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(6) Als ob die Geschichte zu Ende wäre

Hat die EU-Osterweiterung frischen Wind in die Union gebracht? Nicht wirklich. Alles bleibt beim alten. Anonymität und Konformismus nehmen weiter zu.

Die gegenwärtige Diskussion zu Europa beunruhigt und befremdet mich. Es scheint einen allgemeinen Konsens zu geben, dass die meisten fundamentalen Fragen unserer Zeit irgendwann in der Vergangenheit gelöst wurden und die Geschichte zu Ende sei.

Zu meinem grossen Bedauern haben die neuen EU-Mitglieder aus Zentral-, Ost- und Südeuropa nichts zur Diskussion beizutragen; denn allesamt sind sie in der Zeit zwischen dem Kollaps des Kommunismus und ihrem Beitritt schon vom selben Virus infiziert worden. Länder aus peripheren Regionen könnten zwar frischen Wind entfachen, doch würde dies als Bedrohung empfunden und einen künftigen Beitritt in Frage stellen.

Die unlängst vollzogene Erweiterung wird eine andere Entwicklung begünstigen. Weil alles grösser und komplizierter sein wird, zeigen sich auch die der heutigen EU inhärenten Schwächen deutlicher:

– sowohl das Demokratiedefizit als auch das Fehlen demokratischer Legitimation der EU-Institutionen wird sich klarer abzeichnen als bisher;

– der Entscheidungsprozess wird noch stärker vom demokratischen zum hierarchischen Typus tendieren;

– die Macht der Kern-EU wird verstärkt;

– das Mehrheitsprinzip wird das Einstimmigkeitsprinzip in immer mehr Bereichen verdrängen;

– das Bestreben, von der Norm abweichendes Verhalten auszuschalten, wird zu immer mehr Interventionen der zentralen Instanzen führen;

– die Distanz der Bürger vom Machtzentrum in Brüssel wird grösser werden;

– die Anonymität des Entscheidungsverfahrens wird zunehmen.

All dies ist angesichts des von den Integrationisten vorangetriebenen Projekts einer immer engeren Union unvermeidlich. Der in einer grösseren Union unweigerlich höhere Preis der Entscheidungsfindung wird sich entweder in einem Verlust an Effizienz oder in einem zusätzlichen Defizit an demokratischer Legitimation niederschlagen. Beides ist ein schlechtes Zeichen.

Eine EU-Verfassung (oder allenfalls ein EU-Verfassungsvertrag) wird beide Arten von Kosten noch mehr erhöhen. Die aktuelle Fassung hat einschneidende Konsequenzen, sowohl für die Freiheit und das Wohlbefinden der Bürger als Individuen als auch für die Zukunft der Nationalstaaten. Die neue Verfassung trägt nichts dazu bei, die tatsächlichen Probleme Europas zu lösen – im Gegenteil, sie verdrängt sie. Ich lasse es dahingestellt, ob dies durch einen Mangel an Einsicht oder durch absichtliche raffinierte Planung erfolgt sei.

Die inkohärente Struktur des Dokuments lässt sich einerseits als Zeichen dafür deuten, dass wir wirklich am Ende der Ideologien stehen und der Pragmatismus und der Glaube an die administrative und technologische Machbarkeit gesiegt hat. Aber sie lässt sich auch als Zeichen für das Vorherrschen einer tatsächlich interessenfreien, altruistischen Kooperation und der echten Möglichkeit deuten, «Win-win-Situationen» zu schaffen (ein Begriff, der alle terminologischen Erfindungen von George Orwell in den Schatten stellt).

Unsere Aufgabe ist freilich eine andere. Wir sollten nicht nach der Europäisierung unserer Denkansätze streben; wir sollten vielmehr dafür kämpfen, dass man uns unsere fundamentalen bürgerlichen, politischen und ökonomischen Freiheiten gewährt. Wir brauchen einen internationalen Rahmen, der dies ermöglicht. Wir brauchen offene Märkte, wir brauchen Staaten, die Rechtsstaatlichkeit und Vertragsfreiheit garantieren. Die Alternative dazu ist eine zentral administrierte Gesellschaft jenseits des Nationalstaats und jenseits der Demokratie.

Wir brauchen ein neues Europa ohne Europäismus, ein Europa, das ökonomische Freiheit gewährt, ein Europa mit einer schlanken, nicht expandierenden Regierung, ohne staatliche Bevormundung, ohne pseudomoralisierende politische Korrektheit, ohne intellektuellen Snobismus und Elitismus und ohne supranationale Ambitionen.

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