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(6) Dialog der Kulturen heute

Die Verteidigung von Identität stiftenden Partikularismen einerseits und die fortgesetzte Suche nach neuen kulturellen Horizonten anderseits müssen sich als Tendenzen keineswegs widersprechen; es gibt auch das natürliche Nebeneinander.

Der folgende Beitrag ist eine Zusammenfassung der Ergebnisse der Arbeitsgruppe V «Der Dialog der Kulturen heute» des Kolloquiums «Sind unsere westlichen Werte in Gefahr?», unter dem Vorsitz von Daniel de Roulet, Schriftsteller, Frasne-les-Meulières (F).

Warum müssen Kulturen in einen Dialog treten? Warum können sie nicht nebeneinanderherleben und Berührungen vermeiden, die doch bloss unweigerlich zu Konflikten führen? Diese Frage mag naiv klingen, doch sie wird sowohl in demokratisch verfassten Gesellschaften als auch von autoritären Regimen gestellt. Sollten geographische Räume nicht jeweils nur mit einer dominanten Kultur besetzt sein? Vor dem Hintergrund fortschreitender Globalisierung scheint das freilich ein durch und durch jakobinisches Konzept zu sein, das Welthaltigkeit mit nationalistischer Nabelschau zu verbinden sucht. Auch die passive Toleranz des Kommunitarismus greift zu kurz. Sie macht das Multikulturelle zu einer Art Alibi: «Multikulti» wird auch in einer demokratischen Gesellschaft nur solange toleriert, wie Vertrautes nicht wirklich durch Fremdes in Frage gestellt wird.

Kein Zweifel: die Macht des Faktischen, der Bedürfnisse des einzelnen Menschen mithin, ist auf lange Sicht stärker als alle politische Bevormundung, die vorschreibt, wie die Welt zu sein habe. Nationale Gesetze, die Migration unterbinden, sind wahrscheinlich langfristig wenig erfolgreich. Deshalb bedarf es einer Einübung in den Dialog. Zumal heute das Individuum ein Grenzgänger ist, der in Anspruch nimmt, zwei, vielleicht sogar drei kulturelle Identitäten entweder bereits zu besitzen oder noch zu erlangen. Ein widersprüchliches Phänomen in der Tat: Menschen haben eine Identität, haben Wurzeln, haben aber zugleich auch das Bedürfnis, anderswo neue zu schlagen. Aus der Erfahrung der eigenen Teilhabe entwickelt sich im Individuum die minimale individuelle transkulturelle Erwartung, an einer demokratischen Kultur teilhaben zu dürfen. Eine nichtdemokratische Kultur dagegen ist nicht auf Teilhabe bedacht, und so müssen wir wohl mit der schlechten Nachricht leben, dass angesichts der Vielzahl noch bestehender undemokratischer Gesellschaften die blutigen Konflikte zwischen den Kulturen so schnell nicht aufhören werden. Die gute Nachricht ist aber, dass sich keine Kultur im wirtschaftlichen und politischen Wettstreit auf die Dauer behaupten kann, wenn sie nicht demokratisch ist.

Die Mitte Oktober dieses Jahres durch den iranischen Ministerpräsidenten Ahmadinedschad erhobene Forderung, Israel müsse von der Landkarte ausradiert werden, scheint auf den ersten Blick ein Rückfall in längst überwunden geglaubte Denkmuster zu sein. Doch ist dieser terroristische Verbalakt «nur» ein weiterer Ausdruck der Ablehnung der USA einerseits und westlicher Lebensweisen andererseits. Trotz der Eindeutigkeit dieses Befundes kommt der Westen nicht umhin, sich zu fragen: Was sind die westlichen Werte? Und: Wer bringt sie in Gefahr? Der radikale Islam? Oder gar wir selbst? Haben sich unsere Formen des Miteinander nicht vielleicht so umfassend verändert, dass sie Angriffsflächen bieten, ohne dass wir uns dessen bewusst sind? Man denke an die individualistische Ausrichtung der westlichen Menschrechte, die zwar darauf angelegt sind, chancenorientierten Gemeinschaften den Boden zu bereiten, die aber auch denjenigen mitleidlos ausgrenzen, der den beschleunigten Rhythmus nicht mitmachen kann.

Die perspektivische Relativierung westlicher Moral wurde am Mord an einem Züricher Skyguide-Angestellten sichtbar, den ein Ossetier beging, dessen Frau und Kinder beim Zusammenstoss zweier Flugzeuge im Bodenseeraum ums Leben gekommen waren. Er machte den Luftraum-Kontrolleur dafür verantwortlich und gab ihm die Schuld an dem Unglück. Es hätte nur einer Entschuldigung bedurft, war aus dem Munde des Ossetiers zu hören. Eine Entschuldigung kann aber in Westeuropa juristisch als Schuldgeständnis aufgefasst werden, und das Akzeptieren einer Entschuldigung als Signal für den Verzicht auf Schadenersatz und Genugtuung. Tatsächlich hat sich das westliche Rechtsverständnis in den letzten 100 Jahren in sophistischer Weise weitgehend von einem eindimensionalen Ursache-Wirkungsverhältnis, bei dem eine oder mehrere Personen zur Verantwortung gezogen werden können, losgelöst und die Verantwortung zunehmend anonymisiert. Schuld kann unter diesen Bedingungen nicht mehr eindeutig personalisiert werden.

Huntingtons Behauptung «Mein Feind sagt mir, wer ich bin» fordert im Zeitalter der Globalisierung zum Widerspruch heraus. Die Idee der Menschenrechte entstammt dem aufklärerischen Denken des 18. Jahrhunderts. In welchem Ausmass solche heute als verbindlich gelten oder doch wieder relativiert werden können, zeigt die «Déclaration universelle des droits de l’homme», die nach dem zweiten Weltkrieg von einem Diplomaten jüdischen Glaubens niedergeschrieben worden ist und die das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht enthält. Aus heutiger Sicht mag dies erstaunen. Länder und Kulturen, die etwa weibliche Beschneidungsriten erlauben, fanden lange Zeit ausgerechnet in der «Déclaration universelle des droits de l’homme» eine Legitimation.

Unter welchen Bedingungen ist ein interkultureller Dialog möglich? Zweifellos ist das Erkennen der eigenen Identität eine Voraussetzung für das Gelingen eines echten Dialogs, der im Bewusstsein geführt wird, dass die condition humaine mehr Gemeinsames als Trennendes aufweist. Zu den Bedürfnissen, die alle Zivilisationen teilen, gehört der Güteraustausch. Er ist Teil eines Verkehrs, der als nichtverbal bezeichnet werden kann und der den Austausch von Personen nicht zwangsläufig miteinschliesst. So wird zumindest in jenen Kreisen argumentiert, die zwar der Liberalisierung der Märkte vorbehaltlos zustimmen, dem freien Personenverkehr aber nur bedingt. Dem kann entgegenhalten werden, dass Güterverkehr den Personenverkehr immer nach sich zieht, mag auch der Umfang der Migration kurzfristig politisch steuerbar sein. Die Hoffnung, Personenfreizügigkeit durch politische Massnahmen verhindern zu können, wird wohl auf lange Sicht durch den faktischen Druck der zu erwartenden grossen Migrationsbewegungen zunichte gemacht werden.

Tatsächlich wird Gemeinsames nur dann als gemeinsam empfunden, wenn keine Not herrscht, wenn sich Handelspartner auf Augenhöhe und nicht in der Rolle des Bittstellers und des Gebers begegnen. Erst diese Gleichstellung erlaubt es, Gesichtsverluste zu vermeiden und konfliktträchtige Themen von vornherein auszuschliessen. Es sind dies Themen, die gleichsam das Rückgrat der jeweiligen Identität bilden, die sich in Koran, Talmud und Bibel spiegeln und somit die Substanz religiöser Sinnbildungsprozesse sind. Dazu gehören aber auch «die letzten Dinge», die Haltung zum Tod, die von islamistischen Terroristen konsequent strategisch gegen die christliche Welt, aber auch gegen die eigenen Glaubensbrüder und -schwestern eingesetzt wird.

Nichtsdestoweniger haben westliche Hilfelei-stungen, etwa im Falle der durch ein Erdbeben zerstörten iranischen Stadt Bam vor zwei Jahren, in der Beziehung zwischen vielen westeuropäischen Staaten und dem Iran eine neue Qualität geschaffen. Die radikalen Kräfte im Iran, die diese Hilfe aus ideologischen Gründen anfangs nicht annehmen wollten, gerieten in die Minderheit. Zu gross wäre der Imageverlust des Irans gewesen, wenn man das hilfswillige Ausland vor den Kopf gestossen hätte. Internationaler Druck, nicht im Sinne einer Überlegenheitslogik, sondern im Sinne eines international extrapolierten «Problemdrucks», hat Bewegung in die Dinge gebracht.

Freilich braucht es im richtigen Moment, am richtigen Ort, konstruktive, lösungsorientierte Eliten. Diese gab es in Ex-Jugoslawien wohl deshalb nicht, weil es während der Herrschaft Titos dem internationalen Umfeld kaum möglich war, auf serbische, kroatische oder bosnische Eliten einzuwirken. In Südafrika verhielt es sich anders. Zum richtigen Zeitpunkt kamen mit dem Staatspräsidenten Frederik Willem de Klerk, Nelson Mandela und Bischof Desmond Tutu lösungs-orientierte Persönlichkeiten in die Verantwortung, die bereits seit langem unter dem Einfluss der an einer Beendigung der Apartheid interessierten Staatenwelt standen.

Schliesslich ist es die Übereinkunft der Vernünftigen, die Dialoge initiiert und damit Entscheidendes leistet, denn dass der Austausch von Meinungen und Argumenten überhaupt stattfindet, ist bereits das Ziel. Die Vernünftigen sind ein Produkt freier demokratischer Gesellschaften. Auch demokratische Gesellschaften sind nicht vor Eigensinn und Autoritarismus gefeit, doch besitzen allein sie die Kraft, sich selbst zu korrigieren.

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