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(5) Was ich erlebte, war doch ganz normal

Kaum jemand hatte ein Auge für die Kinder, die zu den Bauern in Pflege gegeben wurden und dort für Kost und Logis hart arbeiten mussten.
Suzann-Viola Renninger hat Walter Wegmüller, ein ehemaliges Verdingkind, in Basel getroffen.

«Den Hof reinigen, Kühe putzen, beim Grasen den Rechen ziehen; es gab immer genug Arbeit, um ein kleines Kind einzuspannen. Als mein erster Bauer Holz hackte, musste ich die Scheite zu einer überdachten Stelle an der Hauswand tragen. Ich stand neben ihm und hielt die Unterarme angewinkelt, damit er das Holz darauflegen konnte. Doch meine Arme wurden rasch müde. Er schlang mir ein Seil um den Hals, befestigte daran meine Handgelenke, damit die Arme nicht immer wieder nach unten fielen und er aufladen konnte. Doch auch mein Hals konnte die Last nicht halten, mein Kopf kippte nach vorne, und wieder lagen die Hölzer am Boden. Da schlug er mich grün und blau.

Mein erster Bauer war ein armer Siech, der keinen eigenen Hof besass, sondern ihn nur gepachtet hatte. All diese Kleinbauern waren doch ganz arme Hunde, die von den Grossbauern und den Adelsleuten unterdrückt wurden. Sie muss-ten neben ihrer Kleinbauerei noch auswärts arbeiten, und da ist es ihnen oft übel ergangen. Ein Grossbauer verfügte über mehr Land, der nagte nicht am Hungertuch. Der hatte Schweine, die er schlachten konnte und dazu Hühner auf dem Hof. Der Kleinbauer hatte das alles nicht. Selbst wenn er mal ein Schwein besass, dann musste er es verkaufen, um an etwas Geld zu kommen, er konnte es sich nicht leisten, es selbst zu schlachten und zu essen.

Die ersten vier Jahre meines Lebens verbrachte ich im Kinderheim. Während der Kriegszeit, bis 1941. Verwöhnt worden bin ich dort nicht. Einige der Schwestern haben zugeschlagen, schnell wie der Blitz. Die legten die Kinder, wenn sie etwa das Bett genässt hatten, kurzerhand über ein Rednerpult und verprügelten sie. Es gab jedoch eine Schwester, die war gut zu mir. Sie rieb, wenn mich der ganze Körper schmerzte, die Wunden mit irgendeiner Salbe ein. Und wenn ich nachts wimmerte und Krämpfe in den Beinen hatte, dann nahm sie mich hoch und ging mit mir auf dem Arm umher. Sie stellte sich vor die geschlossenen Fensterläden und zeigte mir durch die herzförmigen Öffnungen die Rehe draussen auf den Feldern. Dort grasten manchmal bis zu 20 Tiere im sich ankündigenden Taglicht. Dieser Anblick beruhigte mich und ist bis heute in meinem Gedächtnis, als ob es gestern erst gewesen wäre.

Als ich vier Jahre alt war, wurde ich eines Tages gerufen, und vor mir stand eine fremde Frau. Eine Schwester sagte zu mir: ‹Schau, dies ist Deine Mutter. Sie ist hier, um Dich zu holen.› Das Kinderheim war in Frutigen, und auf dem Weg nach Aegerten bei Biel kamen die Frau und ich über Bern, wo wir beim Bärengraben eine Pause einlegten. Die Mauer vor dem Graben war höher als ich. Daher kletterte ich hinauf, um mir die Bären anzuschauen. So fing ich mir meine erste Ohrfeige ein. In diesem Moment spürte ich deutlich: ‹Diese Frau ist nicht meine Mutter.› In den nächsten Jahren sagte sie mir zwar immer wieder: ‹Ich befehle, und Du hast zu gehorchen. Denn ich bin Deine Mutter.› Doch ich wusste immer, dass das nicht stimmte.

Meine Bezugspersonen waren die Kühe. Ich sprach und spielte mit ihnen. Oft versteckte ich mich hinter den Bäumen. Eine der Kühe, sie hiess Gamine, kam dann und suchte mich. Unser Hof lag etwas abgelegen, oft stand ich auch auf einem Hügel und blickte zum Nachbarshof, beobachtete dort den Tagesablauf und schaute den Kindern aus der Ferne beim Spielen zu. Ich war damals fünf Jahre alt.

In etwa einem Kilometer Entfernung kampierte eine Zigeunerfamilie mit ihren Wägen. Manchmal, wenn der Bauer mich prügelte und ich aus Angst schrie, konnte ich weglaufen. Ich rannte dann über die Wiese, wo ich so oft mit den Kühen Verstecken spielte, rannte weiter hinauf zu diesem Zigeunercamp. Die Angst trieb mich dorthin. Ich hätte auch zu einem Bauern rennen können, der wäre näher gewesen. Doch rannte ich immer gleich zu den Zigeunern. Auf der Treppe vor der Tür eines Wagens stand jedesmal eine Frau mit verschränkten Armen. Sie hatte den bösen Blick. Sie schrie mich an: ‹Warum heulst Du denn so?› Da hörte ich auf und schaute sie an. Denn ich wusste, jetzt folgt noch etwas. Und sie begann gellend zu lachen. Da begann auch ich jedesmal so zu lachen, dass ich alles vergass. Auf diese Weise nahm mir die Zigeunerin die Angst und die Schmerzen.

Gründe, mich zu verprügeln, gab es immer. Etwa wenn ich etwas Schweinefutter aus den Säcken holte und dabei erwischt wurde. Ich hatte ja immer Hunger. Immer. Mein Bauer schleppte mich dann im guten Glauben, dass die Nachbarschaft nichts mitbekommen würde, in einen Schuppen, schloss die Türen, verstopfte die Fenster mit leeren Säcken, legte mich über ein Fass und schlug zu. Die Nachbarn hörten mich dennoch, denn ich schrie unglaublich laut. Nicht, weil ich wollte, dass sie aufmerksam werden sollten. Ich schämte mich ja. Sondern aus Not und Angst, es war meine Art, mich körperlich zu wehren. Ich schrie auch auf dem Feld, wenn ich auf dem Boden lag während der Bauer seinen Fuss auf meinen Kopf gestellt hatte und zuschlug. Ich schrie und zählte die Ameisen. Die Bauersfrau griff niemals ein. Erst wenn der Bauer von mir abliess, lief sie mir hinterher. Mit einem Schnapsglas und einen Stück Stoff in der Hand, um meinen offenen Rücken zu versorgen. Das hat so gebrannt, da bin ich dann immer gleich ein zweites Mal bewusstlos geworden.

Man wird ja schlau, wenn man sich auf solch einem Minenfeld bewegt. Ich entwickelte einen speziellen Spürsinn, wann der Bauer wieder losschlagen würde. Wenn er etwa im Dorf von den Grossbauern gehänselt worden und besoffen war, dann war es besser, nicht in seine Nähe zu kommen. Eines Tages fiel mir auf, dass er kein Blut sehen konnte. Daher ritzte ich mich immer dann, wenn er wieder in Prügellaune war, irgendwo am Finger oder sonstwo am Körper und schmierte das Blut gut sichtbar auf meinen Kopf. Wenn er das Blut dann dort sah, war er zufrieden und musste nicht mehr prügeln.

Intelligenz hatte der Bauer wahrscheinlich schon. Aber es fehlte das Geld, um sie zu nutzen. Und daher soff er. Ihm ging es nicht gut. Das waren ja dramatische Umstände damals. Für viele, nicht nur für ihn. Doch wo lud der Bauer die Aggressionen ab? Beim Vieh und dem Verdingknaben. Also bei mir.

Viele, viele Jahre später, meine eigenen Kinder waren schon gross, bin ich zusammen mit meiner zweiten Frau wieder an diesen Ort zurückgekommen und habe meine damaligen Nachbarn besucht. Waren die überrascht, als das ehemalige Verdingkind auftauchte! Der alte Nachbar lebte noch, und ich fragte ihn, ob er mich damals nicht gehört hätte, wo ich doch so gellend geschrieen hätte, dass mir von diesem Training bis heute eine kräftige Stimme geblieben sei. Er antwortete mir, dass er nichts hätte unternehmen können, hätte er doch auf sich und seine Familie schauen müssen. Er hatte sein eigenes Drama, hatte es auch nicht leicht. Zum Abschied schenkte er uns eine Flasche Birnenschnaps mit den Worten: ‹Wir konnten uns nicht für Dich wehren. Du musst uns verstehen.› Ach, die hatten alle solche Probleme zu jener Zeit.

Vielleicht erzählte irgendein Nachbar oder sonstjemand schliesslich doch etwas. Denn eines Tages, ich war neun Jahre alt, kam mein Vormund. Sonst sah ich den immer nur einmal im Jahr – ich war sein 49. Mündel – und er fragte dann: ‹Walterli, wie geht es Dir? Sicher nicht schlecht. Schön hast Du es hier.› Dabei war ihm das doch vollkommen egal, er schien nicht zu sehen, dass ich spindeldürr und mein Körper von oben bis unten vernarbt war. Diesmal aber musste er sich wohl oder übel genauer mit mir beschäftigen und fragte: ‹Walterli, wenn Du von hier weggehen könntest, wohin würdest Du am liebsten gehen?› Ich schaute auf die weissen Berggipfel, die ich hinter dem Wald leuchten sah und antwortete: ‹Dorthin. Dort hinauf möchte ich.› Kurz darauf wurde ich einen VW gesetzt und weggebracht.

Der neue Bauer war gar nicht so schlecht. Er war ein Grossbauer, hatte sogar ein Telefon. Seine Kinder waren schon draussen und studierten. Er war im Gemeinderat, kein Dummkopf also. Doch bei der Bäuerin, bei der musste ich aufpassen. Sie besass einen falschen Charakter und schlug gerne zu. Oft strafte sie mich, indem sie mich länger arbeiten liess oder mir das Essen entzog. Es war wohl System; die Verdingkinder sind immer auf einem bestimmten Niveau gehalten worden, über das sie nicht hinauskamen. Ob am Morgentisch oder beim Nachtessen, ob im Stall oder auf dem Feld, immer wurden wir anders als alle anderen behandelt. Ich kam mir wie ein spezielles Wesen vor, irgendetwas zwischen Mensch und Tier, das eine Kraft hatte, an der der Bauer interessiert war und die er ausnutzte. Eine komische Welt.

Oft musste ich jäten und auf dem Acker zwischen den Kartoffeln das Unkraut aus dem Boden reissen. Auf allen vieren kroch ich dann durch die Furchen, Stunde um Stunde, Tag um Tag. Es war sehr mühselig, und die Sonne brannte mir auf den Rücken. Und wenn ich so in den Ackerfurchen kroch, langsam wie eine Schnecke vorwärtskam, betrachtete ich die Farben der Erde, wie sie sich im Laufe des Tages im Sonnenlicht veränderten. Ich beobachtete Licht und Schatten, die Käfer und anderen kleinen Tiere. Ich spürte den Wind und hörte all die verschiedenen Vögel in der Ferne. Und da passierte es, dass ich plötzlich weg war, eins war mit den Pflanzen, den Käfern, den Vögeln, dem Wind, dem Licht und dem Schatten. Ich erkannte in diesem Augenblick, wie unendlich schön die Natur ist. Ich fühlte mich wie im Paradies, spazierte darin – ganz leicht – nach Herzenslust herum. Ich weiss nicht, wie lange. Ich vergass die Zeit. Doch plötzlich wurde ich wieder schwer und überschlug mich, fiel hart auf die Erde. Der Bauer hatte mich ertappt, hatte sich durch das hohe Kartoffelkraut angeschlichen und mir einen Tritt in den Hintern versetzt.

In die Schule ging ich in den Mistschuhen. Zuvor hatte ich die Stallarbeit erledigt, ich war dort immer der erste, stand schon um vier Uhr am Morgen auf. Ich brachte bis zu 200 Liter Milch in die Käserei – der Hund half mir, den Karren zu ziehen –, kam mit der Molke wieder zurück, erledigte die restliche Arbeit im Stall und mistete. Erst danach war Zeit für die Schule. Ich kam immer zu spät. War das jedesmal ein Theater! Im Berner Oberland waren die Verdingkinder in der Schule die schwarzen Schafe. Wen wundert das; wir stanken in unseren alten Lumpen, sahen aus, als ob wir direkt vom Misthaufen kämen, was ja auch so war. Haarewaschen, Nägelschneiden, Zähneputzen. Das gab es für uns alles nicht. Als ich – noch beim ersten Bauern – eine Zahnbürste aus der Schule mit nach Hause brachte, da brach er sie entzwei und sagte: ‹Geht’s eigentlich noch? Hier werden sicher keine Zähne geputzt!›

Die Lehrer waren ein spezielles Pack. Die haben uns Verdingkinder benutzt, um ihre Macht zu demonstrieren. Um vorzuführen, wie gut sie prügeln konnten. Den anderen Bauernkindern, denen ging es gut. Die brachten ja auch immer etwas mit: Käse, Schinkenspeck, Würste. Die konnten noch so blöd sein, die bekamen gute Zeugnisse. Ich war immer schlecht in der Schule, ausser im Zeichnen und Geschichtenerzählen. Nach der sechsten Klasse bin ich von der Schule gegangen, konnte kaum lesen, schreiben oder rechnen. Wie hätte ich es auch lernen sollen! Hausaufgaben konnte ich nie machen, ich musste ja nach der Schule gleich in den Stall oder aufs Feld. Nicht auszudenken, was passiert wäre, wenn ich gesagt hätte, ich müsse jetzt erst die Aufgaben erledigen. Das mag alles sehr dramatisch klingen, dabei war es ganz normal, was ich so erlebte. So erging es doch vielen. Da hat sich niemand weiter drum Gedanken gemacht.

Vor allem ein Lehrer in der Schule quälte und prügelte mich ständig. Vielleicht wollte er mir dadurch die Dummheit aus dem Kopf treiben. Als ich eines Tages vor der Tafel stand, schlug er wieder einmal meinen Kopf hart daran und gab mit dem Ellenbogen noch eins hinterher. Darauf trat ich ihm mit meinem Mistschuh in den Hintern. Das war gar nicht so leicht, denn ich war ja klein und er gross. Ich verlor dabei das Gleichgewicht, fiel um, stand jedoch sofort wieder auf und lief wieselflink weg. Ich kam nicht mehr zurück, ich schwänzte die Schule und ging stattdessen in den Wald. Das machte ich vierzehn Tage so. Statt in die Schule, ging ich in den Wald zu den Tieren. War ich glücklich dort!

Doch als ich am fünfzehnten Tag nach Hause kam, frage mich der Bauer, was ich heute in der Schule gemacht hätte. Da wusste ich, dass er es rausbekommen hatte. Denn so etwas hatte er zu mir bisher noch nie gesagt. Kurz darauf kamen vier Männer in einem VW angefahren: mein Vormund, ein Psychiater, ein Polizist und eine Person von der Behörde. Ich dachte, es sei jetzt so weit, dass ich ins Gefängnis komme.

Die vier befragten mich, wollten wissen, warum ich nicht in die Schule gegangen sei. Schliess-lich erzählte ich ihnen von dem Lehrer, wie er mich geprügelt und gequält habe, und wie er mich etwa an den Haaren genommen – ich war ja so leicht –, hochgehoben, geschüttelt und wieder auf den Boden habe fallen lassen Dabei hatte er mir jedesmal einen Büschel Haare ausgerissen, den ich aufgehoben und in meinen Schultornister gelegt hatte. Bald hatte ich so viele beisammen, dass es für eine Perücke gereicht hätte. Die vier meinten, es seien Lügen, als sie das hörten. Da lief ich in meine Kammer und holte aus meinem Tornister die Haare, die ich in eine Zeitung eingeschlagen hatte. Der Psychiater schaute alles genau an und sagte nach einer Weile: ‹Es stimmt, was der Bub erzählt. Die Haare sind ausgerissen.› Und so kam es, dass sie mir glaubten. Zu dem Lehrer musste ich nicht mehr zurück.

Der VW verfrachtete mich in eine Jugend-anstalt in der Nähe von Bern. Jeden Morgen, wenn wir den Parcours entlang dem Zaun laufen mussten, habe ich nach Löchern gesucht. Ich war so mager und klein, dass ich eines morgens durch eines durchschlüpfen und fliehen konnte. Doch schon am Abend schlich ich wie ein räudiger Hund zurück und bin durch das Loch wieder hineingeschlüpft. Ich wurde verprügelt und eingesperrt.

In diesem Heim gab es einen Psychiater, der einen Bericht über mich schreiben sollte. Wahrscheinlich der Grund, warum ich dorthin gebracht worden war. Der Psychiater nahm mich mit in sein Zimmer. Dort befahl er mir, mich auf seinen Schreibtisch zu setzen, und er rückte in seinem weissen Kittel mit seinem dicken Bauch nah an mich heran, einen schwarzen Stift mit goldener Mine in der Hand. Ich musste die Beine spreizen, er drängte sich dazwischen, stützte die Arme auf meine Beine, schaute mir in die Augen und sagte: ‹So Walter, jetzt machst Du das, was ich Dir erzähle. Alles, was Du nicht machst, bekommt Dir nicht gut. Denn dann musst Du hier noch viel länger bleiben.› Er trat zurück und befahl: ‹Zieh Dich aus. Komm runter vom Tisch und zieh Dich aus.› Widerwillig rutschte ich herunter. Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Es muss einen Selbsterhaltungstrieb geben, der einen in solchen Momenten informiert. Sehr langsam begann ich die Schuhbändel zu lösen und erhielt die erste Ohrfeige. Er herrschte mich an: ‹Das geht auch schneller!› Da zog ich die Schuhe schneller aus und dachte, ich könne ja bei den Socken wieder verlangsamen. Doch er befahl: ‹Und jetzt komm wieder auf den Tisch!› Als ich dort sass, verlangte er: ‹Lass die Hosen runter!› Doch ich liess sie nicht runter. Ich liess sie nicht runter. Er schlug zu, wollte, dass ich die Beine wieder spreizte und sagte: ‹Wenn Du es nicht schaffst, ich schaffe es.› Dann öffnete er mir die Hosen. Doch ich sprang wie ein Wiesel vom Tisch. Ich wehrte mich.

Er schaffte es nicht. So musste ich alle meine Sachen zusammensuchen und wurde in mein Zimmer eingesperrt. Am Abend erhielt ich nichts zu essen. Monate später kam wieder der VW, und bald darauf war ich bei einem neuen Bauern in einem anderen Dorf, wo ich eine andere Schule besuchen konnte.

Gut lesen und schreiben lernte ich nicht mehr; denn bald darauf musste ich die Schule verlassen. Meine Vormundschaft wollte, dass ich beim Bauern bleiben und diesen Beruf auf Dauer ausüben, selber zum Kleinbauern werden sollte. Doch ich äusserte den Wunsch, Kunstmaler, Dekorateur oder Graphiker zu werden. Dabei wusste ich gar nicht genau, was das war. Ich war nur schon immer gut im Zeichnen gewesen. Hatte mir Bilder und Muster angeschaut und gezeichnet, wann immer es möglich war. Das war das einzige, was ich konnte. Ich spürte vage, dass diese Berufe etwas damit zu tun hätten.

Ich kämpfte und wehrte mich so lange, bis der Vormund aufgab, nicht länger darauf beharrte, mich bei den Bauern zu lassen, und mir eine Lehrstelle bei einem Malermeister besorgte. Dort war ich der der 42. Lehrling, und ich hatte es dort gut. Ich besuchte die Gewerbeschule, und mein Lehrmeister stellte seinen Vorarbeiter mehrmals in der Woche ganze Tage ab, damit er mir half, Schreiben und Rechnen und alles andere zu lernen, was ich für meinen Abschluss brauchte. Das hatte nichts mit Liebe zu tun, sondern mit Ausbildung; denn die hatten gemerkt, dass ich Talent hatte. Ab dieser Zeit habe ich immer gezeichnet, Bilder gemalt und Skulpturen gemacht. Bis heute. Inzwischen bin ich kein Baumaler mehr, der Särge mit Holzdekor bemalt, sondern ein Kunstmaler, der Bilder auf die Leinwand schreibt. Ja, schreibt, den ich bin eigentlich ein Schreiber.

Soviele Jahrzehnte habe ich dies alles verdrängt. Zeitweise habe ich geblufft, habe mich aufgespielt und brandschwarz gelogen, dass ich aus einer wohlhabenden und einflussreichen Familie sei. Ich hatte Angst, dass ich sonst niemand gewesen wäre. Das ist jetzt nicht mehr so. Inzwischen bin ich über 70. Das ändert manches.»

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(0) Auftakt

In den Pflegefamilien wurden sie meist nicht mit Namen genannt; sie hiessen schlicht Verdingmädchen oder Verdingbub. Noch vor 50 Jahren gehörten die Verdingkinder – ein Wort, das nur das Schweizerdeutsche kennt – zum ländlichen Alltag und arbeiteten für Kost und Logis bei fremden Bauern. Heutzutage rufen die nackten Zahlen meist ungläubiges Kopfschütteln hervor, und die […]

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