlosen Identitätsdebatten darüber, was das europäische Wesen eigentlich ausmache. Der italienische Philosoph und Bürgermeister von Venedig, Massimo Cacciari, warnt vor solchem metaphysischen Schattenboxen. Was verbindet die Staaten, die wir gemeinhin als europäisch bezeichnen? Cacciaris Antwort, die er in zwei lesenswerten Büchern* dargelegt hat, ist so einfach wie überzeugend: «die ursprüngliche Gemeinsamkeit des Sichunterscheidens». Europäisch ist nicht ein für sich bestehendes Wesensmerkmal, sozusagen eine Platonische Idee, an der die europäischen Staaten teilhaben; europäisch sind vielmehr jene singulären Staaten, die sich voneinander unterscheiden, auf diesem Sichunterscheiden beharren und darin das erkennen, was sie mit den anderen Staaten verbindet. Europäisch ist nicht die Identität, sondern die Differenz.

Wer dergestalt antimetaphysisch denkt (auch wenn er sich, wie Cacciari, ein wenig gestelzt ausdrückt), muss sich jene entscheidenden Fragen gefallen lassen, die in heutigen Diskussionen oft souverän ausgeblendet werden. Es ist beispielsweise nicht mehr klar, wo die Grenze zwischen Europa und Nicht-Europa verläuft. Zu Europa zu gehören, wäre dann weder Privileg noch Schicksal noch Gnadenakt aus Brüssel. Zu Europa gehört, wer dazu gehören will. Im autonomen, nicht metaphysisch hergeleiteten Akt des Zusammenschlusses steckt immer auch die Möglichkeit, mit guten Gründen wieder auszutreten. Die EU könnte sich hier von der Geschichte der Schweiz inspirieren lassen, in deren Verlauf sich Menschen unterschiedlicher Kultur, Sprache und Konfession zusammentaten. Europa – wenn nicht eine neue Willensnation, so doch eine neue transnationale Willensgemeinschaft?

Die Zugehörigkeit ist das eine, die Frage nach der geeigneten Form für eine solche «Gemeinschaft der Verschiedenen» das andere. Wie präsentiert sich die aktuelle Situation? Seit 1992 hat die EU den offiziellen Auftrag, die Integration voranzutreiben. Motor dieser Integration ist die EU-Kommission, die «Harmonisierungsmassnahmen» (so der offizielle Ausdruck) anregt und durchsetzt. Harmonisierung heisst nichts anderes als Gleichschaltung und Vereinheitlichung. Das Vorgehen ist bekannt: Idealiter wird der grösste gemeinsame Nenner gesucht, zur EU-Richtlinie und also für alle Staaten als verbindlich erklärt. Wer nun glaubt, eine solche Vereinheitlichung sei gerecht, weil sie gleich lange Spiesse für alle in einem fairen Wettbewerb garantiere, täuscht sich. Denn realiter ist es oft der Nationalegoismus einzelner Regierungen (die beanspruchen, den gemeinsamen Willen ihrer Landsleute zu repräsentieren), der den Richtlinien Pate steht – Harmonisierung bedeutet konkret, dass es die anderen Staaten nicht besser haben sollen als der eigene.

Cacciari nennt die Harmonisierung deshalb ein «delirierendes Vorhaben», das zu willkürlichen Entscheidungen führt. Der friedliche Wettbewerb unter den Staaten wird dadurch nicht fair gestaltet, sondern ausgeschaltet. «Die absolut Verschiedenen sind nicht harmonisierbar; keine ‹goldene Zahl› kann den Abstand zwischen ihnen überbrücken.» Die Harmonisierung muss durch eine neue – rechtverstandene – Harmonie unter den Staaten ersetzt werden. «Sie ‹harmonieren›, insofern sie sind, was sie sind, nämlich vollkommen einzeln und somit vollkommen zusammen in dem, dass sie nicht das andere sind.»

Während die Harmonisierung dazu tendiert, die Unterschiede zwischen den einzelnen Staaten aufzuheben, ist die echte Harmonie eine Verbindung, die auf dem Sichunterscheiden beruht, das allen gemeinsam ist. Die Harmonisierung tendiert zu einem Gleichgewicht, die Harmonie hingegen zu einem beständigen, in steter Bewegung befindlichen Ungleichgewicht. Cacciari erinnert daran, dass «Harmonia», die Göttin der Eintracht, und «Eris», die Göttin des Streits, für die Griechen Wesensverwandte waren. Wo kein Streit ist, gibt es keine Harmonie; und wo Harmonie sein soll, bedarf es deshalb des Streites.

Um die Harmonie – und also den Streit – zu bewahren, brauchte es da statt einer Union nicht vielmehr eine Konföderation, d.h. einen Bund autonomer Staaten? Könnte sich die EU in dieser Frage nicht wiederum vom Werdegang der Schweiz inspirieren lassen? Wäre es nach den Voten der Franzosen, Holländer und Iren nicht angezeigt, ein anderes – weniger ambitioniertes, weniger integriertes und weniger uniformes – Europa in Betracht zu ziehen? Ist die EU bereit, auf ihre Bürger zu hören und dieses Gehör institutionell zu verankern?

Direkte Demokratie, Konföderation, Willensgemeinschaft – als ich Massimo Cacciari darauf ansprach, schwieg er einen Augenblick. «Ich verstehe euch Schweizer», sagte er, «ich verstehe euren Widerstand gegen die Europäische Union.» Wiederum Schweigen, dann ein Lächeln. «Wenn Europa helvetisch geworden sein wird, werdet ihr der EU beitreten können.»

Oder helvetisch formuliert: es ist höchste Zeit, dass die EU der Confoederatio Helvetica beitritt.

* Massimo Cacciari: «Gewalt und Harmonie», (1995); «Der Archipel Europa» (1998).

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(0) Auftakt

Auch wenn einige unserer Volksvertreter ihre EU-Begeisterung in ihrem Herzen bewahrt haben mögen, so wagen sie es kaum mehr, sie offen auszusprechen. Die Mehrheit der Vertretenen ist in den letzten Jahren zunehmend EU-skeptisch geworden. Wir nutzen die Aussenperspektive, um einen kritischen Blick auf ein politisches Gebilde zu werfen, das widersprüchlich, zentralistisch, bürokratisch – und demokratisch […]

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