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(7) Amerika und Europa: Eine Wertekonfrontation

Fast wie ein altes Ehepaar haben sich die Vereinigten Staaten und Europa mit den Jahren auseinandergelebt. Steht eine Trennung ins Haus? Die Besinnung auf Gemeinsamkeiten mag ebenso weiterhelfen wie das Anerkennen echter Unterschiede.

Der folgende Beitrag ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe VI «Amerika und Europa: eine Wertekonfrontation» des Kolloquiums «Sind unsere unter dem Vorsitz von Jenö Staehlin, a. Botschafter, Basel.

Wo ist konkret anzusetzen, wenn es um Werte geht? Amerika und Europa sind primär «geographische» Begriffe; als solche müsste man sie eigentlich thematisieren und etwa fragen, in welchem Ausmass allein schon die unterschiedliche Lage unterschiedliche Erfahrungen bedingt, mithin auch Interessen, Präferenzen, Werte prägt. Gleiches gilt für «Geschichte» im Sinne kollektiv geteilter Erfahrungen: Wertetafeln sind nicht nur, aber stets auch Resultate historischer Erfahrungen – seien diese nun «glückliche» oder «traumatische».

Schon der knappe Verweis auf komplexe Parameter wie Geschichte und Geographie macht deutlich, in welchem Ausmass unsere Diskus-

sion die Bereitschaft zu Verallgemeinerungen und Vereinfachungen voraussetzt. Als fassbare oder gar homogene Gruppe sind «die Amerikaner» so unauffindbar wie «die Europäer». Wer überhaupt vergleichen will, tut gut daran, die Leitsätze der vergleichenden Kulturphilosophie in grossen Lettern an die Wand zu schreiben – und namentlich nicht ausser Acht zu lassen, dass intrakulturelle Gegensätze im Zeitalter fortschreitender Individuation und Globalisierung häufig so gross geworden sind wie interkulturelle Unterschiede. Welten liegen zwischen Gaullisten in Paris und Neokonservativen in Washington, Welten aber auch zwischen wiedergeborenen Christen aus Kansas City und liberalen Demokraten aus Boston, Stanford oder Palo Alto.

Über «alles» können wir indes nicht reden – und einigen uns darum auf Reduktionen. Unter «Amerika» soll zunächst verstanden werden, was die gegenwärtige republikanische Administration nach aussen vertritt. «Europa» steht, auch der Konfrontation zuliebe, namentlich für französische und deutsche Positionen – damit aber für bedeutende Segmente von Öffentlichkeit auf dem alten Kontinent. Mit dieser Brille bewehrt, betrachten und vergleichen wir einzelne Bereiche – überlieferte Wertvorgaben, das Verhältnis zwischen Individuum und Staat, den Stellenwert der Religion, die Qualität von Demokratie, Aussenpolitik und Einsatz von Gewalt, Fremd- und Selbstwahrnehmungen im Kontext des internationalen Systems. Die Zeit entflieht, wir streiten uns vorzüglich. Zusammenfassende Thesen lassen sich gleichwohl formulieren.

These 1: Gleiche Werte, ungleiche Inhalte. – Markt und Demokratie, Gewaltenteilung und Menschenrechte: auf diesem Niveau der Abstraktion stellt kaum jemand die transatlantische «Wertegemeinschaft» in Frage. Die Eintracht indes findet dort ihr Ende, wo es um die konkrete Interpretation solcher Vorgaben, um ihre Hierarchie und reale Umsetzung geht. Man beschwört die «gleichen» Ideale und meint doch Grundverschiedenes damit. «Egalité» in Frankreich impliziert anderes als «equality» in den Vereinigten Staaten. Eine unbestimmte, aber weit gefasste Gleichheit der Bedingungen, als Resultat voluntaristischer staatlicher Intervention und Umverteilung, geht über das uramerikanische Ideal der Chancengleichheit nicht nur hinaus, sondern schränkt zugleich einen anderen Wert über Gebühr ein – die «negative» Freiheit nämlich, in amerikanischer Wahrnehmung verstanden als Freiheit von äusserem Zwang.

These 2: Das Verhältnis zwischen Individuum und Staat ist hüben ein anderes als drüben. Der Ausdruck «Subsidiaritätsprinzip» taucht in den Vereinigten Staaten kaum je auf; nur wenige Amerikaner sind mit dem Begriff vertraut. Die Sache aber, so könnte man überspitzt formulieren – die Sache nehmen sie bemerkenswert ernst. Auf dem europäischen Kontinent ist es mitunter umgekehrt. Dahinter stehen – einmal mehr – unterschiedliche historische Ausgangspunkte und Erfahrungen, in der Zeit gewachsene Wertungen in bezug auf das, was dem einzelnen zuzumuten, was vorstaatlichen Solidargemeinschaften zuzutrauen sei. Der «natürliche Liberalismus» der Amerikaner (John Herz) setzt auf Eigenverantwortung und zivilgesellschaftliche Strukturen dort, wo europäische Reflexe eher das politisch verfasste Kollektiv verantwortlich machen. Die Verhältnisse mögen sich angleichen, noch immer aber bestehen Unterschiede deutlich fort.

These 3: Anders als in manchen Teilen Europas, werden Werte und Interessen in den USA nicht als Gegensatz empfunden. Weil der «pursuit of happiness» eine Vorgabe geblieben ist, die sich nach amerikanischer Wahrnehmung kollektivistisch nicht umsetzen lässt, steht das Individuum nicht nur im Recht, sondern auch in der (oftmals religiös begründeten) Pflicht, das eigene Geschick nach Kräften voranzubringen, eigene Interessen selber bestmöglich wahrzunehmen, die günstige Gelegenheit zu nutzen. «Interests» und «opportunities» stehen nicht im Gegensatz zu normativen Wertvorgaben, sondern bleiben organisch damit verbunden. Lobbying hat nichts Anrüchiges, sondern ist natürlich und auch legitim. Der Gegensatz zu Deutschland oder zur politischen Kultur Frankreichs, wo «Interessen» auch zweihundert Jahre nach Chapelier und Robespierre mit dem Odium niedriger, weil partikularer Interessen behaftet bleiben, könnte grösser nicht sein.

So weit, so gut. So wirkungsmächtig die bis anhin bezeichneten Unterschiede in ihren weiteren Implikationen aber auch sein mögen, es hat sie «immer schon» gegeben. Von daher wird man vermuten dürfen, dass die jüngsten Irritationen sich aus anderen Quellen speisen.

These 4: Amerikaner malen schwarz und weiss, Europäer grau in grau. Seit über drei Jahrhunderten gehören manichäische Züge ebenso zur politischen Kultur Amerikas wie eine religiös untermalte Rhetorik. Wie manche seiner Vorgänger, scheint auch der derzeitige Präsident ehrlich überzeugt davon, dass Gott seiner Nation eine Mission übertragen habe – und dass stets erkennbar sei, was Wahr und Falsch, was Gut und Böse scheidet. Die militante Frömmigkeit dieser politischen Elite ärgert ein Europa, das sich in diesem Bereich in eine andere Richtung entwickelt hat; mehr und mehr sind hier Gott und Religion in den Raum des Privaten und Intimen zurückgedrängt worden. Die europäische Aufklärung, selbst eine Frucht mehrhundertjähriger politischer und religiöser Bürgerkriege, hat eine bekenntnisschwache, hypothesendominierte Kultur hervorgebracht, die stets aufs neue zweifelt – auch und gerade an sich selbst.

These 5: Die gegenwärtige strukturelle Asymme-trie ist Teil des Problems. Während die Amerikaner darüber diskutieren, wie sie ihre überlegene Macht nutzen wollen und sollen, fragt sich die übrige Welt, was zu tun sei, sie zu zähmen. Der machtimmanenten Logik entsprechend, sind amerikanische Regierungen seit der Zeitenwende von 1989 bestrebt, die eigene Überlegenheit zu halten, wenn nicht auszubauen. Von aussen nehmen Tendenzen zur Gegenmachtbildung in dem Masse zu, wie amerikanisches Machtgebaren als aggressiv empfunden wird. Erst die offene Infragestellung der gegenwärtigen Sicherheitsordnung durch die Bush-Doktrin und deren Anwendung auf den Irak hat offene Opposition und die Sicherheitsratskoalition zwischen Frankreich, Deutschland, Russland und China nach sich gezogen – Balancing also, in klassisch realistischer Manier und vielen Variationen.

These 6: Unterschiedliche Wahrnehmungen sind nicht nur, aber auch ein Ausfluss unterschiedlicher Erfahrungen in den letzten 50 Jahren. Im Gefolge des Zweiten Weltkriegs sind die Europäer gänzlich neue Wege gegangen – mit Erfolg. Über die freiwillige Abgabe von Souveränität, über ökonomische Interdependenz und multilaterale Verrechtlichung ist es ihnen gelungen, den alten Kontinent zu befrieden. Kann es überraschen, wenn sie, nach dem Verlust ihrer Macht, auf Multilateralität und «soft power» pochen, wenn sie sich in höherem Masse als weltklug, interkulturell kompetent und moralisch hochstehend verstehen und eine postheroische Mentalität kultivieren? Die Tatsache, dass Europa im Kalten Krieg Konsument amerikanischer Sicherheit war, wird dabei gerne übersehen. Die Amerikaner ihrerseits leben nach wie vor in jener hobbesianischen Anarchie souveräner Staaten, die Europa in Teilen überwunden hat. Auch darum bleiben sie politisch, moralisch und militärisch «gerüstet» – und sind bereit, ihre Ideale unter Einsatz von Gewalt wie unter Inkaufnahme von Opfern zu verteidigen.

Im Lichte des Gesagten neigt man zum Schluss, Europa habe sich in mancher Hinsicht stärker verändert als Amerika… So oder so: wie sehr die im Titel angesprochene Wertekonfrontation als relative zu verstehen ist, wird spätestens dann klar, wenn man den Westen doch wieder in ein Boot versammelt und etwa mit arabischen Staaten oder China vergleicht. Erst dieser Blick nach aussen erweist, wie ähnlich man sich immer noch ist, wie viele Interessen man immer noch teilt.

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(0) Bedrohung und Behauptung westlicher Werte

Einmal mehr hat der Verein für Zivilgesellschaft Exponenten aus Politik, Wirtschaft und Kultur nach Ermatingen am Bodensee eingeladen. In bewusster Abgeschiedenheit und strukturiert in sechs Arbeitsgruppen, wurde Ende Oktober die Frage diskutiert, ob die westlichen Werte durch die aktuellen Entwicklungen herausgefordert seien. Der nachstehenden Einführung durch den Gastgeber und Präsidenten des Vereins folgt auf den anschliessenden Seiten eine Übersicht der wichtigsten Wegmarken und Ergebnisse. (red)

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