(5) Gravitationsräume der Wirtschaft
Bisher kaum zur Kenntnis genommen, haben neue Kommunikations- und Vernetzungsmuster eine neue räumliche Hierarchie entstehen lassen. Die Idee der «dezentralen Konzentration» ist von der Entwicklung überholt worden: In der Schweiz sind zwei grenzübergreifende Metropolregionen entstanden.
Wirtschaftliche Entwicklung ist stets auch als räumliches Phänomen zu begreifen. Neuste Studien zeigen, dass sich Europas grösstes Wertschöpfungspotential – trotz gegenteiliger Absicht der EU-Kommission – in Metropolregionen zwischen den Eckpunkten London, Paris, Mailand, München und Hamburg konzentriert. Die Dynamik dieses Kräftefelds bestimmt die Position der Schweiz in Europa mit.
Die «New Economy» ist für viele Anleger schmerzhaft in Erinnerung geblieben; ihre tieferreichenden Entwicklungstreiber jedoch gewinnen an Bedeutung. Wissen hat bereits im Mittelalter die Gesellschaft vorangetrieben. Was ist heute neu? Wissen wird schneller produziert, diffundiert rascher, wertet sich aber auch schneller ab. Die Wissensökonomie umfasst drei Standbeine wissensbasierter Wirtschaftstätigkeiten: erstens den High-Tech Produktionssektor und die Life-Science-Industrien; zweitens die wissensintensiven unternehmensbezogenen Beratungsunternehmen und Finanzdienstleister; und schliesslich die Wissensproduzenten im tertiären Bildungs- und Forschungssektor. Wissensintensive Unternehmen setzen dabei wissenschaftlich entwickeltes Wissen systematisch ein, um damit wiederum neues Wissen zu schaffen, das in diesem Prozess Mehrwert schafft. Innerhalb der Wissensökonomie bilden die sogenannten «Advanced Producer Services» (APS) den Hauptantrieb bei der Entwicklung neuer Gravitationsräume der Wirtschaftskraft.
Die Wissensökonomie beeinflusst die Raum-entwicklung im Verborgenen. An der Oberfläche stellt man noch immer zunehmenden Flächenverbrauch und ausgreifende Pendlermobilität fest. Beinahe unbemerkt findet hingegen eine wachsende Rekonzentration der Wertschöpfungstätigkeit auf Kernräume statt. Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Räumliche Nähe beziehungsweise der Zugang zu Einrichtungen der Wissensproduktion und des Wissenstransfers spielen eine zentrale Rolle beim Verständnis der räumlichen Re-Konfiguration. Gut- und hochqualifizierte Arbeitskräfte finden sich tendenziell in der Nähe dieser Wissenszentren. Unternehmen, die in einem internationalen Standortwettbewerb stehen, plazieren ihre eigenen Standorte in die Nähe von Wissenspolen, in dichte und vielfältige Arbeitsmärkte und in nachfragestarke Märkte. Erreichbarkeit, Umfeld- und Lebensqualität gelten mittlerweile als Standarderfordernisse.
Das kürzlich abgeschlossene EU-Forschungsprojekt «Polynet – Sustainable Management of European Polycentric Mega-City Regions» zeigt, wie physische und nichtphysische Kommunikations- und Vernetzungsmuster eine neue räumliche Hierarchie entstehen lassen. Morphologisch-räumliche Analysen – wie etwas das städtebauliche Portrait der Schweiz des «ETH Studio Basel» aus dem Jahre 2005 – vermögen alleine nicht, diese beinahe verborgene Restrukturierung des Raumes verständlich zu machen.
Innovative Unternehmen erarbeiten ihre Leistung durch eine sorgfältig gegliederte Wertschöpfungskette, an optimal aufeinander abgestimmten Standorten. Betrachtet man das Standortwahlverhalten aller APS-Firmen, dann zeigen sich räumlich verortete Wertschöpfungssysteme. Es sind die Netzwerke einer Vielzahl von Akteuren – beispielsweise Finanzmarkt, Verkehr, Kommunikation, Arbeit, Forschung –, die die Stellung von Wirtschafts- und Lebensräumen definieren und die Verbindungen zu anderen Städten und Metropolregionen herstellen. Die Vielzahl an Wertschöpfungsbeziehungen – Pendlermuster, firmeninterne Standortnetze sowie firmenexterne Kooperationsnetzwerke – lassen sich zu einem spinnennetzartigen Gewebe übereinanderlegen.
Am deutlichsten kann diese Raumdynamik in sogenannten Europäischen Metropolregionen – den Mega-City Regions – beobachtet werden. Metropolregionen ab zwei bis drei Millionen Einwohnern fungieren als zentrale «Kompetenz-Hubs» für die Übersetzung der Wirkkräfte zwischen der internationalen Wissensökonomie und den lokalen innovativen Milieus. Abbildung 1* zeigt die firmeninternen Vernetzungen von APS-Unternehmen. Die Karte nennt jene fünf Wirtschaftszentren, mit denen die jeweilige Agglomeration am stärksten durch firmeninterne Niederlassungsnetze verknüpft ist. Abgesehen von den grossen quantitativen Unterschieden – die Strichdicke zeigt die Anzahl der Vernetzungen – stellen sich deutliche qualitative Unterschiede heraus, wie die Rangfolge der fünf Wirtschaftszentren zeigt.
Die APS-Unternehmen in Zürich sind firmenintern in erster Linie mit globalen Standorten vernetzt. Erst an neunter Stelle folgt mit Genf der erste nationale Standort. Die APS-Unternehmen in Basel sind ebenfalls in hohem Masse mit international führenden Wirtschaftszentren vernetzt, wobei im Gegensatz zu Zürich aussereuropäische Standorte nicht zu den wichtigsten zehn zählen. Zudem steht für Basel mit Zürich ein nationaler Standort an vorderster Stelle. Dies zeigt die herausragende nationale Bedeutung Zürichs als Standorts für global tätige Unternehmen.
Bei den mittleren und kleinen Agglomerationen stehen überwiegend nationale Wirtschaftszentren auf dem vordersten Rang vernetzter Standorte. APS-Unternehmen in Agglomerationen wie Luzern, Aarau oder Baden-Brugg sind firmenintern eher gering mit europäischen und nur schwach mit aussereuropäischen Standorten vernetzt. Es sind zum grossen Teil Unternehmen, die über eine nationale oder regionale Kundschaft verfügen und diese von mittleren und kleineren Agglomerationen aus ebensogut mit ihren Dienstleistungen versorgen können wie von Zürich aus. Eine Ausnahme von der Regel bildet Zug. Die dort angesiedelten APS-Unternehmen sind in erstaunlicher Zahl global orientiert und haben Niederlassungen in London sowie Vernetzungen mit Singapur und Sydney, die nach Häufigkeit noch innerhalb der wichtigsten zehn Zielstandorte Zugs rangieren.
Abbildung 2 zeigt die firmenexternen Verflechtungen. Standorte mit APS-Unternehmen, die in globale Netzwerke eingebunden sind, konzentrieren sich auf die Kerne der Agglomerationen Zürich und Basel sowie auf kleinere «Inseln» der Agglomerationen Zug und St. Gallen.
Die Achse zwischen den Agglomerationen Zürich und Basel bildet das eigentliche Rückgrat der Metropolregion. Vermutlich ist es gar der «Backbone» der gesamten Schweizer Volkswirtschaft. Für die kleineren Agglomerationen gibt es zahlreiche Zuliefer- und Ergänzungsfunktionen innerhalb dieses Wertschöpfungssystems Nordschweiz; Zug ist das markanteste Beispiel.
Zürich ist der Hub der internationalen Wissensökonomie. Allerdings ist Zürich sowohl als Stadt als auch als Agglomeration zu klein, um allein die heute international gefragte Funktionspalette anzubieten. Die Metropolregion Zürich–Basel stellt sich als der neue strategische Handlungsraum heraus, der das Potential hat, auf der internationalen Landkarte zu bleiben. Der funktionale Verflechtungsraum Nordschweiz ruft nach grossräumiger, häufig grenzüberschreitender Zusammenarbeit.
Die offizielle Raumordnungspolitik der Schweiz nimmt bisher diesen verborgenen Strukturwandel kaum zur Kenntnis. Noch immer prägt die Harmonievorstellung der «dezentralen Konzentration» den Diskurs von Bund, Kantonen und Gemeinden. Abbildung 3 (S. 26) verdeutlicht, wie sich in der Schweiz zwei grenzübergreifende Metropolregionen von europäisch vergleichbarer Leistungskraft und Wahrnehmbarkeit abzuzeichnen beginnen.
Will die politisch-territoriale Logik der offiziellen Politik nicht vollends aus dem Gleichschritt mit dem veränderten Standortwahlverhalten der «innovativen Schweiz» geraten, so gilt es, die Trends der «Raumentwicklung im Verborgenen» aufzugreifen. Der Grossteil der ländlichen Räume der Schweiz ist funktional und finanziell eng mit den Wirtschaftsmotoren der Metropolregionen verknüpft. Zum Nutzen der Leistungsfähigkeit des gesamten Territoriums Schweiz muss den potentiell starken räumlichen Wertschöpfungssystemen mehr Entfaltungsspielraum geboten werden. Die derzeitige Raumentwicklungspolitik weist noch nicht in diese Richtung. Konkret lässt sich diese Kritik an Aussagen im Raumkonzept des Bundesamtes für Raumentwicklung festmachen, das ausdrücklich darauf ausgerichtet ist, ein Szenario einer «Schweiz der Metropolen» abzuwenden. Denn diese, so das Bundesamt für Raumentwicklung, würden die gesamte Vitalität des Landes an sich reissen (Bundesamt für Raum-entwicklung 2005).
Die Herausbildung einer neuen Bedeutungshierarchie von Städten und Regionen und deren Feststellung bedeutet nicht eine «Winner Takes All»-Situation und deren Propagierung. Entscheidend ist es für die Akteure, selber zu erarbeiten, in welcher «Liga» eine Region im Sinne ihrer Funktionen und Möglichkeiten spielt. Die Voraussetzung für die Benennung von Räumen unterschiedlicher «Ligazugehörigkeit» ist, dass diese von allen Anspruchsgruppen anerkannt und ausgehandelt wird. Wirkungsorientiertes Handeln in der Raumentwicklungspolitik stellt damit vor die Frage nach Mitteln und Zwecken stets die Strategiediskussion darüber, was Daseinsvorsorge vor dem Hintergrund der Rekonzentration von Wertschöpfung und knappen öffentlichen Mitteln heissen soll. Ein «Recht auf Wohnen» kann es zwar geben, aber kein «Recht auf Wohnort». Im Gegenzug zur Anerkennung der Metropolregionen werden sekundäre Zentren und periphere Räume in ihren Strategien – mittels einer Modifikation der neuen Aufgabenteilung Bund-Kantone und des Finanzausgleichs – unterstützt. Ein Silberstreifen am Horizont ist die strukturelle Mittelknappheit der öffentlichen Hände. Der Druck wächst, Raum- und Standortentwicklung eng zu verkoppeln mit längerfristiger Politik- und Finanzplanung.
Abb. 1:
Verflechtungen über firmeninterne Standortnetzwerke
Abb. 2:
Kooperation zwischen APS-Unternehmen
Abb. 3:
Die Genese zweier Europäischer Metropolregionen in der Schweiz
* Abbildungen aus:
A.Thierstein, Christian Kruse, L. Glanzmann, S. Gabi & N. Grillon, «Raumentwicklung im Verborgenen. Die Entwicklung der Metropolregion Nord-schweiz». Zürich: Verlag Neue Zürcher Zeitung, 2006.