(6) Deeskalierend höflich
Die Deutschen mögen uns. Sie finden uns freundlich, was wir aber faktisch weder sind noch sein wollen. Wir bemühen uns bloss, höflich zu sein. Das ist ein himmelweiter Unterschied.
Wir Schweizer sind nicht freundlich, wir sind höflich. Die Höflichkeit ist eine grundlegend helvetische Tugend. Die Deutschen, bei deren Umgangsformen die Höflichkeit nicht zuvorderst steht, unterliegen dem Fehler, die schweizerische Höflichkeit als Freundlichkeit zu interpretieren. Daher kommt die Begeisterung der Deutschen für die Schweiz. Dass die Deutschen uns mögen, ist die Folge eines Missverständnisses.
Unsere ausgeprägten Höflichkeitsformen erlauben es uns, in der Schweiz trotz kultureller und sprachlicher Unterschiede friedlich zusammenzuleben. Die schweizerische Höflichkeit dient dem Frieden, der Stabilität und somit dem Wohlstand. Der Deutsche, der unsere Höflichkeit mangels besseren Wissens persönlich nimmt, ist sofort begeistert von der Schweiz. Bleibt er hier, wird er aber bald mit der Distanz konfrontiert, die die Höflichkeit von der Freundlichkeit unterscheidet. Er trifft auf eine Reserviertheit, die er nicht erwartet hat. Auch merkt er, dass er bei den Schweizern nicht ankommt. Trotz freundlicher Gesinnung mangelt es ihm an Höflichkeit. Es fehlt ihm sowohl der freundliche Umgangston wie auch die nötige Distanz.
Die Deutschen haben ein konfrontatives Gesprächsverhalten. Was ein Deutscher sagt, klingt in Schweizer Ohren oft wie ein Befehl. In der Schweiz hingegen pflegt man die permanente Deeskalation. Das Gesprächsverhalten des Schweizers ist nicht gezielt vorpreschend, sondern präventiv abschwächend. Unsere höchsten Güter sind der Konjunktiv und der Diminutiv. Flankiert werden diese Schätze der Konsenskultur noch von der beschwichtigenden Verharmlosung, der anekdotischen Übertreibung und der auflockernden Ironie.
Ein deutscher Freund fragt mich in der Beiz: «Noch ein Bier?», um dann nach einem kurzen «Ja» meinerseits folgende Bestellung aufzugeben: «Noch zwei Bier!» Schweizer hingegen deeskalieren Frage, Antwort und Bestellung präventiv: «Was meinsch, sölle mer ächt no eis näh?» – «I gloube, s chönnt nüt schade…» – «Mir numte de äuä no eis.»
Je ernster das Gespräch ist, desto vielfältiger sind die Deeskalationsfloskeln, die wir – obwohl in ihrer Form unsachlich – zur Versachlichung des Themas anwenden. Ein Schweizer vermeidet absolute Sätze wie: «Das stimmt nicht!» Er würde eher sagen: «Vielleicht liege ich komplett falsch, aber könnte es nicht auch sein, dass…?». Statt «Das geht nicht» sagt er vielleicht: «Vielleicht sollte ich das jetzt nicht sagen, aber wäre es nicht noch eine Überlegung wert…?» usw.
Im absoluten Ernstfall greift der Schweizer zur Verharmlosung. Entsteht bei einem Unfall erheblicher Blechschaden, sagt der Geschädigte zum Schuldigen: «Das isch nid eso schlimm.» Es handelt sich dabei aber um deeskalierende Höflichkeit und nicht um eine Freundlichkeit. Die Übertreibung wiederum dient der Auflockerung verfahrener Situationen. Ein Satz wie «Das unterschreibe ich nicht», geht dem Schweizer schwer über die Lippen. Er lacht eher kollegial und fragt: «Wollen Sie mich in Ketten legen?» oder erkundigt sich nach der Reiseroute der Galeere, auf die man ihn zu verbannen gedenke. Auch die helvetische Ironie dient der Entspannung hitziger Debatten: «Wissen Sie was? Sie haben recht! Aber nur bis nach der Kaffeepause.»
Das Fundament des schweizerischen Konsenses ist eindeutig der Diminutiv. Nichts wirkt deeskalierender als «I schicke Dir es Verträgli», «I gloube, mir müesse mau zäme nes Wörtli rede…», «Möge mer no nes Fläschli?» oder «Mir hei drum es Böötli uf em Thunersee».
Einem deutschen Freund ist dennoch kaum guten Gewissens zu raten, er möge das schweizerische Gesprächsverhalten einfach so übernehmen. Viele wichtige Dinge darf man in der Schweiz nicht verniedlichen. Wo Geld, Macht und Autorität im Spiel sind, kann man den Schweizer mit dem Diminutiv leicht beleidigen. Gerade beim Diminutiv bekommt der Schweizer sehr schnell das Gefühl, man mache sich über ihn lustig. Die Verwendung der Endung «–li» im Hochdeutschen klingt wie eine schlechte Parodie. Viele Schweizer würden Deutsche, die vermeintlich helvetische Diminutive in ihre deutschen Sätze einpacken, gerne erwürgen. Aber das widerspräche unserer Deeskalationsstrategie. Wären wir freundlich, würden wir die Deutschen natürlich auf dieses Malheur aufmerksam machen. Aber das tun wir nicht. Wir sind zu höflich.
Wenn schon, sollten Deutsche, solange sie Hochdeutsch reden, beim Verniedlichen auch die korrekte deutsche Endung «–chen» benützen oder dann gleich ganze schweizerdeutsche Floskeln auswendig lernen und zwischen ganz normalen hochdeutschen Sätzen bei Gelegenheit gezielt einsetzen. Mit Sätzen wie «Geits no?!», «Mir isch gliich» oder «Pfinger ab der Röschti» macht man sich eher Freunde als mit «Ich hab mal dort drübe nes Stängeli getrunke, es hat nur drü Fränkli gekostet».
Deutschland hat eine Overstatement-Kultur. Die Schweiz pflegt das Understatement. Schweizer sind tendenziell unsicher und underdressed, dafür gut rasiert, und zwar mit der teuersten Klinge, die gerade zu haben war. Der Schweizer liebt Qualität, aber er trägt sie nicht zur Schau. Je mehr Vermögen ein Schweizer hat, desto kleiner ist das Auto, das er fährt. Dass es vollbepackt ist mit sämtlichen Extras, die ab Werk nicht dabei waren, braucht ja keiner zu wissen. Beim deutschen Autofahrer hingegen sieht man auf den ersten Blick das Maximum, das er sich leisten kann.
Schweizer pflegen das Understatement auch sprachlich, und das bei weitem generöser als nur mittels des Diminutivs. Der Schweizer spricht grundsätzlich mit chaotischer Satzstellung, wobei er grammatikalische Mischtechniken zu verwenden scheint. Sätze wie «Chum, mir göh go nes Kafi go näh» erscheinen uns fraglos geglückt, obwohl sie eigentlich eine grammatikalische Katastrophe darstellen: «Komm, wir gehen gehen einen Kaffee gehen nehmen.» Geradezu eine Passion der Schweizer ist es, Redewendungen zu vermischen: «Jetzt müssen wir mal einen Nagel einschlagen, der Hand und Fuss hat!» oder «Da haben wir das Pferd von hinten auf den Kopf getroffen». Der Schweizer weiss, dass er nicht druckreif Schriftdeutsch sprechen kann, also macht er aus der Not eine Tugend und improvisiert Metaphern sinngemäss. Das Gegenüber weiss dann schon, wie es gemeint war. Und da unterscheidet sich der Deutsche wesentlich vom Schweizer. Deutsche nageln sich gegenseitig grammatikalisch fest. Deutsche sind für Schweizer verbale Bodybuilder. Wenn ein Deutscher seinem Schweizer Gesprächspartner vorhält: «Dies hast Du gesagt!», und der Schweizer erwidert: «Ja, aber ich habe das gemeint…», dann beharrt der Deutsche auf seinem Standpunkt: «Nein, Du hast es so gesagt!» Da kommt im umgekehrten Fall der Deutsche dank der schweizerischen Deeskalationsmischtechnik viel besser davon: «Hast Du vorhin nicht dies gemeint?» – «Nein, ich habe das gesagt!» – «Ach, so hast Du das gemeint…»
Dass das helvetische Gesprächsverhalten, obwohl es weniger geschliffen daherkommt, wegen der durch sprachlichen Unernst beschützten Sachlichkeit zwischen den Zeilen viel effizienter und ergiebiger ist als eine nüchtern präzise Gesprächskultur, zeigt sich schon am Gang der Schweizer Wirtschaft, von Wissenschaft und Forschung ganz zu schweigen.
Die Schattenseiten dieser Konsenskultur liegen in der öffentlichen Zensur im Namen des Konsenses. Selbst unser Humor hat sich zwischen die Zeilen verlegt. Der Konsens lässt weder das unglaublich Schlechte noch das bemerkenswert Gute zu. Auch das Hervorragende und das Aussergewöhnliche werden auf den Konsens zusammengestutzt. Das deeskalierende Understatement artet zeitweilig in Selbstverneinung aus («La Suisse n’existe pas»), in Anbiederung (Bergier-Bericht) und in Selbstzerfleischung (Banken-Vergleich). Aber wenn man es zwischen den Zeilen betrachtet, dann war auch das alles nicht ganz so ernst gemeint. Die Schweiz war nur höflich.