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(6) Mein Grossvater, ein Verdingkind

Wenn Kindern das Kindsein gestohlen wird: diese Erfahrung prägt sie ein Leben lang. Warum zerbrechen die einen daran, während die anderen den Bruch später überwinden? Ein Erklärungsversuch. Und eine persönliche Geschichte.

Leider habe ich meine Grossväter nie kennengelernt. Beide starben vor meiner Geburt. Der eine – Dorflehrer – ertrank im Bodensee, als das Eis in der Eschenzer Bucht einbrach, während er seine eislaufende Schulklasse beaufsichtigte; der andere schlief nach dem Mittagessen friedlich für immer ein. Letzerer, der Vater meiner Mutter, war ein Verdingbub.

Er war das fünfte von acht Kindern und acht Jahre alt, als seine Mutter bei der Geburt des Jüngsten starb. Ein Jahr später ertrank sein Vater in der Thur, man munkelte von Selbstmord aus Verzweiflung über sein Schicksal. Mein Grossvater kam für ein Jahr in ein Waisenhaus, dann wurde er zu einem Bauern verdingt. Nach seinen Verdingjahren arbeitete er zunächst als Knecht und Melker und fand schliesslich eine Stelle als Hilfsarbeiter in einem Kantonsspital, wo er meine Grossmutter kennenlernte und mit ihr drei Kinder hatte. Er war ein stiller und sanfter Mann. Er war stolz, dass seine älteste Tochter – meine Mutter – ihre Berufslehre mit Bestnoten abschloss und erzählte das im ganzen Spital herum. Sein Lohn war dürftig, meine Grossmutter musste ebenfalls arbeiten, damit die Familie – es gab noch zwei Kinder aus ihrer ersten Ehe – durchkam.

Meine Grossmutter war eine kontaktfreudige resolute Person, an die ich mich gerne erinnere – sie starb, als ich zwölfjährig war –, und hatte zuhause die Hosen an. Grossvater gab ihr den Lohn ab und verstand nie, warum das Geld trotz harter Arbeit nie reichte. Meine Mutter erzählte von den Streitereien ums Geld und wollte in unserer Familie nie solche Diskussionen. Sie war das Lieblingskind ihres Vaters, mit den Brüdern sei er weniger gut klargekommen. Wenn sie aufbegehrt hätten, sei oft der Vorwurf zu hören gewesen: «Wenn ihr es so hart gehabt hättet wie ich…»

Ich hätte meinen Grossvater gerne kennengelernt und mit ihm über seine Kindheit gesprochen. Wenn ich diese Zeilen schreibe, fühle ich einen gewissen Stolz. Er hat es trotz seiner schweren Kindheit geschafft, sein Leben zufrieden zu meistern. Er war fähig zu lieben, zu arbeiten und zu geniessen, nach Sigmund Freud, dem Begründer der Psychoanalyse, die Grundbausteine seelischer Gesundheit.

Warum zerbricht ein Mensch an den Folgen des Verdingkindertraumas, während ein anderer den Bruch verkraftet und überwindet? Ein Kind braucht Liebe, Anerkennung seiner selbst als unverwechselbare Person mit eigenen Bedürfnissen und Wünschen, eine überdauernde sichere Bindung zu mindestens einer zuverlässigen und liebevollen Bezugsperson, eine verständnisvolle, unterstützende und realistische Erziehung und eine seinen Fähigkeiten entsprechende Ausbildung, damit es beim Eintritt ins Erwachsenenleben eine faire Chance hat, in der Gesellschaft zu bestehen.

Verdingkindern hat man dies alles gestohlen, in mehr oder weniger grossem Umfang. Man hat sie des normalen kindlichen Privilegs beraubt, für den Lebensunterhalt nicht selbst aufkommen zu müssen. Man hat sie zu einer Art Taglöhner gemacht, auf Gedeih und Verderb der Willkür in den Bauernfamilien ausgeliefert, bei denen sie wohnen und arbeiten mussten. Einigen ging es recht gut und sie wurden abgesehen von der ökonomischen Ausbeutung – ihre Arbeitsleistung ging weit über den Gegenwert von Kost und Logis, die sie genossen, hinaus – fair behandelt. Andere traf es härter, sie wurden gedemütigt und verspottet, von den eigenen Kindern der Bauernfamilie separiert, mussten im Stall schlafen, wurden vom Schulbesuch oft abgehalten, in schlimmen Fällen seelisch und körperlich misshandelt und sexuell missbraucht. Sie lernten in vielen Fällen eine für ihre Entwicklung verheerende Lektion: du bist nichts, du kannst nichts, aus dir wird nichts!

Damit ist der Kern des Verdingskinder-Traumas umrissen: Kinder wurden zu Dingen, zu Gebrauchsgegenständen, gemacht. Sie wurden behandelt, als hätten sie keine Seele, als seien sie Haustiere oder Arbeitsgeräte. Damit wurde der Kern der Person verletzt. Wir alle brauchen vom ersten Atemzug an andere verlässliche und liebevolle Beziehungspersonen, die sich für unsere unverwechselbaren Eigenschaften interessieren und uns achten. Fehlt eine solche Umgebung, kann ein Mensch kein gutes Selbstbild entwickeln.

Es fehlt ihm die innere sichere Basis, auf der er sich entwickeln und eigene Leistungen hervorbringen kann. Er hat kein Vertrauen in sich und die Umwelt, er wird nicht die nötige Unerschrockenheit haben, ins Leben aufzubrechen und selbstbewusst seine Fähigkeiten einzusetzen. Er zweifelt daran, liebenswert und als Mensch einzigartig zu sein. Wegen seiner tiefen Verunsicherung wird er im Leben scheitern, oder er wird seine Beschädigung durch eine Fassade von äusserer Härte überspielen, aber selber kaum vertrauensvolle und gute Beziehungen entwickeln können.

Mein Grossvater ist nicht daran zerbrochen, dass man ihm die Hälfte seiner Kindheit gestohlen hat. Aus einem Verdingbuben ist ein redlicher und tüchtiger Arbeiter geworden. Er hat es geschafft, eine Familie zu gründen, mit eigenen Kindern, und mit Enkelkindern – die er leider nie zu Gesicht bekam. Er konnte geben, was er selber zuwenig bekommen hatte, Liebe und Anerkennung. Meine Mutter hatte unter ihm nicht zu leiden, dann noch eher seine Söhne, deren normale Rebellionen er nicht verstand.

Er war ein sanfter Mensch, aber es gab bei ihm wohl eine gefühlsmässige Unerreichbarkeit und Verständnislosigkeit, mit der er sich vor Nähe und der Konfrontation mit dem Bruch in seiner Kindheit schützte, Probleme, die sich zum Teil auf die Kinder übertrugen.

Warum konnte mein Grossvater den Bruch in seiner Kindheit zu einem grossen Teil verarbeiten? Ich weiss da natürlich nichts Gesichertes, aber ich vermute, dass er eine in meiner Familie vor allem auf der mütterlichen Seite stark ausgeprägte seelische Widerstandskraft besass. Er muss wohl auch, bevor er verdingt wurde, genug Liebe bekommen haben, um ein so genanntes «gutes inneres Objekt» zu bilden, einen inneren Beschützer und Leitstern, an den er sich in der schweren Zeit halten konnte. Und es war auch Glück im Spiel, dass eine energische, mit zwei kleinen Kindern gesegnete Witwe sich für ihn interessierte und er ein berufliches Umfeld fand, in dem er trotz dürftiger Ausbildung seine Fähigkeiten zur Geltung bringen und Anerkennung ernten konnte.

Ich hüte mich vor Verallgemeinerungen. Wenn ein Kind zu einem Ding gemacht wird, hat es ganz schlechte Karten. Ein schweres kumulatives Trauma, multiple Brüche und chronische Missachtung in der Kindheit können auch begabte und starke Kinderseelen brechen. Oft hängt es davon ab, ob das Leben gut spielt und einige der Verletzungen und Defizite in der Kindheit kompensiert. Man kann bereits als Kind oder Jugendlicher auf liebevolle Menschen, beispielsweise Lehrer oder andere Förderer, stossen, die auf den guten Kern reagieren, den der Mensch in sich trägt, und die sich um einen kümmern. Man kann als Erwachsener das Glück haben, Freunden und Liebespartner zu begegnen, die einem das geben, was man als Kind vermisst hat. Manches kann so abheilen, und man kann ein gewisses Vertrauen in sich und das Leben entwickeln, auch wenn die Narben spürbar bleiben.

Ein seelisches Trauma kann nicht getilgt werden. Menschen können ihre problematischen Anpassungsstrategien überwinden, den Kontakt zu den verschütteten Gefühlen finden, ihr Trauma ausdrücken und überwinden, doch «neu machen» kann selbst eine psychoanalytische Kur nicht. Es geht vielmehr darum, das Unfassbare in Bildern, Gefühlen und Worten zu fassen und zu einem Teil des eigenen Lebens zu machen. Es geht darum, die falschen Prägungen zu überwinden, die grausamen inneren Bezugspersonen loszuwerden, damit man nicht in einer unglückseligen unbewussten Wiederholung der bösen Kindheit stecken bleibt.

Um sich von der Last eines schweren Kindheitstraums hinreichend zu befreien, müssen wir zu verstehen versuchen, was geschehen ist und was es alles in unserer Seele angerichtet hat, mit aller Kraft, Sorgfalt und Geduld. Und vor allem geht es darum, ein Gefühl des eigenen Werts wieder zu erlangen, das einem als Kind gestohlen wurde. Man muss aus dem Ding, zu dem man gemacht wurde, wieder zu einem Menschen werden.

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(0) Auftakt

In den Pflegefamilien wurden sie meist nicht mit Namen genannt; sie hiessen schlicht Verdingmädchen oder Verdingbub. Noch vor 50 Jahren gehörten die Verdingkinder – ein Wort, das nur das Schweizerdeutsche kennt – zum ländlichen Alltag und arbeiteten für Kost und Logis bei fremden Bauern. Heutzutage rufen die nackten Zahlen meist ungläubiges Kopfschütteln hervor, und die […]

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