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(5) Urbane Umwertung der Werte

Sicherheit regiert die Stadt. Sie zieht sich durch die unterschiedlichsten Räume und Massstäbe – bis in die geheimsten Winkel des Subjekts.

«Zu ihrer Durchsetzung muss sich die Macht mit einer ununterbrochenen, erschöpfenden, llgegenwärtigen Überwachung ausstatten, die imstande ist, alles sichtbar zu machen, sich selber aber unsichtbar.Ein gesichtsloser Blick, der den Gesellschaftskörper zu seinem Wahrnehmungsfeld macht: Tausende von Augen, die überall postiert sind; bewegliche und ständig wachsame Aufmerksamkeiten.»

Michel Foucault, «Überwachen und Strafen», 1975

Den Diskursen des Sicherheitsmarkts ist eine Serie höchst wirksamer Innovationen gelungen. Boris Groys versteht Innovation als Umwertung von Werten, als kulturökonomische Form des Tauschs. Die erste Umwertung betrifft das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit. Seit das bürgerliche Freiheitsideal gilt, wird diese Beziehung hierarchisch gedacht: Freiheit vor Sicherheit. Bislang hatte Freiheit ihren Platz im «valorisierten» Raum des «kulturellen Archivs», Sicherheit dagegen ist selbstverständlicher Bestandteil der Alltagswelt. Erstmals beginnt sich jetzt dieses Verhältnis in sein Gegenteil zu verkehren. Wir sind Zeitgenossen dieses Umwertungsprozesses. Täglich können wir sehen, wie unzählige Formen von Sicherheit aufgewertet und parallel dazu Freiheiten abgewertet werden, wie Sicherheit mit neuen Formen von Sozialprestige verknüpft wird – man lässt sich bewachen wie sonst nur Spitzenpolitiker und Hollywoodstars – und Freiheiten zu entbehrlichen Grössen degradiert werden.

Wie sonst wäre es vorstellbar, dass rechtsstaatliche Institutionen mit rücksichtsloser und verblüffender Selbstsicherheit darangehen, Räume unterschiedlichsten Typus, mit Überwachungsinstrumenten zu bestücken? Wie zu erklären, dass der Nichtrespektierung des Rechts auf Sicherung der Privatsphäre und auf Anonymität im öffentlichen Raum kein Widerstand entgegengesetzt wird? Dies alles unter zwei spektakulären Voraussetzungen: prophylaktisch und in rechtlich ungesichertem Raum. Bedurfte es früher eines Anlasses für die Präsenz von Überwachungs- und Strafbehörden, so sind sie heute immer schon da. Bevor etwas passiert. Eine neue Generation von outlaws, rekrutiert aus den rechtsstaatlichen Institutionen selbst, ist im Entstehen begriffen.

Auch das Selbstbild des Menschen wird radikal umgebaut. Die Menschen verlieren ihre Kontur, ihre Grenze, sie erweitern sich virtuell zu verfügbarem Material. Über die Dauer ihrer Anwesenheit im medial vervielfachten Raum entscheiden nicht sie selbst. Sie können als Bild jederzeit wiedergeholt, betrachtet, vergrössert werden. Wenn sie sich ausziehen, umziehen, ihr Äusseres verändern, trennen sie sich nicht wirklich von ihrer Vergangenheit. Immer gibt es da jemanden, der sie in vergangener Aufmachung wieder sichtbar machen kann. Auch über Zeitgrenzen von Situationen verlieren sie die Kontrolle. Ihr Bild von sich selbst wird um jene ihnen selbst unbekannten Bilder erweiterbar, unter Aufsicht und Kontrolle anderer. Die Wahrheit über sich zu sagen oder nicht zu sagen, liegt nicht länger bei ihnen allein – jederzeit kann etwas über sie zum Vorschein kommen, von dem sie nichts wussten. Jeder wird sich selbst ein anderer. Zunehmend beginnt man dem Bild von sich selbst zu misstrauen, weil jetzt auch andere mitreden, mitbeweisen: radikale Reorganisation des psychologischen Raumes.

Wenn die Welt draussen, die Strassen, die Räume und Institutionen sich gegen die Menschen wappnen, dann wappnen sich die Menschen ihrerseits gegen alles da draussen. Die zunehmende Ausstattung privater Haushalte mit Sicherheitseinrichtungen zeigt, wie gross das Begehren ist, sich und alles, was zum eigenen Reich gehört, in diesem aufgewerteten Raum der Sicherheit zu wissen.

Was Städte einmal charakterisierte, dass man dort Fremder unter Fremden war oder sein konnte, brauchte Anonymität, Grösse, Unübersichtlichkeit – Begriffe, die einst mit Freiheit konnotiert wurden und heute fast schon zu Begriffen für das Böse geworden sind. Die urbane Stadt ist gefährdet. Wir sind heute beinahe bei ihrem Gegenbild angekommen.

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(0) Auftakt

«Urbanität». Das Schlagwort suggeriert «Weltläufigkeit», «Modernität», «Aufgeschlossenheit». Wer sich als «urban» bezeichnet, sieht sich als «gebildet», «kreativ», «unabhängig». Vom hochnäsigen und dünkelhaften «Städter» – dem Schimpfwort von einst – ist wenig übriggeblieben. Kulturkritik, die in der Stadt das Dunkle und Verruchte ausmacht, ist passée. Die Menschen zieht es wieder in die urbanen Zentren. Für viele […]

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