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(5) Um elf Uhr forderten wir die Einführung der Demokratie

12 Tage Aufstand, erst Hoffnung und Euphorie, dann der Einmarsch der Sowjets, schliesslich die Flucht nach Österreich, Aufnahme als politische Flüchtlinge in der Schweiz. Ausbildung, Heirat, Einbürgerung, Berufs- und Familienleben. Eszter Berger-Bone und Mátyás Gödrös, beide1956 in die Schweiz geflohen, sowie Béla Batthyány, ein Sohn der Flüchtlingsgeneration, erzählen von der Zeit zwischen 1956 und 2006.

Mátyás Gödrös: Jetzt sind es also 50 Jahre. Alle 10 Jahre fragen die Zeitungen nach Interviews und Berichten. Doch mit den Jahren verschieben sich die Fakten, die wichtig sind und die Ansichten verändern sich.

Wir wurden von Anfang an oft gefragt: nun wie war das? Hast Du selber geschossen? Hat man auf Dich gezielt? Sah es dann allerdings so aus, dass man selbst sehr heldenhaft dastand, dann hat man gemerkt, ah, das glaubt mir sowieso keiner. Es gab ja auch wirklich sehr viele, die Heldentaten erzählten, die sie nie begangen hatten. Auch ich musste mich schon mal korrigieren: Moment mal, erzähle ich das, was ich erlebt habe oder etwas, was jemand anderes erlebt hat? Und zwar ungewollt und im besten Glauben.

Ich finde, «56» war dermassen heldenhaft – was immer man auch dazudichtet, es ist zu wenig im Vergleich zu dem, was tatsächlich passiert ist. Doch die allergrössten Helden leben nicht mehr, sie wurden sofort hingerichtet.

Ich war damals ein Student im ersten Semester an der Landwirtschaftlichen Hochschule in Gödöllö, ein neunzehnjähriger kleiner Junge eigentlich. Bis zum 23. Oktober haben wir nur mitbekommen, dass irgendetwas läuft. Eine Organisation, die diesen Tag vorbereitet oder geplant hätte – das ist historisch wichtig – gab es nicht. Es gab irgendwelche Bestrebungen im Zentralkomitee, man murrte im Volk, man hörte etwas, in den Zeitschriften gab es freiere Texte. In der bekanntesten Literaturzeitschrift etwa, der Irodalmi Újság, dem Leitblatt der Revolution, gab es mehr und mehr unzensierte Artikel, sogenannte mutige Artikel. Dieser Mut, der immer mehr um sich griff, der war das Merkmal dieser Zeit.

Am 23. Oktober 1956 traf sich frühmorgens die Studentenschaft. Um neun Uhr forderten wir, der Russischunterricht solle reduziert werden. Gegen halb zehn, das Fach «Marxismus-Leninismus» solle fakultativ und nicht mehr obligatorisch sein. Um elf Uhr forderten wir die Russen zum Verlassen des Landes auf. Wir forderten die Einführung der Demokratie und des Mehrparteiensystems. Das ist keine Übertreibung, das war so.

Nicht nur bei uns an der Universität ist es so abgelaufen, sondern auch in den Fabriken und vor allem im Bewusstsein der Leute. Man nahm einen tiefen Atemzug und sagte das Andere, das, was man zuvor nie gewagt hatte zu sagen. In Gedanken war man so innerhalb eines Tages soweit, dass man am Abend die Freiheit forderte. Die bis zu diesem Moment durch den stalinistischen Terror und die überzüchtete Geheimpolizei eingeschüchterten Leute griffen plötzlich zu den Waffen. Niemand hat damit gerechnet. Und das ist das Einmalige und Unvergessliche. Für mich ist das heutzutage noch ein Wunder. Erklären kann ich das nicht.

Die Waffen hat man am späten Nachmittag aus den Waffenfabriken geholt. In Ungarn durften zu jener Zeit Privatpersonen keine Waffen besitzen. Am Abend des 23. habe ich erlebt, dass an einer Strassenecke, in der Nähe des Radiogebäudes, plötzlich ein Laster mit Waffen stand. Leute, vermutlich die Arbeiter der Waffenfabrik, verteilten dort fabrikneue Maschinenpistolen. Ich habe da noch keine genommen, da ich einen Kampf mit Waffen nicht für möglich hielt. Wir waren eine friedlich demonstrierende Gruppe. Wir schrieen patriotische Parolen: Nein Jungs, wir haben mit diesen Waffen nichts zu tun. Lasst uns vorwärts gehen, lasst uns zum Radio gehen. Friedlich. Ungar schiesst auf Ungar nicht.

Wir marschierten also bis zur Brody-Strasse. Plötzlich sah ich vor mir die Mündungsfeuer einer Salve. Neben mir wurden zwei Leute getroffen. Ich warf mich zu Boden. Plötzlich war Krieg.

Eszter Berger-Bone: Am 23. Oktober wollte ich mit meiner Freundin in die Schule gehen. Doch meine Mutter sagte: Ihr dürft nicht gehen, Ihr müsst hinunter zum Kossuth-Platz, man wird den Roten Stern wegnehmen. Ihr müsst mitkommen, das werdet Ihr Euer Leben nicht vergessen. Heute ist Revolution.

Zur dritt sind wir zum Parlament, meine Mutter, meine Schwester und ich. Alles war sehr friedlich, alle waren sehr nett zueinander und es wurde die Hymne gesungen. Jemand schrie: wir müssen den Roten Stern herunterholen, es ist Revolution. Und plötzlich wurde in die Menge geschossen. Rufe überall, die Russen seien da. Menschen fielen um, da und dort war einer tot. Alle Leute rannten davon. Wir verloren unsere Mutter und versuchten in ein Haus zu rennen. Doch die Türen waren alle verschlossen. Zum Schluss versteckten wir uns im Keller unseres Hauses. Am nächsten Tag kamen dann die Panzer. Sie schossen in die Häuser. Es war schrecklich. Ich hatte fürchterliche Angst vor den Russen. Ich war damals 13 Jahre alt.

Mein Vater war als politischer Gefangener im Gefängnis. Wir sprachen darüber, dass er nun freigelassen würde. So war es dann auch, und ich sah ihn zum erstenmal in meinem Leben. Wie mager er war! In seiner gestreiften Kleidung war er aus dem Gefängnis gerannt. Plötzlich war er draussen, die grosse Freiheit war da. Doch er wusste nicht, was er mit ihr machen und wohin er gehen sollte.

Mátyás Gödrös: Die Demonstrationen wurden verboten und wieder erlaubt. Unsere Parole war, im Namen der polnisch-ungarischen Freundschaft zum Denkmal des polnischen Generals József Bem zu ziehen, eines Helden der 48er Revolution. Von dort aus ging eine Gruppe zum Radio, wo die 10 Punkte der ungarischen Revolution vorgelesen werden sollten, ad hoc formulierte Forderungen nach Pressefreiheit, freien Wahlen, Demokratie, Mehrparteiensystem… Als die Abordnung der Demonstranten diese Punkte im Radio vorlesen wollte, wurde dies mit Waffengewalt verhindert.

Es begannen blutige Strassenschlachten. An gewissen Knotenpunkten war der bewaffnete Aufstand, auf den Strassen demonstrierte das Volk, es baute Barrikaden und verhinderte die Truppenbewegungen der Russen. Die Demonstrationen und die Kämpfe liefen parallel. Zwar hatte ich eine Waffe, aber ich kam nicht dazu, zu schiessen. Auf mich schoss man oft, aber immer nur dann, wenn ich gerade friedlich demonstrierte. Bei dem berühmten Blutbad vor dem Parlament, bei den Schüssen vom Dach des Landwirtschaftsministeriums, da war ich als Demonstrant dabei.

Es dauerte fünf oder sechs Tage, dann hatte der Aufstand gesiegt. Es war unvorstellbar. Die russischen Truppen und ihre Panzer, die Geheimpolizei, ein bis aufs letzte, minutiös geplantes Unterdrückungssystem – alles löste sich in nichts auf.

Für mich mit meinen 19 Jahren war das eine euphorische Zeit. Ich war ja eigentlich, von heute aus betrachtet, ein kleiner Junge. Doch plötzlich stand ich da als Retter der Nation. Es war ein Hochgefühl. Einmal wartete ich in einer Schlange von Leuten, die um Brot anstanden. Meinen Kleidern war anzusehen, dass ich aus dem Gefecht kam. Und da sagten sie zueinander: Geht auf die Seite, seht Ihr nicht, wer da ist. Ältere Leute, die eigentlich nichts für die Jugend übrig hatten, machten mir Platz. – Die Euphorie stammte auch aus der Frage, bin ich nun zum Sterben bereit oder nicht? – so lächerlich das heutzutage und hier auch klingen mag. Ich hatte Glück, denn als ich mich dazu bereit fühlte, da kam es zu keiner bewaffneten Auseinandersetzung.

Was ich noch sagen möchte: dass die ganze Stadt kämpfte, das ist nicht wahr. Echt, mutig und gut hat nur das Proletariat gekämpft, die Arbeiter aus den Fabriken. Aus den guten Quartieren, aus denen auch ich stamme, waren nur wenige dabei. Ich schämte mich für meine Klasse. Mein Bruder erzählt gerne die Szene, als ich während der Kämpfe einmal nach Hause kam. Ich hängte meine Maschinenpistole an der Garderobe auf und sah meine Familie, wie sie aus Porzellanschüsseln Hühnersuppe ass. Und da schrie ich laut: Das ungarische Proletariat blutet und hier fressen die Bürger. Das klingt lächerlich klassisch, aber genauso war es.

Eszter Berger-Bone: Wir versteckten uns während dieser Tage im Keller. Irgendwann sagte dann meine Mutter: pack Deine Sachen, wir flüchten. Mein Schatz war ein kaputter Füllfederhalter. Und meine Zahnbürste. Mehr nahm ich nicht mit. Meine Mutter, meine Schwester und ich fuhren ein Stück mit dem Zug, danach waren wir drei Tage per Fuss unterwegs, nachts liefen wir, untertags versteckten wir uns. Ein ungarischer Grenzpolizist half uns über die Grenze nach Österreich. An der Grenze raffte ich noch auf ungarischer Seite etwas Erde zusammen. Ich weinte und dachte, dass ich nie wieder zurück nach Ungarn komme. So sentimental war ich!

Mátyás Gödrös: Am 4. November war alles entschieden. Der Kampf war verloren. In dem Moment, als die Russen zurückkamen, war klar, dass es keine Chance mehr gab. Ich glaubte tags zuvor noch an das Wunder, wir feierten den Sieg, tags darauf war ich schon auf der Flucht. Während ich über die ersten fünf Tage des Aufstands gut erzählen kann, fängt danach meine Erinnerung an zu verschwimmen.

Nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs und des Stalinismus dachten wir, jeder im Alter zwischen 15 bis 25 würde nun nach Sibirien gebracht. Wir glaubten, es bliebe jetzt kein Stein mehr auf dem anderen. Wir verliessen Ungarn.

Eszter Berger-Bone: In Österreich hatte mein Mutter eine Freundin, eine Gräfin, die in Wien in einem Schloss wohnte. Diener mit Glacéhandschuhen empfingen uns, und ich wurde mit den Worten «Gnädiges Fräulein» angeredet. Die Gräfin ermöglichte uns, in die Schweiz zu kommen. Meine Mutter sagte, die Schweiz sei nicht so weit, sie läge noch in Europa, es sei dort Frieden und uns könne dort nichts passieren.

Mátyás Gödrös: Vor allem bei uns Jungen gab es sehr romantische Vorstellungen. Es gab einige Flüchtlinge, die wollten nach Paris, um Künstler zu werden, andere wollten nach Amerika, um dann später mit viel Geld und einem dicken Auto zurückzukommen. Auch ich wollte nach Amerika. Als ich vor der Botschaft in der Schlange stand, da haute mir ein Freund aus Budapest auf die Schulter und sagte: Komm doch in die Schweiz, am Vormittag gehen wir auf die Universität, am Nachmittag fahren wir Slalom auf den Hügeln von Zürich. Zwei Tage später war ich dann schon dort. Bisher hatte ich die Schweiz nur als Briefmarkensammler gekannt, ich wusste von Wilhelm Tell, und mein Vater las Gottfried Keller.

Eszter Berger-Bone: An der Schweizer Grenze mussten wir unsere Kleider abgeben, wir wurden entlaust und desinfiziert. Aus dem Vorrat des Roten Kreuzes suchten wir uns neue Kleidung. Ein Bus brachte uns nach Hemberg im Toggenburg in ein Auffanglager, dort bezogen wir dann ein Hotel. Am ersten Abend gab es ein grosses Fest, die Tische waren wunderschön gedeckt, und wir Kinder dachten, nun kämen die Schweizer Grafen und Adligen. Und da erschienen die Toggenburger in ihrer Tracht.

Mátyás Gödrös: Schon in Österreich wurden die Studenten aus den verschiedenen Lagern herausgeholt und in Wien gesammelt. In einer Art Studentenzug, organisiert von der Studentischen Direkthilfe Schweiz-Ungarn, erreichte ich Zürich. Unter den 16’000 Ungarn, die in die Schweiz kamen, waren nur wenige Frauen.

In Zürich wohnte ich die erste Zeit in der Zinnengasse in einem Studentenheim für ungarische Flüchtlinge. Ich sprach Deutsch, wenn auch nicht sehr gut, denn meine Mutter war eine geborene Deutsche, die uns immer gesagt hatte: Ihr müsst Deutsch lernen, denn eines Tages geht Ihr ins Ausland. So wurde ich in Zürich von der Studentischen Direkthilfe Schweiz-Ungarn zum Dolmetscher ernannt und musste die Aufnahmegespräche mit den ungarischen Studenten übersetzen.

Eszter Berger-Bone: Ich sprach kein Deutsch, bis auf einen Satz. Diesen hatte ich kurz vor der Flucht gelernt: Der Vater, die Mutter und die Kinder bilden die Familie.

Von Hemberg aus sind wir nach Schaffhausen gekommen. Dort sind wir sehr herzlich von einer Familie aufgenommen worden. Es war ein schöne Zeit. Nach zwei, drei Wochen kam mein Stiefvater nach. Er sprach Deutsch und bekam sofort eine Stelle als Ingenieur bei der Stadt. Die Pfadfinder richteten uns eine eigene Wohnung ein, mit Sachen aus dem Brockenhaus. Es hiess: Hier habt Ihr eine Wohnung, alles gehört jetzt Euch.

Mit meiner Schwester ging ich für ein halbes Jahr in ein Internat nach Rorschach. Dort haben wir Deutsch sprechen gelernt, später besuchten wir dann in Schaffhausen die Schule. Ja, es war eine schöne Zeit. Meine Eltern arbeiteten beide und verdienten Geld. Mit der Zeit gaben wir den Pfadfindern alles zurück, was sie uns überlassen hatten.

Mátyás Gödrös: Die Anteilnahme der Schweizer an unserem Schicksal war sehr gross. Bald nach meiner Ankunft erschien im Studentenheim ein Herr, der sagte, er möchte einen protestantischen ETH-Studenten, einen Ungarn, unterstützen und bei sich zu Hause aufnehmen. Man sagte ihm, sie hätten hier einen katholischen Medizinstudenten. Er war einverstanden.

So wohnte ich bei ihm und seiner Frau – sie hatten keine Kinder – für einige Monate. Doch ich konnte mich nicht gut genug anpassen. Einmal gab er mir etwa Geld, damit ich mir neue Kleider kaufe. In der Langstrasse habe ich mich dann eingekleidet. Italienisch. Spitze Schuhe, ein gestreifter Anzug. Am Abend wollte ich stolz vorführen, was ich gekauft hatte. Doch die Enttäuschung auf den Gesichtern war gross. Ich merkte, irgend etwas war nicht gut. Und als ich fragte wurde mir gesagt: Du hättest Schuhe kaufen müssen, die tragfähig sind, mit dicken Sohlen, und einen grauen Anzug… Und dann gab es noch die Sache mit dem Dienstmädchen. Sie hatte ihr Zimmerchen direkt neben meinem. Nun, wie hätte es anders sein können, wir hatten ein Verhältnis miteinander. So musste ich gehen, auch dem Mädchen wurde gekündigt.

Mit einem Stipendium konnte ich studieren, ich musste die Prüfungen ablegen, das Geld zurückzahlen musste ich jedoch nicht. Ich hatte während dieser Zeit schlimme Heimwehattacken und verfolgte die weiteren Ereignisse in Ungarn genau. Meine Eltern sah ich erst 10 Jahre später wieder, als sie mich in der Schweiz besuchen konnten.

Wer eingebürgert wurde, der konnte nach Ungarn reisen. Für die Frauen war das einfacher. Wenn sie heirateten, erhielten sie den Schweizer Pass. Auch ich habe geheiratet, eine Schweizerin, aber ein Mann bekam den Pass dafür nicht automatisch. Ich bin erst nach 31 Jahren eingebürgert worden; das war sehr spät, lange nach all den anderen.

Mein Glaube an die Schweiz wurde damals das erstemal erschüttert. Zusammen mit einem Kollegen hatte ich zum 20-jährigen Jahrestag des Aufstands einen Film für das Schweizer Fernsehen gedreht. Vielen meiner ungarischen Landsleute gefiel er nicht. Ich wurde denunziert und es wurde mir unterstellt, dass ich vermutlich mit Moskau in Verbindung stehe. Das stimmte natürlich nicht. Doch es genügte, dass ich nicht eingebürgert wurde. Eine lustige Seite hatte das alles: ich war Zahnarzt, hatte Frau und Kind und alle bürgerlichen Attribute um mich herum, und doch besass ich noch immer nur den kleinen blauen Flüchtlingspass.

Als ich endlich meinen roten Schweizerpass bekommen hatte, sass ich schon am selben Abend im Flugzeug. Am Morgen ging ich, wie früher auch, in ein Café und bestellte einen Espresso und eine Cremeschnitte. Da drehte sich die Serviererin um und sagte laut zu allen: Unser in die Fremde getriebener Sohn wünscht sich einen Espresso und eine Cremeschnitte. Ich war verblüfft, ich hatte auf ungarisch bestellt, ich hatte sonst nichts weiter gesagt, ich war nicht auffällig gekleidet. Ich weiss nicht, was mich entlarvte.

Béla Batthyány: Meine Eltern sind beide Ungarn. Meine Mutter war schon 1947 in die Schweiz gekommen. Mein Vater 1956, da war er vierzehn. Wir wuchsen ausserhalb von Zürich auf. Ich war der älteste von drei Brüdern. Ich sprach anfangs nur Ungarisch. Erst als ich mit drei raus auf den Spielplatz kam, habe ich Deutsch gelernt. Ab da hatte ich eine Innen- und eine Aussensprache: Ungarisch und Deutsch. In der Primarschule stellte ich fest, dass die Kinder dort nur Schweizerdeutsch sprachen. Das ist ein wichtiges Merkmal meines Zweitgenerationsdaseins. Ich habe den Schweizer Akzent imitiert, um nicht damit aufzufallen, dass ich besser Hochdeutsch sprach als die anderen. So kam es, dass ich in der Schule ein falsches Hochdeutsch gesprochen habe.

In der Pubertät begann ich langsam zu merken, dass mein Vater nicht so oft zu Hause war wie die Väter anderer Kinder. Da war irgend etwas in der Stadt, jeden Mittwoch, jeden Donnerstag, jeden Samstag. Erst jetzt wurde ich neugierig, was es war. Schon als Kind war ich oft auf ungarischen Festen gewesen. Dadurch wusste ich schon, dass die Ungarn eine ganz andere Gesellschaft sind. Mit ihnen war es viel lauter, viel lustiger als ich es aus der Vorstadt kannte, wo ich lebte.

In der Zürcher Altstadt gab es diese Kneipe, die Bodega. Dort sassen die älteren Herren am Nachmittag, eine laute und lustige zehn- bis fünfzehnköpfige Runde. Alle waren ’56 in die Schweiz gekommen. Diese Kneipe war für meinen Vater und seine Freunde so etwas wie ein kleines Ungarn. Ich hatte ein gemischtes Gefühl; einerseits war ich begeistert von dieser Freundschaft und Geselligkeit, andererseits war mein Vater wenig zu Hause. Einige Jahre später haben sich meine Eltern scheiden lassen; vor 9 Jahren ist mein Vater wieder zurück nach Ungarn gezogen.

Mir haben viele Ungarn im Alter meines Vaters erzählt: nein, ich bin nicht entwurzelt, ich habe meine Identität, ich bin Ungar und bleibe das. Mein Vater sagte oft zu mir: Du kennst keine Heimat, ich schon. Das mit der Heimat ist für meine Generation wirklich schwieriger. Ich habe aufgegeben, danach zu suchen.

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(6) Solidarität und Ausgrenzung – die Ungarnhilfe

Die Solidarität der Schweizer Bevölkerung mit den ungarischen «Freiheitskämpfern» war gross: es gab eine Spendenwelle bisher unerreichten Ausmasses, unzählige Sympathiekundgebungen und politische Appelle. Nach der gewaltsamen Niederschlagung des Aufstandes durch die sowjetische Armee entlud sich die Wut der Menschen vereinzelt gegen die Kommunisten, die «Russen» im eigenen Land.

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