(5) Lesen lernt man nur durch Lesen…
Das richtige Leseangebot zum richtigen Zeitpunkt. Mit Büchern, die Spass machen und so die Mühen belohnen, die das Lesenlernen und Lesen mit sich bringt. Wie Kinder zu Lesern werden, zeigt ein Beispiel aus dem Angebot des Schweizerischen Instituts für Kinder- und Jugendmedien (SIKJM).
Die Resultate der im Jahre 2000 durchgeführten PISA-Studie zur Lesefähigkeit von Jugendlichen in der Schweiz haben Eltern, Lehrpersonen, Politiker und Behörden aufgeschreckt – aber wie werden Kinder zu Lesern? Früher war das Lesenlernen ein Schlüssel, der Türen zu neuen Welten öffnete. Heutzutage finden Kinder auf andere und einfachere Weise – etwa durch Fernsehen, DVD oder Computerspiele – Zugang zu diesen Welten. Daher hat sich die Motivation der Kinder, lesen zu lernen, geändert. Kindern muss vermittelt werden, dass es in Büchern etwas Besonderes zu entdecken gibt, etwas, das sie durch andere Medien nicht entdecken können. Bücher ermöglichen auf eine eigene Weise, vom Gefühlsleben anderer zu erfahren. Gleichzeitig stimuliert ein Buch das Vorstellungsvermögen. Der Lesende ist vollkommen frei, sich seine individuellen Bilder der Figuren und Milieus zu schaffen, von denen er liest – und er hat die Freiheit, sie sich so zu schaffen, dass sie den eigenen Vorstellungen entsprechen. Erst die Erfahrung, dass sich die Mühe des Lesens lohnt, bewirkt, dass Kinder sich auf Bücher einlassen. Wesentlich ist dabei, dass Kindern das richtige Buch zum richtigen Zeitpunkt angeboten wird: das Buch muss der Interessenlage, der Altersstufe und der Lesekompetenz des Kindes entsprechen.
Der Grundstein fürs Lesen wird früh gelegt. Eine optimale Förderung setzt bereits in jener entwicklungspsychologischen Phase ein, in der Kinder neugierig sind auf die Welt, Fragen über Fragen stellen, sich Wissen über die Welt aneignen wollen. Der Vorgang, wie Kinder zu Lesern werden, ist mit drei Faktoren eng verknüpft.
Erstens mit der sprachlichen Entwicklung. Interesse und Freude am Sprechen regt die Neugierde auf die gedruckte Sprache und auf das Lesen von Texten an. Das Entdecken von Reim und Rhythmus, die Suche nach Wörtern, die Reim und Rhythmus stimmig fortführen, fördern Wissen und Fertigkeiten im Umgang mit der Lautstruktur von Wörtern. Die Kenntnis der Lautstruktur ist eine Grundlage für das Lesen- und Schreibenlernen; denn erst beim Schreiben erfolgt, auf der Ebene der Phoneme, eine Zuordnung zu den Buchstaben der Schrift.
Zweitens mit den Erfahrungen, die Kinder in der Kommunikation mit einer dem Kind nahestehenden Bezugsperson machen. Die Aufnahmefähigkeit und Motivation von Kindern ist dann am grössten, wenn diese Kommunikation in einer vertrauten, positiven Situation über Sprachspiele, Fingerspiele, Abzählreime, durch das Erzählen von Bilderbüchern oder durch Vorlesen erfolgt. Was mit positiven Gefühlen gelernt wird, ist intensiver und neuronal stärker im Gehirn verankert.
Drittens mit Beobachtung und Orientierung an der Lese- und Schreibkultur in der Familie. In der Familie erfahren Kinder, welchen Sinn und welchen Wert das Lesen in ihrer vertrauten Umgebung hat. Wenn Eltern lesen, erfahren Kinder die Wertschätzung des Lesens. Ein Elternhaus, in dem es Bücher gibt, in dem Zeitungen und Comics gelesen werden, ein Zettel mit einer Nachricht an die Türe geheftet wird, zeigt dem Kind, dass Schriftlichkeit eine Bedeutung hat.
All diese Dinge sind wichtige, von der Herkunftssprache grundsätzlich unabhängige Voraussetzungen dafür, dass Kinder den Sinn von Schrift erkennen und damit zu Lesern heranwachsen können.
Bilderbücher sind für Vorschulkinder von zentraler Bedeutung. Das Kind kann sich in die Bilder vertiefen und seine eigene Vorstellungskraft entwickeln. Erwachsene können diesen Prozess unterstützen, indem sie mit Kindern beim Erzählen eines Bilderbuchs über das reden, was erzählt wird; sie können aktiv dazu beitragen, die Wahrnehmung des Kindes zu schärfen, sein Bewusstsein und seinen Wortschatz zu erweitern, und sie können erkennen lassen, dass zwischen den Schriftzeichen und den Bildern ein Zusammenhang besteht.
Auch beim Vorlesen kann in vertrauter Umgebung ein Gespräch über das Buch stattfinden. Darüber hinaus kann Einblick in eine Welt gewährt werden, die sich das Kind aufgrund seiner eigenen, noch schwachen Lesekompetenz bislang nicht selbst erschliessen kann. Ausserdem eignet sich das Kind beim Vorlesen unmerklich die meisten Schlüssel an, die es braucht, um die Schriftsprache zu verstehen und zu nutzen, ähnlich wie kleine Kinder im Austausch mit älteren Kindern und Erwachsenen die gesprochene Sprache lernen.
Wenn Kinder ihre Leseentwicklung gut begonnen haben, heisst das noch lange nicht, dass ihre Lesebiographie geradlinig verlaufen werde. Im Alter von 8 Jahren und zwischen 12 und 13 sind Kinder häufig besonders gefährdet. Die meisten Kinder sind stolze Erstleser, aber wenn sie längere und schwierigere Texte lesen müssen, verlieren sie rasch das Interesse. In der Pubertät widerspricht das Lesen als zurückgezogene Tätigkeit dem Bedürfnis nach dem Zusammensein mit Gleichaltrigen. Da ist es wichtig, dass der Wunsch der Kinder nach eigenen Genres – Comics, Zeitschriften, Serienliteratur – akzeptiert wird. Der Wiedererkennungseffekt durch vertraute Figuren, vertraute Milieus, ähnliche Handlungsverläufe macht etwa Serienliteratur zu einem der beliebtesten Genres. Wichtig ist, dass Kindern und Jugendlichen nach dieser Phase auch anspruchsvollerer Lesestoff zur Verfügung steht, also Bücher, in denen die Sprache von guter Qualität und in denen Platz für eigene Lösungen, Phantasien und Gedanken ist.
Das Schweizerische Institut für Kinder- und Jugendmedien SIKJM entwickelt Leseförderungsprojekte und führt sie mit Hilfe von Kantonal- und Regionalorganisationen schweizweit durch. Ausserdem bietet es Beratungen, Buch- und Medienempfehlungen sowie Aus- und Weiterbildungskurse für Lehrpersonen, Bibliothekare und andere Interessierte. Von der Rezensionsdatenbank können nach verschiedenen Kriterien ausgewählte Buchbesprechungen kostenlos abgerufen werden.
Lesen lernt man nur durch Lesen, aber Kinder lesen nur, wenn Lesen Spass macht… Die Leseförderungsprojekte des SIKJM zielen alle darauf ab, Kindern Entdeckungen zu ermöglichen. Eines der ältesten und weitestbewährten Projekte ist der Lesebazillus. Das Projekt ist für Kinder der 5. und 6. Klasse gedacht. In der deutschsprachigen Schweiz wurde es erstmals im November 1990 lanciert, 1991 wurde es unter dem Titel «Attention: Virus lecture!» von der französischsprachigen Schweiz und 1995 als «Biblioteca vagabonda» von der italienischsprachigen Schweiz übernommen.
Der Lesebazillus nistet in zwei Rucksäcken, die mit rund 30 ausgesuchten Büchern unterschiedlicher Schwierigkeitsgrade und Interessengebiete gefüllt sind. Zwei Kinder schleppen den Lesebazillus ins Klassenzimmer ein, und die Lehrperson unterbricht den regulären Arbeitsplan: Zeit zur freien Lektüre! Die Kinder packen die Rucksäcke aus, suchen sich Lesestoff aus und lesen. Die Rucksäcke mit dem Lesebazillus bleiben mindestens vier Wochen bei den Gastgebern, die sie in dieser Zeit unbeschränkt benützen dürfen. Die Lehrperson bestimmt zwei Romane, Sachbücher oder Comics als Bazillusträger. Wer beim Lesen den Bazillus erwischt, darf mit der Kameradin oder dem Kameraden auf die Reise gehen und eine neue Klasse anstecken. Jedem Rucksackpaar liegt ein Logbuch bei, das von den Klassen im Stil eines Albums genutzt wird. Dadurch können alle die Reiseroute des Lesebazillus verfolgen und ihre Leseerfahrungen austauschen. In der deutschen Schweiz sind sechs Rucksackpaare unterwegs, die mit grosszügiger Hilfe der Kinderbuchverlage alternierend alle zwei Jahre neu bestückt werden. Über den Erfolg der Bücherauswahl gibt ein Feedbackbogen Auskunft. Der Lesebazillus wurde 1994 von der deutschen Stiftung Lesen mit der «Auslese», einem Kulturpreis für vorbildliches Engagement in der Leseförderung, ausgezeichnet, und er breitete sich sogar bis nach Kairo aus, wo er vor einigen Jahren an der deutschen Schule zirkulierte.
Leseförderung kann, wie alle Untersuchungen zeigen, nicht früh genug beginnen. Daher setzt das Institut derzeit einen Schwerpunkt bei der Frühförderung. Mit jeweils unterschiedlichen Ansätzen werden in drei Sprachgebieten der Schweiz Pilotprojekte durchgeführt – «Nati per leggere» im Tessin, «Bébé bouquine!» in der Westschweiz und «Leseanimation für Vorschulkinder» in der Deutschschweiz –; zusätzlich wird mit dem Projekt «Family Literacy» der Situation von Migrantenkindern speziell Rechnung getragen (www.sikjm.ch).