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(6) Ziran: Natur und Freiheit in einem gedacht

Natur oder Freiheit – durch diesen Gegensatz wird das westlichen Denken bestimmt. «Ziran», ein Schlüsselbegriff des philosophischen Daoismus des alten China, weist einen anderen Weg. Ein Ausflug über die Grenzen unseres anthropozentrischen Naturbegriffs hinaus.

Werfen wir einen Blick in den Rückspiegel unseres neuzeitlichen westlichen Begriffs der «Natur». Wenn wir versuchen, diesen Begriff in seiner Tragweite zu überschauen, erweist sich ein kontrastierender Vergleich mit dem altchinesischen Konzept von «Natur-Freiheit» als hilfreich. Dadurch kann sich ein philosophischer Ausblick in eine Naturbetrachtung eröffnen, die an der Zeit ist.

Trotz wachsender Kritik ist der Naturbegriff Descartes’, Kants und Hegels, dreier prominenter philosophischer Protagonisten der Neuzeit, bis heute massgebend. War das Mittelalter noch theozentrisch, kann die Neuzeit als anthropozentrisch, subjektzentriert und egoistisch beschrieben werden. Seit den Zeiten Descartes’ (1596– 1650), des Aufklärers in Gottes Namen, ist das Ego das Credo der Moderne. Cogito ergo sum, ich denke also bin ich, so lautet Descartes’ bekannter ontologischer Ego-Beweis. Aus dem Begriff des «Ego» glaubte der «Cogitator» Cartesius dessen Existenz «herausklauben» zu können, um eine Vokabel aufzunehmen, die der Aufklärer Kant (1724 – 1804) später bei seiner Widerlegung des ontologischen Gottesbeweises verwendet hat. An die Stelle des andächtig verehrten Gottes als des höchsten Wesens und transzendenten Höhepunkts der dogmatischen Metaphysik tritt das denkende Ego, das «Ich denke», das Kant dann als «höchsten Punkt» seiner Transzendentalphilosophie bezeichnet. Das Ego ist der «Polarstern», an dem sich das Kantische Aufklärungsdenken orientiert. Kant steht auf den Schultern Descartes’, wenn er im ersten, überheblichen Satz seiner Anthropologie sagt: «Dass der Mensch in seiner Vorstellung das Ich haben kann, erhebt ihn unendlich über alle anderen auf Erden lebende Wesen.» Es erhebt ihn über die Natur, «die Existenz der Dinge unter Gesetzen.»

Schon für Descartes war der Mensch «maître et possesseur de la nature», Meister und Besitzer der Natur. Kant geht in seiner Erkenntnistheorie in der hier eingeschlagenen Richtung einen Schritt weiter, wenn er in der Vorrede zur «Kritik der reinen Vernunft» sagt, dass wir, um den «sicheren Gang einer Wissenschaft zu gehen», die Natur «nötigen» müssen, auf unsere Fragen zu antworten, anstatt uns von ihr «gängeln» zu lassen. Der Mensch steht nach Kant, zumindest als Vernunftwesen, nicht unter Naturgesetzen, er ist frei.

Für Hegel (1770–1831), den deutschen Idealisten par excellence, der trotz aller Kritik an Kant in der Kantischen Philosophie die Grundlage seines eigenen Denkens sieht, ist die Freiheit die höchste Bestimmung des Geistes, die Natur dagegen das «Andere des Geistes». Das Natürliche ist für ihn das Geistlose. «Die Natürlichkeit ist das, worin der Mensch nicht bleiben soll. Die Natur ist böse von Haus aus…»

Aus Hegelscher Sicht besteht nun der «Mangel der orientalischen Welt» im allgemeinen und der chinesischen als ihrer «niedrigsten Stufe» im besonderen eben darin, dass sich der Geist nur als «natürliche Geistigkeit» zeigt. «Der Geist hat das Natürliche noch nicht vollständig unterworfen». Freiheit existiert für Hegel in der chinesischen Welt nur als Natürlichkeit, was für ihn ein Indiz ihrer Inferiorität ist. Die Ungetrenntheit von Natürlichkeit und Freiheit ist in seinen Augen ein defizienter Modus des Geistes. Eben diese Ungetrenntheit zeichnet nun aber in der Tat das altchinesische Denken aus und kann – im Unterschied zu Hegel – als einer ihrer bedeutenden Vorzüge angesehen werden. Wir begegnen ihr vor allem im philosophischen Daoismus, dessen bekanntester Klassiker «Laozi» (Laotse), das heisst dessen «Daodejing» (Taoteking) ist, eine vermutlich aus dem vierten und dritten Jahrhundert vor unserer Zeit stammenden Sammlung von Spruchgut, die Hegel übrigens nur sehr flüchtig zur Kenntnis nahm.

Man sieht die Türme der Stadt oft erst, wenn man sie verlassen hat. Man sieht die Silhouette der eigenen Denkgebäude besser aus der Ferne. Gehen wir weit zurück, bis in den fernen Osten, bis ins alte China, nicht um uns an mentalen Antiquitäten und philosophischen Chinoiserien zu ergötzen, sondern um durch diesen weiten Umweg über China Zugang zu finden zu einem Naturverständnis, das zwar immer noch unzeitgemäss ist, aber dennoch längst an der Zeit zu sein scheint.

Wohlwissend, dass es angesichts der dramatisch eskalierenden Naturverschandelung und Zerstörung im gegenwärtigen frühkapitalistischen China und angesichts der von Mao Zedong propagierten, progressiven Unterwerfung der Natur geradezu als zynisch angesehen werden könnte, ausgerechnet in Sachen Natur chinesischen Nachhilfeunterricht nehmen zu wollen, könnte ein «zurück zum Laozi» wegweisend sein.

Laozi, der mutmassliche Verfasser des gleichnamigen Texts ist der daoistische Proto-Ökologe und könnte als geistiger Urgrossvater grüner Naturschützer bezeichnet werden. Er wäre kein schlechter Ratgeber für die Umweltpolitiker im neuen China, das ohne Rücksicht auf Verluste in die vom Westen adoptierte Moderne aufbricht, und er wäre wohl auch kein schlechter Ratgeber für uns moderne Westler, die wir bei unseren Fortschritten die Natur nach wie vor rücksichtslos mit Füssen treten. Die Angst, als romantischer «Euro-Daoist» blossgestellt zu werden, sollte für uns kein Grund dafür sein, nicht von den Alten zu lernen, auch dann, wenn es sich um die alten Chinesen handelt.

Zentraler Begriff im Daoismus, in dem – plakativ gesagt – die Natur von ähnlich grundlegender Bedeutung ist wie im Konfuzianismus die Kultur, zentraler Begriff im (philosophischen ) Daoismus (dao jia) ist – wie der Name schon sagt – das «dao», das mitunter fälschlicherweise auch als «der (sic! G.W.) Tao» apostrophiert wurde.

In solchen Übertragungen scheint noch immer der Gott der Theologen herumzugeistern, der von Anfang an die – zweifellos verdienstvollen – Laozi-Übersetzungen christlicher Missionare inspiriert hat. «Dao», gewöhnlich durch «Weg» übersetzt, bedeutet den (in ewiger Bewegung seienden) «Lauf» der Welt, der Zeit, der Dinge und des Lebens. Im Laozi wird er, wie in anderen altchinesischen Texten, mit dem Lauf des Wassers verglichen. Entscheidend ist, dass es beim «dao» nicht um etwas Transzendentes geht, um ein höchstes Sein oder Wesen, sondern um eine (immanente) Transformation, um den Kreislauf des Entstehens und Vergehens. Anders gesagt: es geht nicht um etwas Übernatürliches, Metaphysisches, sondern um etwas durchaus Physisches, sozusagen um das Natürlichste von der Welt.

Am Ende des 25. Kapitels des Laozi findet sich der locus classicus, an dem in einer Steigerung das Verhältnis von Mensch, Erde, Himmel und Dao beschrieben wird. An dieser, im Hinblick auf unser Thema besonders aufschlussreichen Stelle heisst es: «ren fa di /di fa tian / tian fa dao /dao fa ziran». Wörtlich übersetzt: «Mensch Gesetz Erde [das Gesetz des Menschen ist die Erde]/ Erde Gesetz Himmel / Himmel Gesetz dao / dao Gesetz ziran». Die den Höhepunkt bildende Schlusspassage «dao fa ziran» wurde verschieden interpretiert und übersetzt – das dao richtet sich nach dem ziran bzw. nach sich selbst –, was aber für uns hier nicht entscheidend ist. Worauf es jedoch, bei welcher Übersetzung auch immer, am Ende ankommt, ist das seltsame Schluss-Binom «zi-ran». Dieser Begriff ist bei uns im Westen weniger bekannt als das zum Modewort gewordene «dao». Dennoch ist dieses «ziran», wie unter anderem die eben zitierte Stelle aus Kapitel 25 des Laozi zeigt, ein, wenn nicht der Schlüsselbegriff des Daoismus.

«Ziran» wird heute gewöhnlich einfach durch «Natur» übersetzt. Ein Blick in das «Laozi», auf das wir uns hier aus Platzgründen beschränken müssen, zeigt jedoch, dass er in verschiedenen Kontexten sowohl durch «Natur» bzw. «natürlich» als auch durch «Freiheit» bzw. »frei» übersetzt werden kann und übersetzt wurde.

Wenn nun ein philosophierender Westler bei seinen Gedankengängen durch das Laozi das im Hinterkopf haben sollte, was Descartes, Kant, Hegel und andere über Natur versus Freiheit gesagt haben, dann könnte er bei einem Übersetzungsversuch des «ziran» leicht in die Entweder-Oder-Falle der westlichen Denker auf ihrem Weg nach Osten tappen. Das heisst, er würde das «ziran» in die eine oder in die andere Denkschublade stecken, die jeweils bereits mit westlichen Denkzetteln vollgestopft ist.

Um dagegen sowohl der einen als auch der anderen Bedeutung des «ziran» gerecht zu werden, bietet sich als Hilfsübersetzung der für den neuzeitlichen Denker im Westen widersprüchlich erscheinende Bindestrichbegriff «Natur-Freiheit» an. (Der Gedankenstrich zwischen den Begriffen «Natur» und «Freiheit» soll uns einen Anstoss geben beim Nachdenken über die scheinbar «gegenstrebige Harmonie» beider Begriffe. Dazu sind die geläufigen Redewendungen «freie Natur» oder «natürliche Freiheit» ihrer jeweiligen Einseitigkeit wegen weniger geeignet.)

Ähnlich wie beim Begriff «xin», «Herz-Geist», mutet der Begriff «Natur-Freiheit» uns zu, das zusammenzubringen, was uns seit langem himmelweit verschieden erscheint: Natur und Freiheit. Um Missverständnissen zu begegnen, die sich immer wieder unbemerkt einschleichen, indem wir eigenes Gedankengut in fremde Begriffe hinein-übersetzen, muss dem Leser deshalb noch ein klein wenig Philologie zugemutet werden.

Das Binom «zi-ran» bedeutet wörtlich «(von) selbst-so». Am Ende jenes 25. Kapitels wird also vom dao gesagt, dass das (von)selbst-so-(Verlaufende) (ziran) das Gesetz bzw. die Methode (fa) des Laufs (der Dinge) (dao) sei. Das klingt ein wenig vertrackt.

Entscheidend ist, dass der im Finale des 25. Kapitels beschriebene Verlauf etwas ist, das sich von selbst (natürlich) anlässt und nicht von einem Selbst veranlasst wird, vor allem nicht vom Ego eines Menschen, der sich durch seine Kreationen als Ebenbild eines Schöpfergottes versteht. Das, was sich von selbst, selbstverständlich und ganz natürlich ergibt, tut sich ohne fremdes Zutun (wei wuwei), ohne Ego (wu ji), ohne Eingreifen in den autopoietischen Selbst-Lauf der Dinge. Der Grund dieses «Selbst-Laufs» ist kein äusserlicher, sondern ein «Selbst-Grund». Doch genug der Philologica!

Wo bleibt bei diesem befremdlichen daoistischen Naturbegriff unsere menschliche Freiheit? Nun, für den Menschen, der dem dao folgt, das heisst der auf dem rechten Weg ist, für diesen Menschen ist im «(von)selbst-so» (ziran) das «ich selbst» zum Moment geworden. In dieser Spontaneität und Natürlichkeit ist die menschliche Freiheit und Selbstbestimmung aufgehoben – im dreifachen Sinne dieses Wortes: negiert, bewahrt und erhöht. Das Tun des daoistischen Weisen (sheng ren) hat seinen Grund nicht in seinem eigenen Selbst (Ego) bzw. in der Schein-Freiheit seines Ich-Selbst (ziwo) und seiner vermeintlichen Autonomie. Sein Tun ist vielmehr ohne eigenwilliges Tun, ohne eigenmächtiges Zutun, ohne subjektiven Grund, «ohne warum». Sein Tun ergibt sich von selbst. Es ist spontan, «autogenetisch», um nicht zu sagen «automatisch», wie man das «ziran» auch übersetzt hat. Er antwortet spontan (ziran ying) auf den Anspruch der Situation, dem Lauf der Dinge entsprechend.

Für denjenigen, der mit dem dao, also mit dem Lauf der Dinge und der Natur mitgeht, kommt es darauf an, sein Selbst sein zu lassen, es gerade dadurch existieren zu lassen, dass er aus ihm herausgeht und von ihm ablässt. Für ihn kommt es darauf an, von seinem Ego abzulassen, indem er sich einlässt auf den natürlichen Selbst-Lauf des Lebens und der Natur. Denn bedeutet Freiheit des Ich in Wahrheit nicht Freiheit vom Ich, Selbst-Gelassenheit und Selbst-Vergessenheit in der Natürlichkeit? Nur durch diese ich-freie, ego-lose Gelassenheit kann es wirklich zum «Einklang von Himmel/Natur und Mensch» (tian ren he yi) kommen, um abschliessend an dieses wohl wichtigste Philosophem in der chinesischen Geistesgeschichte zu erinnern.

Die Zeichen stehen dahin: es ist höchste Zeit, dass der Mensch sich nicht länger als «Herr und Besitzer», sondern als Teil der Natur begreift und sich auf sie einlässt. Man wird sehen, wie weit es das die Natur unterdrückende animal rationale in seiner Herrlichkeit noch bringen wird. Womöglich werden die grünen Apokalyptiker mit ihren dunklen Prophezeiungen Recht behalten, dass sich die progressive Zerstörung der Natur als die Katastrophe des fortschrittlichen «Projekts der Moderne» erweisen könnte. Muss anstelle des Ego, das nach dem von Nietzsche diagnostizierten «Tod Gottes» ins Zentrum unseres Weltbildes gerückt ist, wieder die Natur treten? Ein «Zurück zur Natur» also?

Ich meine ja. Doch es geht nicht um Natur als Paradiesgärtlein vor dem Umwelt-Sündenfall oder um ihre romantische Schonung. Unsere ökologische Unschuld haben wir unwiederbringlich verloren. Es geht auch nicht um nostalgische Natur-Romantik – sei es à la Rousseau oder à la Laozi. Es geht vielmehr um einen geordneten Rückzug aus dem Kampf gegen die Natur, deren Teil wir selbst sind. Es kommt darauf an, keine weiteren «Fortschritte» mehr machen zu wollen durch das Untertan-Machen und die Unterdrückung der Natur – auch der eigenen. Natürlichkeit und Freiheit sind keine Gegensätze. Das können wir von den alten Chinesen lernen. Unterlassen wie dies, könnte die Natur, die schwer misshandelte Untertanin aufbegehren und sich rächen. Und «Gaias Rache» könnte furchtbar sein.

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(0) Auftakt

Begrenzungen sind Herausforderungen. Wie interessant ist etwa eine hohe Mauer! Wer ist da nicht in Versuchung, zumindest einmal darüberzuschauen oder gar darüberzuklettern. Ähnlich ergeht es uns mit den Grenzen unserer physischen und psychischen Leistungsfähigkeit: wir wollen darüber hinaus. Die Leistungssportler machen es uns vor, motiviert vom Ehrgeiz, getragen von Beharrlichkeit, unterstützt durch Trainingspläne und Drogen. […]

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