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(5) Feindbild Neoliberalismus

Die meisten Sünden, die dem Neoliberalismus angekreidet werden, sind effektiv Altlasten vorbestehender feudalistischer, merkantilistischer und planwirtschaftlicher Machtstrukturen und Korruptionsnetze. Eine Kritik der Kritik des Neoliberalismus.

Der Neoliberalismus, das Feindbild der etatistischen Linken, ist eine ideengeschichtliche Fehlkonstruktion. Die Spätsozialisten aller Parteien wollen damit ihren ideologischen Rückzug vom weltweit erfolgreichen Kapitalismus decken und vom offensichtlichen Versagen ihrer eigenen Doktrin ablenken.

Liberale Ökonomen sind beim Zusammenbruch maroder sozialistischer und sozialdemokratischer Systeme als Experten für unterschiedlichste Transformations-, Reform- und Therapiemodelle herangezogen worden. Das Resultat ihrer oft nur teilweise geglückten Bemühungen wird nun in einer – übrigens durchaus verfrühten – ex-post-Analyse als das Werk fundamentalistischer «Neoliberaler» gedeutet.

Wer merkantilistische Staatswirtschaften oder totalitäre Planwirtschaften ohne Blutvergiessen in den Markt hinüberführen will, muss wohl oder übel mit den vorbestehenden Machtstrukturen kooperieren. Das ist der wahre Grund, warum Liberale immer wieder – oft verheerende – politische Koalitionen eingingen und ihre radikale Grundhaltung zur konturlosen Allerweltsphilosophie der «politischen Mitte» verkommen liessen. Vor allem als Folge der beiden Weltkriege sind in allen involvierten Staaten – auch in den USA – korporatistische, protektionistische und interventionistische Strukturen installiert und konserviert worden, die heute mit staatlicher Sozial- und Förderungspolitik kombiniert werden. Dies ist in politischen Strukturen, in denen das Mehrheitsprinzip ohne liberal-rechtsstaatliche und föderalistische Schranken vorherrscht, wohl unvermeidlich. Die stets begehrlichen Mehrheiten erzwingen politisch jene fiskalische Umverteilung, die als «sozialer Fortschritt» gefeiert wird, selbst wenn eine nachhaltige Finanzierung nicht gewährleistet ist.

Im allgemeinen gelten die USA als Inbegriff eines kapitalistischen und liberal-demokratischen Systems. Ironischerweise ist aber ausgerechnet in den USA der Begriff «liberal» im Lauf des letzten Jahrhunderts praktisch in sein Gegenteil umgedeutet worden. Ein «American liberal» entspricht in Europa ungefähr einem etatistisch ausgerichteten Sozialdemokraten. Der Unterschied in der politischen und ökonomischen Terminologie beidseits des Atlantiks zeigt sich vor allem in der Einstellung zum Begriff «Kapitalismus». Während sich in Amerika auch der engagierte Befürworter von Umverteilung und sozialpolitischen Staatsinterventionen (in Abgrenzung zum Kommunismus) immer noch als Anhänger eines gemässigten und gebändigten Kapitalismus bezeichnet, zögert in Europa auch der klassische Liberale, sich offen zum Kapitalismus zu bekennen. Man ist für «soziale Marktwirtschaft» und für eine «gerechtere Wirtschaft», die durch ein dichtes staatliches Regelwerk und durch moralische Normen «in Schranken gehalten» und «gezähmt» wird. Offensichtlich gilt in Europa der Kapitalismus nach wie vor als etwas Gefährliches, letztlich Asoziales und mit der europäischen Kultur Inkompatibles.

Die Etatisten, die Antiglobalisten und die linken Ökologisten müssten ihren weltweiten terminologischen Krieg eigentlich gegen den Kapitalismus führen. Da sie aber nicht mit der historischen Gegenpartei, mit den Kommunisten, identifiziert werden wollen und sich als «Dritte Kraft» verstehen, müssen sie eine neue terminologische Front aufbauen, jene der «guten Gemässigten», der «sozial Verpflichteten», der «ökologisch Sensiblen», die durchaus auch für Demokratie, Freiheit und «gezähmte Märkte» eintreten, aber eben mit Augenmass, Liberalität und ohne jeden Dogmatismus und Fundamentalismus. Das neue Feindbild dieser «Auch»-Liberalen kann deshalb nicht der Liberalismus sein, sondern eben der Neoliberalismus. Dies gilt vor allem auch für Publizisten, deren Texte auf englisch publiziert oder übersetzt werden und denen die amerikanische Umdeutung von «liberal» in Richtung eines unverbindlichen «Liberalismus light» sympathisch ist.

Der Begriff «Neoliberalismus» ist auf den ersten Blick denkbar schlecht gewählt. Er wurde ursprünglich in der Zwischenkriegszeit von einer Gruppierung von Liberalen verwendet, die sich vom Laisser faire-Liberalismus des 18. und 19. Jahrhunderts (polemisch auch Paläo-Liberalismus genannt) bewusst abgrenzen wollten. Die teils resignierten und teils von Krieg und Krise geschockten Anhänger des Freihandels und freiheitlicher politischer Strukturen rangen damals – vor allem in Deutschland – um eine modifizierte und konsensfähige Form des klassischen Laisser faire-Modells. Tatsächlich zeigt sich rückblickend, dass das wirklich Neue daran nicht gut war und das wirklich Gute nicht neu.

Als neoliberale Hauptfeinde gelten heute der Kulturphilosoph Friedrich August von Hayek und der Monetarist Milton Friedman. Sie haben zwar beide an der Universität Chicago gelehrt, und beide waren engagierte Gegner des Sozialismus im Sinne der Zentralverwaltungswirtschaft, doch vertraten sie durchaus unterschiedliche Auffassungen über das Spannungsfeld zwischen Markt, Staat und Geld.

Aber wer kümmert sich schon um Ideengeschichte und sozialwissenschaftliche Terminologie, wenn es darum geht, in der weltweiten und parteipolitischen Propaganda gegen Marktwirtschaft und Liberalismus ein Feindbild aufzubauen? «Der Neoliberalismus ist eine säkularisierte Religion vergleichbar mit dem Marxismus-Leninismus und all seinen faschistischen Facetten. Dieser Liberalismus wird den Untergang des Abendlandes einleiten. Er ist eine Utopie und zerbricht an seiner Gier. Er ist das eigentliche Gegenmodell zur Sozialen Marktwirtschaft, eine Rückfahrkarte ins moderne Mittelalter.» So liest man, durchaus repräsentativ verkürzt, auf dem Blog des Deutschen Zentrums für Freies Denken (ZFD).

Man wird den Verdacht nicht los, dass jene Autoren, die den Neoliberalismus so vehement bekämpfen, die Werke ihrer Gegenspieler gar nicht gelesen haben. Trotzdem haben die Feinde des Neoliberalismus – wohl ungewollt – einen Schwachpunkt richtig diagnostiziert. Er liegt beim «Neo-» und nicht beim Liberalismus als einer konsequent anti-etatistischen, anti-interventionistischen, anti-protektionistischen, anti-zentralistischen und anti-paternalistischen Geisteshaltung. Mit dem «Neo-» hat man seinerzeit eine Aussöhnung mit dem Konzept der «positiven Freiheit» und mit dem staatlichen «Zwang zum Guten» versucht und damit ohne Absicht einen Teufelspakt mit jenen stets bereits vorhandenen Machtstrukturen geschlossen, die tatsächlich für das teilweise Scheitern liberaler Transformationsprojekte verantwortlich sind. Fast jedes sogenannte Marktversagen kann auf ein vorbestehendes Staatsversagen zurückgeführt werden, und hinter manchem Versagen, das dem Neoliberalismus angelastet wird, stecken jene verderblichen Zusätze, Konzessionen und Kompromisse, die sich in der diffusen Vorsilbe «Neo-» verbergen.

Aber was ist denn die terminologische Alternative, wenn «liberal» zu schwammig und zu vieldeutig und «neoliberal» als letztlich untauglicher Kampfbegriff der Freiheitsfeinde entlarvt worden ist? Welcher Begriff bietet sich an, wenn ein Liberaler seine Werthaltung beschreiben will? Ich selbst verwende – mangels einer überzeugenden Alternative – in der Schweiz den Begriff «radikal-liberal», weil mich daran der Bezug zu den sprachlichen Wurzeln anspricht und weil damit klar auf das hingewiesen wird, was für Liberale dieses Zuschnitts ausschlaggebend ist: jenes bereits erwähnte fünffache Nein zum Etatismus, zum Interventionismus, zum Protektionismus, zum Zentralismus und zum Paternalismus. Für einen erklärten Gegner des Adjektiv- und Bindestrich-Liberalismus ist die Bezeichnung «radikal-liberal» natürlich durchaus inkonsequent. In den USA schwanke ich bei der Beantwortung der Frage nach meiner politischen Grundhaltung zwischen classical liberal und libertarian, weil weder conservative noch neoconservative zutrifft, solange nicht feststeht, was man konservieren und was man als Angehöriger dieser Gruppierung grundlegend verändern möchte. Der Bedarf an Veränderung überwiegt für mich in Europa und weltweit – auch in den USA. Die sprachlich schönste Bezeichnung wäre für alle, deren Sinn auf Freiheit gerichtet ist und für die alles nur Sinn macht, wenn Freiheit garantiert ist, die Bezeichnung «freisinnig». Aber dieser Begriff ist in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten leider allzu sehr mit jenen Zusätzen, Konzessionen und Kompromissen verdorben worden, die den radikalen Liberalismus überwuchern und unkenntlich machen.

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