(6) Experiment Akademie
Die Universität zwischen Vielfalt und Verwässerung –
ein Modell für die Zukunft.
Im Jahre 1300 wurde die «Universität» in Bologna und Paris zum Schutz reisender Intellektueller in einer fremdenfeindlichen Stadt erfunden. Heute finden wir sie praktisch in jedem Land, und es heisst, Kasachstan habe heute mehr Studenten als im Jahre 1900 die ganze Welt. Die Universität – eine Erfolgsgeschichte? Ja und nein. Ja – allerdings nur in der Vielfalt ihrer Ausprägungen. Nein – denn wir finden fast alles unter ihrem Namen.
Kaum jemanden scheint diese verwässernde Vielfalt zu stören. Nur der Marketingfachmann moniert den Crash eines Meta-Brands. Man «universitätet» eben trotz allem noch nicht, wie man «googelt». Sollten wir also vielleicht die Vielfalt der Universität beseitigen oder, falls dies nicht gelingt, wenigstens «Universität» als Begriff entsorgen? Weder das eine noch das andere. Verwandeln wir stattdessen die Vielfalt der Universität in ihre Stärke. Es braucht dazu nicht viel.
Mobilität ist nur dann ein Gewinn, wenn hier wie dort nicht dasselbe zu haben ist. Zwingen wir deshalb, erstens, jede unserer Universitäten, sich eigenverantwortlich ein eigenes Profil zu geben. Die Güte eines Hochschulraums – beispielsweise desjenigen der Schweiz – erhöht sich dann in dem Masse, in dem ihre Universitäten als gemeinsame Institution einem breiten Spektrum legitimer Bedürfnisse und Präferenzen durch Komplementarität statt Standardisierung dienlich werden.
Fällt dadurch der Qualitätsanspruch nicht der Kleinstaaterei auf Universitätsebene zum Opfer? Nein, wenn wir, zweitens, von unseren Universitäten verlangen, für ihr selbstgewähltes Profil eine internationale Benchmark zu definieren, mit der ihre Leistungen mess- und international vergleichbar werden.
Was ist aber jenseits dieser Komplementarität die gemeinsame Klammer der Universitäten? Hier wird gewöhnlich auf die besondere Denkführung und deren Weiterentwicklung aus eigener Kraft und intellektueller Souveränität verwiesen. Universitäre Leistung ist als solche an der strengen Disziplin des Denkens erkennbar. Das ist schön und gut, doch darf diese Klammer nicht zur Fessel werden. Denn die sich im Kanon unterschiedlicher Disziplinen auskristallisierende Denkdisziplin macht die Universität auch zur Akademie, wo Neues bloss nach altem Muster entsteht.
Welche Höchstleistungen von Kunst und Kreativem entstehen heute noch aus den Akademien der Künste, diesen Gründungen des 19. Jahrhunderts? Sind nicht die urbanen Räume von New York und Berlin die wahren Kunstakademien von heute, in denen Neues entsteht, und haben die alten nicht definitiv an Bedeutung verloren? Wie sieht die wissenschaftliche Akademie als Kern der Universität in Zukunft aus?
Heute drückt sich die Akademie in jenem Standardprozess aus, mit dem die Qualität der Forschung gewogen wird, dem sogenannten «peer reviewed» Publikationsprozess: geadelt wird, wessen Arbeit von denjenigen für gut befunden wird, die schon früher auf diese Weise geadelt worden sind. Konservatismus ist die Konsequenz. Wird die Universität so zum Buchhalter des Fortschritts?
Diese Gefahr besteht durchaus. Allerdings gibt es zu diesem Standardprozess kaum eine Alternative. Deshalb braucht er Ergänzung durch ein ganzes Portfolio unterschiedlicher, ebensolcher Prozesse. Dem Aufbau dieses Portfolios muss unsere ganze Kraft gelten, nicht der ewigen Verfeinerung des Standardprozesses. Es darf mit neuen Wiegemethoden für gute Forschung experimentiert, geirrt und gelernt werden. Die Güte eines Hochschulraums hängt entscheidend auch von der Systematik ab, mit der sich die Universität durch die Weiterentwicklung dieses Portfolios als Akademie erneuert.
Die Qualität der Universität als Institution wird an der systematisch-komplementären Vielfalt ihrer Ausprägungen sichtbar sein, die Qualität der Universität als Akademie an der systematisch-komplementären Vielfalt der Beurteilung ihrer Forschung.