(5) Nichts weiter als PET-Flaschen und Sonnenlicht
Es wäre so einfach, das Trinkwasser der Dritten Welt zu desinfizieren. Hunderttausende von Menschenleben könnten gerettet werden. Trotzdem trifft die Methode der solaren Wasserdesinfektion von Martin Wegelin auf Skepsis und Widerstand vieler Regierungen.
Internationale Aufrufe, staatliche Versorgungsprogramme, potente private Investoren sowie neuestes technisches Fachwissen aus den Industrieländern wären in Zukunft weit weniger gefragt. Stattdessen PET-Flaschen und Sonnenlicht. Denn mehr würde es nicht brauchen, um auch jene Milliarde Menschen mit sauberem Trinkwasser zu versorgen, deren Wasser bisher mit Krankheitskeimen verunreinigt ist. Pro Tag sterben in den Entwicklungsländern rund 6’000 Kinder an Durchfallerkrankungen; rund die Hälfte von ihnen hat sich über das Trinkwasser angesteckt. Dennoch verwenden erst zwei Millionen Menschen die Methode der solaren Wasserdesinfektion, kurz Sodis. Martin Wegelin, der Sodis vor rund 15 Jahren am Eawag, dem Wasserforschungs-Institut der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich, in Zusammenarbeit mit einem Forscherteam entwickelt hat, reist seither um die Welt, um unermüdlich dafür zu werben. Er geht in die Slums Afrikas, um dort Bewohner als Sodis-Botschafter auszubilden, er knüpft Netzwerke mit NGOs und anderen Hilfsorganisationen und leistet Überzeugungsarbeit als Gast auf den Rednertribünen internationaler Organisationen. Kein Weg scheint ihm zu weit, kein Aufwand zu gross, um der Welt eines klar zu machen: der Schlüssel zu sauberem Wasser liegt in den Händen der Endverbraucher.
Herr Wegelin, Sodis, Ihre Methode der solaren Wasserdesinfektion ist simpel, billig und zuverlässig. Sie könnte jährlich Hunderttausenden von Menschen das Leben retten. Warum trinken dennoch weiterhin über eine Milliarde Menschen bakteriell verunreinigtes Wasser, warum verliert in den Entwicklungsländern daher weiterhin fast jede Familie ein Kind unter fünf Jahren.
Als wir vor 7 Jahren in einzelnen Dörfern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas unsere Methode einführten, erwarteten wir, dass sie sich von dort wie ein Lauffeuer über das ganze Land ausbreiten würde. Doch dies geschah nicht. Uns wurde klar, dass wir technisch zwar ein Problem gelöst hatten, nun aber vor einer viel grösseren Aufgabe standen. Wissenschaft ist das eine, Vermittlung und Umsetzung ihrer Ergebnisse das andere.
Die Tatsache, dass Sonnenlicht Krankheitserreger im Wasser zerstören kann, war vor Ihren Untersuchungen nicht bekannt?
Es war bekannt, dass Sonnenlicht bakterizid ist und seine UVA-Licht-Anteile Mikroorganismen abtöten. Doch dass es genügen würde, das verunreinigte Wasser in PET-Flaschen zu füllen und diese dann für sechs Stunden auf das Hausdach an die Sonne zu legen, das glaubte anfangs niemand. 1991 begannen wir mit der Erforschung dieser Methode. Dafür brauchte es ein interdisziplinäres Team – ich selbst bin Bauingenieur –, und ich scharte daher eine Reihe weiterer Spezialisten um mich, wie Mikrobiologen und Photochemiker. Die sagten mir: Vergiss es, das wird nicht funktionieren, das Wasser muss in konventionellen Anlagen mit UV-Lampen behandelt werden, Anlagen, die in den Drittweltländern für die Selbstversorgung der meisten Haushalte ungeeignet sind. Ich liess nicht locker, und wir begannen mit unseren Untersuchungen – und unsere Faszination wuchs mit jedem Experiment.
Dachten Sie damals schon über den Einsatz der Methode nach?
Ich wollte wissenschaftliche Resultate, anderes war anfangs nicht wichtig. Mein Ehrgeiz war, die Durchfallerreger im Wasser soweit zu reduzieren, dass das Wasser gefahrlos getrunken werden kann. Wir haben viele Parametertests durchgeführt, um zu sehen, inwieweit etwa die Trübung des Wassers, die organischen Schwebstoffe oder die Temperatur Einfluss auf die Effizienz der UVA-Bestrahlung haben. All dies noch im Labor, mit Quarzröhren. Aber wer hat in Drittweltländern schon Quarzröhren zur Verfügung? Daher suchten wir Alternativen und kamen auf die Idee mit den PET-Flaschen, die es in unserer Konsumgesellschaft im Überfluss gibt. Sodis war geboren.
Und damit die Idee, dass die Hilfe für mehr als eine Milliarde Menschen auf den Müllhalden der Zivilisation zu finden ist? Dort wo die Armen die PET-Flaschen einsammeln können, die andere weggeworfen haben? Ist es denn nicht viel entscheidender, überhaupt an Wasser heranzukommen?
Das ist oft das geringere Problem, jedenfalls wenn wir an die anderthalb Liter denken, die jeder Mensch täglich fürs Überleben braucht. Lange Zeit haben sich die internationalen Organisationen hohe Ziele gesteckt und dabei vielfach auf die falschen Mittel gesetzt. Auch das Millenniumsziel der Vereinten Nationen gehört dazu: bis 2015 soll sich demgemäss die Anzahl der Menschen halbieren, die keinen Zugang zu sauberem Wasser haben; doch davon sind wir noch immer weit entfernt. Oft wird gesagt, es gebe genug Wasser und man müsse nur dafür sorgen, dass es auf das Niveau von Trinkwasserqualität aufbereitet und durch ein Leitungsnetz an die Verbraucher verteilt werde. Doch meist gehen davon vorweg 50 Prozent und mehr durch Lecks und Rohrbrüche verloren; was übrig bleibt, kommt – häufig schon wieder kontaminiert – in den Hinterhöfen an. Dort wird es für die Wäsche gebraucht oder zum Kochen. Nur wenig, rund zwei Prozent, wird getrunken. Daher müssen wir uns fragen, ob es wirklich einen Sinn hat, so grosse Mengen von Wasser aufzubereiten, wenn dann nur ein vergleichsweise so geringer Teil als Trinkwasser konsumiert wird. Oder ob wir nicht vielmehr auf einen Paradigmenwechsel drängen sollten.
Sie meinen, die Aufgabe einer öffentlichen oder privaten Wasserversorgung sollte sich darauf beschränken, genügend Wasser mit einem gewissen Qualitätsstandard zur Verfügung zu stellen – und die Haushalte selbst bringen davon nur so viel auf ein trinkbares Niveau, wie sie tatsächlich brauchen?
So ist es. Wir müssen an der Basis ansetzen. In den Ländern der Dritten Welt gibt es eine Ressource im Überfluss: Menschen. Es müssen daher Strategien entwickelt werden, um diese Menschen in die Trinkwasserversorgung miteinzubeziehen. Wir müssen mit den einzelnen Haushalten zusammenarbeiten. Die wahren Wassermanager sind die Frauen. Nicht die Minister in der Hauptstadt oder der Direktor eines Wasserwerks. Es ist die tägliche Aufgabe der Frauen – zusammen mit ihren Kindern –, das Wasser für die Familie zu besorgen. Ihnen müssen wir daher die Möglichkeit geben, ihre schwierige Aufgabe besser zu erfüllen.
Und sind es auch die Frauen, die auf die Müllhalden gehen oder in Hotels, Restaurants oder Haushalten der reicheren Schicht vorsprechen, um an die PET-Flaschen zu kommen? Oder wird erwartet, dass staatliche Stellen oder NGOs eine ausreichende Anzahl von Flaschen zur Verfügung stellen?
Nein, entscheidend ist, dass sich die Menschen in den Drittweltländern selbst organisieren. Die Mittelschicht hat die Möglichkeit, so wie wir auch, am Samstag in den Supermarkt zu fahren und in Flaschen abgefülltes Wasser zu kaufen. Die arme Bevölkerungsschicht kann sich den Kauf einer vollen Flasche nicht leisten, dafür hat sie ein Interesse an den leeren. Eine Familie mit fünf Personen benötigt für den täglichen Bedarf an Trinkwasser etwa zehn leere PET-Flaschen. In den städtischen Gebieten sind diese relativ leicht aufzutreiben. Anders ist es im ländlichen Raum; leere PET-Flaschen sind dort nicht im Überfluss vorhanden.
Liegt hier ein Grund, warum die Methode sich nicht wie ein Lauffeuer ausgebreitet hat?
Der grösste Widerstand liegt in den Traditionen. Diese aufzubrechen, ein anderes Bewusstsein zu schaffen, ist eine weitaus grössere Hürde, als wir erwartet hatten. Seit Generationen wird den Menschen gepredigt: Wenn Ihr verkeimtes Wasser habt, dann kocht es ab. Doch in diesen Ländern sind Holz und alle anderen Energieträger knapp, es reicht ja oft kaum, um die Nahrung zuzubereiten. Abgesehen davon, schmeckt abgekochtes Wasser schal, da der Sauerstoff durch das Kochen herausgetrieben wird. Daher haben die Menschen sich daran gewöhnt, das Wasser so zu trinken, wie sie es aus den Flüssen oder Brunnen schöpfen oder es eben aus der Leitung läuft. Als weitere Methode wurde propagiert, das Wasser mit Chemikalien zu entkeimen, also mit Chlor. Aber auch das ist zu teuer und zu aufwendig – und auch dieses aufbereitete Wasser schmeckt unangenehm.
Die Krankheitskeime hingegen verändern den Geschmack des Wassers nicht, weswegen es als harmlos wahrgenommen wird?
Die Verunreinigung durch Bakterien ist für gewöhnlich weder zu sehen noch zu schmecken. Auch daher fehlt es am Problembewusstsein. Viele Menschen in den Drittweltländern wissen nicht, warum sie ständig an Durchfall leiden; der Zusammenhang mit dem verschmutzten Wasser, das sie täglich trinken, ist ihnen unbekannt. Durchfall und seine Folgen – Dehydrierung, die zum Tode führt – gehören so sehr zum Alltag, dass sich niemand gross Gedanken darum macht.
Gedanken, die dann stellvertretend Sie übernommen haben. Wie verbreiten Sie nun Ihre Methode, wie wollen Sie es schaffen, dass der Funke von Dorf zu Dorf überspringt?
Wir arbeiten mit karitativen Hilfswerken zusammen, die Sodis in ihre Hygieneprogramme integrieren. Unsere lokalen Partner haben für jedes Land Schulungsunterlagen entwickelt, bilden Einheimische als Trainer aus, die wiederum in ihren Dörfern Kurse abhalten. Es sind Theater- und Puppenspiele entstanden, Broschüren und Poster, die die Menschen aufklären und informieren. Meine Hauptaufgabe ist es, Menschen zusammenzubringen, Brücken zu den grossen Hilfsorganisationen zu bauen und Türen zu den Regierungen aufzustossen. Auch dort muss ein Umdenken stattfinden, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu fördern.
Diese Akzeptanz – ist sie ein loderndes Feuer, das rasch erlischt, oder eine dauerhafte Glut?
Die Schwierigkeit ist weiterhin die Vergessenskurve. Wenn wir Sodis einführen und in einem Dorf mit lokalen Partnern etwa eine erste Versammlung abhalten, dann sind Begeisterung und Akzeptanz gross. Innerhalb weniger Wochen wird Sodis von 90 Prozent der Gemeinschaft angewendet. Doch mit der Zeit verliert sich der anfängliche Enthusiasmus, und die Rate der Anwender sinkt auf 60 Prozent oder noch tiefer. Das ist nicht unbedingt Nachlässigkeit. Der Lebensalltag der Menschen ist meist sehr schwierig. Oft müssen sie noch an ganz anderen Fronten kämpfen: mit Hunger, Aids oder Zinsforderungen der Grossgrundbesitzer.
Sie müssten versuchen, die Methode so tief im Alltag zu verankern, dass sie nicht mehr diskutiert – dass sie zu einer Selbstverständlichkeit wird, vielleicht gar zu einem Teil der Mythen…
…soweit sind wir noch nicht. Wir setzen bisher auf drei Ebenen an: erstens auf derjenigen der Haushalte. Es gibt ja das schöne Sprichwort: Unterrichte eine Frau und Du unterrichtest eine ganze Nation. Die Frau wird ihr Wissen ihren Töchtern weitergeben, die Sodis dann auch anwenden, wenn sie eine eigene Familie gegründet haben; hier haben wir also einen Weg, der weit in die Zukunft hinein führt. Die lokalen Institutionen, wie Gesundheitsposten, Schulen, Frauenkomitees oder die Verwaltung, sind eine weitere Ebene. Sie haben gegenüber den NGOs einen grossen Vorteil. Die NGOs sind meist nur für die Dauer eines Projekts an Ort und Stelle und gehen daher wieder nach einigen Monaten oder Jahren. Das ist bei den lokalen Institutionen natürlich anders. Wenn das traditionelle Oberhaupt, der Lehrer oder der Arzt eines Dorfes für unsere Sache einstehen, dann ist schon viel gewonnen. Diese Leute haben ein hohes Ansehen und vermitteln Konstanz. Eine dritte Ebene sind schliesslich die Regierungen der Länder. Wenn alle Gesundheitsministerien in ihre Richtlinien und Empfehlungen Sodis miteinbezögen, dann würde auch dies dazu beitragen, dass die Methode immer selbstverständlicher und selbstverständlicher wird.
Fehlen nur noch Fussballer, Schauspieler, Schlagersänger und Fürstenhausmitglieder, die in den Medien sagen: Auch ich trinke täglich Sodis-Wasser!
Wir versuchen genau diese Personen zu gewinnen. Im Fernsehen von Nepal läuft ein Spot mit bekannten nationalen Filmschauspielern, die die Methode erklären und in einer Umgebung, die aussieht wie Hollywood, tatsächlich sagen: Auch wir trinken Sodis-Wasser!
Wie finanzieren Sie Ihr Lobbying und all diese Erziehungs- und Aufklärungskampagnen?
In erster Linie mit Geldern, die wir von Stiftungen bekommen. Auch von den verschiedenen Wohltätigkeits-Clubs, wie dem Rotary oder dem Lions Club, erhalten wir Unterstützung. Das Geld verwenden wir für Informationsmaterial, für Workshops, für Wasseranalysen, für den lokalen Transport und für die bescheidenen Löhne der Mitarbeiter, die die Schulungen durchführen. Doch da wir weltweit tätig sind, in Asien, Afrika und Lateinamerika – in fast 30 Ländern –, ist die Summe, die wir brauchen, insgesamt recht hoch. Wir sind daher ständig auf Geldsuche.
Ist die Zusammenarbeit mit der UNO und anderen grossen Hilfsorganisationen gut?
Sodis ist so simpel, so einfach anzuwenden, dass die Methode oft unglaubhaft wirkt. Es ist vorgekommen, dass sie als «Mickymaus-Methode» auch von hoher Ebene lächerlich gemacht wurde. Doch seit wir an der Weltausstellung in Japan den bedeutendsten Umweltpreis erhalten haben – den Energy Globe Award 2004 – und letztes Jahr vom Schweizerischen Roten Kreuz mit dem erstmals vergebenen Preis für humanitäres Engagement ausgezeichnet wurden, haben sich Publizität und Akzeptanz von Sodis verbessert.
Unterstützen die Regierungen Sie bei Ihrem Versuch, die arme Bevölkerung zu mehr Unabhängigkeit und Eigenverantwortung zu erziehen?
Oft haben die Regierungen schlicht kein Interesse, da kein Geld fliesst. Unsere Methode ist kein Business, Korruption nicht möglich…
…und Sodis auch in dieser Hinsicht sauber. Doch Business muss nicht zwangsläufig schmutzig sein.
Gewiss. Und daher arbeiten wir seit kurzem auch mit Alberto Meda, einem Designer aus Mailand zusammen. Er hat eine PET-Flasche für Sodis entworfen, die attraktiv und funktionell zugleich ist, sogar schon einen Designerpreis gewonnen hat. Die Privatindustrie ist daran interessiert, seine Flaschen zu verkaufen. Sie kann damit Geld machen – und für Sodis erschliessen sich neue Verbreitungsgebiete.
Also soll dank geschicktem Marketing das Business dafür sorgen, dass die Mittelschicht die mit Mineralwasser gefüllten Flaschen im Supermarkt kauft, sich die Flaschen mit der Zeit als Symbol für gesundes Wasser etablieren und zum trendigen Markenzeichen von Sodis werden? Sodass mehr Menschen der armen Schichten motiviert werden, die leeren Flaschen wieder einzusammeln, zu füllen und an die Sonne zu legen?
Das wünschen wir uns. Wenn Sie mich vor zehn Jahren gefragt hätten, was mein Traum für Sodis sei, dann wäre die Antwort gewesen, so viele Sodis-Flaschen auf der Welt zu haben wie Thermosflaschen – ein Produkt, das in fast jedem Haushalt zu finden ist. Durch den Einbezug der Privatindustrie hoffen wir, genau das zu erreichen.
Vor unserem Interview sind Sie aus Kenia zurückgekommen, morgen werden Sie nach Bolivien zu Gesprächen mit Vertretern der dortigen NGOs fliegen, danach werden Sie vom Gesundheitsministerium in Ecuador empfangen. Es war gar nicht so leicht, Sie hier in der Schweiz für ein Interview zu erwischen. Woher nehmen Sie Ihre Motivation und Energie?
Ich habe einen Bananenbaum in meinem Büro bei der Eawag in Dübendorf, der mich immer begrüsst, wenn ich von meinen Reisen zurückkehre. Er stammt aus Tansania, wo ich, vor meiner Stelle an der Eawag, an der Universität von Daressalam unterrichtete. Ich wohnte mit meiner Familie in einem Reihenhaus, mitten unter der einheimischen Bevölkerung. Meine damals dreijährige kleine Tochter spielte oft mit dem etwa gleichaltrigen Sohn der Nachbarn, einer Familie aus Uganda. Eines Morgens war dem Knaben unwohl, und noch am gleichen Abend starb er an Dehydrierung infolge eines heftigen Durchfalls. Als wir in die Schweiz zurückkehrten, schenkte mir sein Vater am Abend vor dem Abflug einen Bananenschössling, der für mich zum Symbol für den Sinn meiner Arbeit geworden ist.