(7) Die heimliche Nationalgalerie
In einem föderalistischen Gebilde wie der Schweiz gilt: Jedem seine Kunst. Das Aargauer Kunsthaus hat dem kantonalen Kunstverständnis getrotzt. Es verfügt über eine umfassende Sammlung von Schweizer Kunst vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Die Geschichte des Aargauer Kunsthauses Aarau hebt an mit der privaten Initiative kunstinteressierter Bürger Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie wiesen der Kunst Bildungsaufgaben zu: nicht nur die Sinne erfreuen sollte sie, sondern auch den Geist der Bevölkerung erwecken. So nahm man sich vor, eine Kunstsammlung anzulegen und ein Museum zu gründen. Zwar war Aarau einige Jahrzehnte zuvor für kurze Zeit helvetische Hauptstadt, in der auch einige besonders aufgeschlossene Leute wirkten. Doch das Engagement, in dieser Kleinstadt ein Museum für Schweizer Kunst einzurichten, war alles andere als selbstverständlich.
Die Konzentration auf das Sammeln zeitgenössischer Schweizer Kunst beweist politisches Gespür und kulturpolitischen Weitblick. Es war nicht möglich, mit den internationalen Sammlungen in Basel oder Zürich zu konkurrieren. Gleichzeitig war es opportun, unmittelbar nach der Gründung des Bundesstaates in einem Land, das sich mit dem Gedanken einer Nationalgalerie stets schwergetan hat, eine Sammlung von Schweizer Kunst aufzubauen. Damit war der Grundstein für eine «heimliche» Nationalgalerie gelegt.
Zeitgenössische Kunst sollte gesammelt werden, und das ohne Bescheidenheit. Eine der ersten Taten des Aargauischen Kunstvereins bestand darin, einen Wettbewerb unter den zehn bekanntesten Schweizer Künstlern auszuschreiben. Sie wurden gebeten, ein Bild für die junge Sammlung zu malen, wobei bloss das beste Gemälde erworben werden sollte. Arnold Böcklin gewann mit seiner berühmten «Muse des Anakreon» und verwies damit Robert Zünds «Sempachersee» auf den zweiten Platz. Die Wahl fiel den Mitgliedern indessen nicht leicht, zumal aus verschiedener Warte argumentiert wurde. Die einen wollten, dass Kunst bilde, und fanden das bei Böcklin und seinem mythologischen Thema erfüllt, die andern erfreuten sich mehr an der lichtdurchfl uteten Szenerie. Weil es aber letztlich nicht um einen ideologischen Streit ging, sondern um den Aufbau einer Sammlung, wurden beide Werke erworben und die Kunstfreunde beider Lager bei Laune gehalten.
Die Ambitionen blieben hoch. Die Entwicklung der Schweizer Kunst wurde weiterverfolgt und ihr mit weiteren Ankäufen Rechnung getragen. Doch plötzlich ging die Schere auseinander, und die Diskussionen um die aktuelle Kunst wuchsen sich zu Grabenkämpfen aus. Ferdinand Hodler, Cuno Amiet, Giovanni Giacometti standen auf der Traktandenliste, und die Geister schieden sich. Am Ende setzten sich die progressiveren Kräfte im Kunstverein durch, die in Aarau eine bedeutende Werkgruppe dieser Künstler aufzubauen vermochten. Zugleich wurde es eng und immer enger. Lokale Künstler kämpften um ihr Recht, bis die Regierung entschied, den frisch eingesetzten kantonalen Ankaufskredit zu vier Fünfteln für ortsansässige Künstler zu reservieren und nur zu einem Fünftel für nationale Kunst.
Der drohenden Provinzialisierung wurde begegnet dank glücklichen Händen, denen es gelang, mit einigen gewichtigen Werkgruppen der Aargauischen Kunstsammlung weiteres Profi l zu geben. Mit Caspar Wolf und Johann Heinrich Füssli wurde Ende der 1940er Jahre der Sammlung ein markanter Auftakt gegeben. Mit René Auberjonois, Louis Soutter und Otto Meyer-Amden wurden zudem einige Charakterfi guren gefunden, die das Bild der Sammlung nachhaltig prägten. Aber erst als mit dem aargauischen Kulturgesetz von 1969 das Kunsthaus von der primären Förderverpfl ichtung befreit wurde, war ein eigentliches Sammlungskonzept möglich: die Schweizer Kunst in allen Facetten zu zeigen, vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart. Dieses hohe Ziel wird heute, deutlich auch an der ambitionierten Erweiterung des Kunsthauses durch Herzog & de Meuron, weiterhin verfolgt. Ob das Aargauer Kunsthaus unter dem eigenen Anspruch nun zu einer grossen und schwerfälligen Institution geworden ist und von der Last der selbstgewählten Aufgabe erdrückt wird? Vielleicht ist es der Vorteil einer «heimlichen» Nationalgalerie, dass sie sich die Freiheit leisten kann, das zu tun, was niemand verlangt, und das zu zeigen, was niemand erwartet.