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(6) Wer führt in der Demokratie?

Dem Souverän fehlt es an Führungs- und Kontrollkompetenz, dem Bürger an Fachkenntnis und dem Politiker an Mut zu unpopulären Entscheidungen. Gute Politik braucht mehr Sachkompetenz.

Wer führt in der Demokratie? Dass diese Frage immer wieder gestellt wird, zeigt, dass sie bislang nicht überzeugend beantwortet worden ist. Nach den einschlägigen Lehrbüchern ist in der Demokratie das Volk als Ganzes der Souverän, der seine Geschicke selbst bestimmt. Allerdings geschieht dies in der Regel – von seltenen Volksentscheiden abgesehen – nur mittelbar. Konkret: der Souverän bestimmt aus seiner Mitte Männer und Frauen, die die Führungsfunktionen in seinem Namen ausüben sollen. Dabei schaut er ihnen, so die reine Lehre, genau auf die Finger und überwacht ihre Amtsführung. Periodisch befindet er dann darüber, ob und wie er mit dieser Amtsführung einverstanden ist – die Wahlen als Stunde der Abrechnung.

So viel zur Theorie oder vielleicht richtiger zum Ideal der Demokratie. Die Wirklichkeit sieht anders aus. Schon auf den ersten Blick wird deutlich, dass ein solches System allenfalls in einem überschaubaren Sozialverband, etwa von der Grösse einer deutschen Gemeinde oder eines kleinen Schweizer Kantons, funktionstüchtig ist. Grössere Sozialverbände verlieren sich in der Anonymität ihrer Mitglieder. Verantwortlichkeiten lassen sich hier kaum noch zuordnen. Kaum einer weiss aus eigener Anschauung, ­ worüber zu befinden ist.

Aber selbst wenn hierüber Klarheit besteht, ist noch längst nicht ausgemacht, ob der Souverän auch die Sachkenntnis hat, sinnvolle Entscheidungen zu treffen. Einige Bürger mögen dazu in der Lage sein. Den meisten gebricht es jedoch bereits an elementaren Einsichten. Ihre Kenntnisse politischer, wirtschaftlicher und sozialer Zusammenhänge sind gering. Sie folgen nicht irgendwelchem Wissen – was sie hart zu erarbeiten gehabt hätten! – sondern weithin unreflektierten Gefühlen, die heute so und morgen ganz anders sein können.

Dass dies keine Spekulationen oder gar haltlose Unterstellungen sind, verdeutlichen ungezählte empirische Untersuchungen. Die Ergebnisse sind immer wieder die gleichen. Ob in der Innen- oder Aussenpolitik, der Wirtschafts- oder Sozialpolitik, der Bildungs- oder Familienpolitik – über vage Parolen kommt die überwältigende Mehrheit der Bürger zumeist nicht hinaus. Nicht selten fordern sie sogar Unmögliches, etwa eine Erhöhung staatlicher Leistungen bei sinkenden Abgaben. Zwar gibt es hier sicher regionale Unterschiede und politisch unterschiedlich aufgeklärte Bevölkerungen. Doch insgesamt ist die Führungs- und Kontrollfähigkeit des Souveräns äusserst beschränkt.

Dennoch führt er, wenn auch in einer seltsam verqueren Weise. Wer schon einmal politische Gremien, seien dies nun Parlamente, Regierungen oder Parteien, aus der Nähe beobachtet hat, kommt nicht umhin festzustellen, dass sie zumeist auf den Stimmungswogen der Bevölkerung schaukeln. Da kann eine Massnahme noch so unabweisbar und gründlich durchdacht sein – stehen demoskopisch ermittelte Meinungen gegen sie, sind die Chancen ihrer Durchsetzung gering. Dann heisst es in Partei- oder Fraktionsvorständen: «Ich habe am vorigen Sonntag in meinem Wahlkreis mit drei Leuten gesprochen. Die waren alle dagegen.» Damit ist alles gesagt. Die meisten Bürger haben keine Vorstellung, wie unmittelbar sie auf politische Entscheidungen auch ausserhalb von Wahlen einwirken können. Voraussetzung ist allerdings, dass sie zur rechten Zeit am rechten Ort ihren Willen unmissverständlich bekunden.

Freilich ist damit noch nicht gesagt, dass dieser Wille zielführend sei. Da er häufig nicht auf Sachkenntnis und rationalen Erwägungen, sondern auf Stimmungen und Gefühlen gründet, geht er nicht selten in die Irre. Die Folgen sind absehbar. Des Volkes Wille trifft, auch wenn er irrig ist, auf die Bereitschaft der politischen Führung, ihm zu entsprechen, und schon ist ein möglicherweise verhängnisvoller Kurs eingeschlagen. Die Geschichte liefert hierfür zahllose Beispiele. Eher tun Politiker etwas Falsches als etwas Unpopuläres. Zu Unpopulärem gehört Mut. Und den bringen sie zumeist erst dann auf, wenn die Lage optionslos geworden ist und sie mit dem Rücken zur Wand stehen. Dann aber ist es nicht selten spät, manchmal zu spät.

Dabei wäre es durchaus möglich, Klippen so zu umschiffen, dass sie nicht zur Gefahr werden. Denn die meisten grossen Herausforderungen, die eine Gesellschaft zu bewältigen hat, kündigen sich frühzeitig an. Wirklich Überraschendes ereignet sich selten. Und fast alle Gesellschaften verfügen über genügend Sachverstand, um zu meistern, was sie herausfordert. Das Problem: Sachverstand wird nur dann bereitwillig genutzt, wenn er der Mehrheit Angenehmes zu vermelden hat. Unangenehmes wird hingegen so lange unterdrückt, bis der Kessel platzt.

Gleichnishaft gesprochen, verweigert sich eine Gesellschaft – Bevölkerung wie Politik gleichermassen – allen vorbeugenden Massnahmen, die ihr in irgendeiner Weise unbequem sein könnten. Typischerweise reagiert sie erst, wenn eine Entwicklung so weit fortgeschritten ist, dass sie Schmerzen bereitet. Hierin unterscheiden sich Gesellschaften nicht von Individuen. Und wie sollten sie auch, ist doch die menschliche Natur im einen wie im anderen Fall dieselbe. Für den Arzt ist dieser Befund frustrierend. Das Gleiche gilt für Experten im gesellschaftlich-

politischen Bereich.

Allerdings gilt das nicht für alle Experten in gleichem Masse. Viele haben es sich zum Ziel gesetzt, mit viel Wissen und Können Partikular­interessen Geltung zu verschaffen. Wenn ihnen das gelingt, ist ihre Mission erfüllt. Mehr wird von ihnen nicht erwartet. Üblicherweise finden sie sich in Lobbyorganisationen, aus denen ­heraus sie Einfluss auf die politische Führung des Gemeinwesens nehmen. Andere Experten, deren Zahl ebenfalls beträchtlich ist, fungieren gewissermassen als politische Wasserstandsanzeiger. Sie messen das Wirtschaftswachstum, zählen die Erwerbstätigen und Arbeitslosen und vieles andere mehr. Ihre Tätigkeit ist für vernunftgeleitetes politisches Handeln unerlässlich. Aber sie weisen weder Weg noch Ziel.

Dies ist einer dritten, vermutlich der klein-sten Gruppe, vorbehalten. Ihre Tätigkeit ist die mit Abstand schwierigste und undankbarste. Sie sollen warnen und Wege weisen. Das macht sie für die einen zu Alarmisten, für die anderen zu Beschwichtigern. Gerne gehört werden sie von fast niemandem. Für die meisten sind sie im besten Fall eine Irritation, schlimmstenfalls ein Ärgernis. Daran ändert sich nur wenig, wenn sich im Nachhinein erweist, dass sie mit ihren Warnungen recht gehabt haben. Im Gegenteil. Durch ihr Wirken erzeugen sie für alle eine Art Rechtfertigungsdruck: Warum wurde nicht früher gehandelt, wo doch der Handlungsbedarf seit langem bekannt war?

Ein geradezu klassisches Beispiel für diesen Mechanismus ist die Bevölkerungsentwicklung in den westeuropäischen Ländern, namentlich den deutschsprachigen. Hier haben die Experten seit Jahrzehnten die öffentliche Aufmerksamkeit auf das zu lenken versucht, was jetzt und künftig beschwerlich sein wird: schrumpfende einheimische Bevölkerungen, steil steigende Altenanteile, hohe Zuwandererzahlen und ähnliches. Gehör fanden sie damit erst, als sich die Probleme zu türmen begannen, aus strukturellen Fragen existentielle geworden waren.

Ähnliches gilt für weitere grosse Themenbereiche: Klima und Umwelt, Wirtschaftswachstum, die Entstehung eines globalen Arbeitsmarktes, die Lage der öffentlichen Haushalte, die Auflösung der Sozialverbände, insbesondere der Familien, der Verlust eines plausiblen Sicherheitskonzeptes und nicht zuletzt die Gefährdung der demokratischen Staats- und Gesellschaftsordnung. Einige dieser Themen, wie Klima und Umwelt oder die Lage der öffentlichen Haushalte, sind mittlerweile ins öffentliche Bewusstsein gedrungen. Anderen muss der Weg noch gebahnt werden.

Das ist oft mühsam. Denn Politik und Öffentlichkeit hängen zäh an Überkommenem, Vertrautem. Veränderungen sind ihnen – trotz gelegentlicher gegenteiliger Bekundungen – zuwider. Deshalb ist es auch falsch anzunehmen, Politiker seien eine Art gesellschaftliche Vorhut, Pfadfinder gewissermassen, Kundschafter von Neuem. An der Spitze befinden sie sich allenfalls gelegentlich und dann zufällig. In der Regel bilden sie die Nachhut gesellschaftlicher Entwicklung. Als solche halten sie die Gesellschaft zusammen.

Wer aber führt dann in der Demokratie? So recht wohl niemand. Vielmehr schiebt und drängt die Gesellschaft als Ganzes, angetrieben von zahlreichen Impulsen, einmal in diese und dann wieder in jene Richtung. Ein eigentliches Ziel ist kaum auszumachen. Nur dürften Gesellschaften, die bei diesem Schieben und Drängen ein wenig Sachverstand walten lassen, alles in allem besser fahren.

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