(5) Ein Schein von Einigkeit
Die EU bemüht sich, nach aussen einig aufzutreten. Im Innern überwiegt die Uneinigkeit. Wenn es hart auf hart geht, ist sich jeder EU-Staat selbst der nächste.
Es sind harte Zeiten für die internationalen Finanzmärkte. Doch mitten in dem Aufruhr bemühen sich die EU-Oberen um Verbreitung der Zuversicht, die EU sei ein sicherer Hafen. Angetrieben von der Finanzkrise, haben die Mitgliedländer sich zusammengetan mit dem Ziel, ein vertrauenschaffendes Massnahmenpaket auf die Beine zu stellen – wobei nun jedes Land in seinem eigenen Markt seine eigenen Massnahmen umsetzt.
Daneben beglückwünscht sich die EU zu einem aussenpolitischen Erfolg in Georgien und dazu, Präsident George W. Bush zum Einberufen einer Reihe von Gipfelkonferenzen gebracht zu haben. An ihnen denken die globalen Toppolitiker über die Lehren nach, die aus der Krise für eine Reform des internationalen Finanzsystems zu ziehen sind. Beide Erfolge werden als Beweise dafür angeführt, dass die EU nunmehr in der Weltpolitik das Sagen habe und nicht mehr bloss auf Druck von aussen handle.
Darüber hinaus reklamiert die EU in der internationalen Umweltpolitik für sich eine Führungsrolle bei der Suche nach einer Weiterführung des Kyoto-Protokolls und hofft, auch auf diesem Gebiet zu einem neuen gemeinsamen Vorgehen mit der kommenden amerikanischen Administration zu gelangen.
Aber aufgepasst. Während die EU auf ihre Erfolge im globalen Massstab pocht, sieht sie sich mit bedeutenden Herausforderungen konfrontiert, die solche Ansprüche ernsthaft in Frage stellen. Die Einigkeit nach aussen wird gleichsam von Uneinigkeiten im Innern konterkariert.
Die erste Herausforderung ist ökonomischer Natur. In der EU ist eine wirtschaftliche Abkühlung im Gang, die sich hinziehen könnte. Die Fiskalpolitik wird beiseitegeschoben, sei es mit guten, sei es mit schlechten Gründen. Auch die Geldpolitik innerhalb der Eurozone ist umstritten. Der wirtschaftliche Abschwung und sinkende Rohwarenpreise werden es zwar der Europäischen Zentralbank (EZB) ermöglichen, die Zinsen zu senken und eine mit steuerlichen Anreizen vereinbare Geldpolitik zu führen. Doch bleibt das Problem bestehen, ob eine einzige Geldpolitik für alle Mitglieder auch tatsächlich eine angemessene Geldpolitik für jedes einzelne Mitglied sei.
Auch die Ordnungspolitik im Binnenmarkt könnte Divergenzen Vorschub leisten. In den letzten Jahren hat sich die EU einen grossen Teil der internationalen «Bessere-Rechtsetzung»-Agenda zu eigen gemacht, für die die OECD weltweit die Trommel rührt. Dies hat in der EU freilich nicht zu weniger Vorschriften geführt, sondern lediglich zu etwas mehr erfahrungsgestützter Marktorientierung bei der Formulierung von Marktregeln. Die einzelnen europäischen Länder haben die Agenda in durchaus unterschiedlichem Ausmass übernommen.
Dieses Vorgehen ist nun unter Beschuss geraten. Ursprünglich mit einem Reformprogramm zur Liberalisierung der überreglementierten französischen Wirtschaft angetreten, hat Präsident Sarkozy die Tonart gewechselt und ruft nach einem neuen Gleichgewicht zwischen Staat und Markt – einem Gleichgewicht, in dem die Rolle des Staats aufgewertet wird. Einige europäische Führer geben sich der Hoffnung hin, sich aus der Rezession herauskaufen zu können, während andere auf die Tugenden flexibler Märkte setzen. Spannungen sind unvermeidlich.
Kommen wir nach den wirtschaftlichen zu den politischen Herausforderungen. Auch an dieser Front stehen der EU harte Prüfungen bevor. Die EU-Spitzen hatten gehofft, der Lissaboner Vertrag würde zum heutigen Zeitpunkt ratifiziert sein. Wegen des irischen Neins kamen diese Hoffnungen zu Fall. Überdies werden 2009 die Wahlen ins Europarlament einmal mehr zeigen, dass die Leute nicht für eine europäische Agenda, sondern für oder gegen ihre eigene nationale Regierung stimmen. Es bestehen nunmehr beträchtliche Zweifel daran, ob der Lissaboner Vertrag überhaupt je von allen Mitgliedstaaten ratifiziert werden wird. Viele verschiedene Ideen kursieren, wie mit dieser Situation umzugehen sei, einschliesslich derjenigen, auch ohne vollständige Einstimmigkeit vorwärtszumachen oder aber einzelne Änderungen ganz ohne Vertragsverfahren umzusetzen.
Ob der Vertrag nun ratifiziert wird oder nicht – das Grundproblem ist weiterhin, dass die EU ein politisches Konstrukt der Eliten ist und als solches von der Allgemeinheit der Bürger abgekoppelt bleibt. Politikwissenschafter warnen zu Recht vor der Zerbrechlichkeit eines dergestalt «banalisierten» Identitätsbewusstseins. Vor bald zwanzig Jahren schrieb der Ökonom und Nobelpreisträger James Buchanan über «Europas Verfassungschance». Buchanan hat offensichtlich die Brüsseler Phalanx der Einzelinteressen und ihre Macht unterschätzt, wenn es um die Verteidigung ihrer Privilegien gegen irgendwelche Beschränkungen geht, die eine konstitutionelle Ordnung mit sich bringen könnte.
Damit wären wir bei der dritten – der globalen – Herausforderung angelangt. Das Hervortreten der EU als aktiver Spielerin auf der Weltbühne bringt eigene Probleme mit sich. Schon die Haltung in Sachen Energieabsicherung hat die Tendenz zutage gefördert, dass jeder EU-Mitgliedstaat seinen eigenen Weg verfolgt. Auch angesichts der Spannungen im Nahen Osten, einschliesslich Irans, wird die transatlantische Einigkeit schon bald unter Druck geraten. Was immer das Profil eines «Neuen Bretton Woods» zwecks Restrukturierung des Weltfinanzsystems sein möge, so können dabei Differenzen zwischen den einzelnen europäischen Mitgliedstaaten auftreten, wenn es erst einmal um die Festlegung konkreter Einzelheiten geht. Und je mehr bei der Rechtsetzung internationale Gremien an Bedeutung gewinnen, desto bedeutungsloser werden regionale, wie die EU. Auch die Umweltagenda wird ihr Teil Differenzen zwischen den europäischen Staaten mit sich bringen, und zwar in dem Masse, wie die Verlangsamung des weltweiten Wirtschaftswachstums zu einer Neubewertung von Kosten und Nutzen all dessen führt, was den Klimawandel verhindern oder die Anpassung an ihn fördern soll.
Weitere Zusammenstösse sind im Frontabschnitt der Doha-Runde der Welthandelsgespräche auszumachen. Es erscheint unwahrscheinlich, dass der neue amerikanische Präsident diesen in ihrer gegenwärtigen Form neues Leben einhauchen wird. Genausowenig gibt es irgendwelche Hinweise darauf, dass Indien – selbst bei einem Regierungswechsel – von der Ansicht abrücken könnte, seine Landwirtschaft sei vor Beeinträchtigungen durch ausländische Konkurrenz zu schützen. Demzufolge müssen vielleicht andere Wege gefunden werden. Einige wären unumstritten – zum Beispiel ein Separatabkommen über Handelserleichterungen. Andere wären es wohl nicht, wie etwa ein internationales Stillhalteabkommen in der Handelspolitik mit dem Ziel, eine Zurücknahme schon durchgeführter Liberalisierungsmassnahmen abzublocken. Der Konsens in der EU-Handelspolitik ist fragil und weiteren Strapazen unterworfen.
Was lernt die EU aus alledem? Ohne zu zögern, hat eine Reihe europäischer Politiker behauptet, die Finanzkrise sei beispielhaft für die Verknüpfung und gegenseitige Abhängigkeit der Länder in der modernen Welt, um dann daraus den Schluss zu ziehen, die EU müsse in Zukunft die gemeinsame Politik noch aggressiver vorantreiben, um den neuen Herausforderungen zu begegnen. Dies dürfte eine Fehldiagnose sein. Denn das Gemeinsame an den wirtschaftlichen, politischen und globalen Herausforderungen ist ihre Wirkung auf die Mitgliedstaaten, die unter deren Einfluss ihre eigenen Interessen und Präferenzen noch härter vertreten. Nicht einmal die koordinierten Finanzpakete vermochten die Disposition der Mitgliedstaaten zu übertünchen, ihren eigenen Weg zu gehen und sich auf ihre eigenen Finanzbehörden zu verlassen. Die Wähler werden mit Sicherheit ihre Regierungen nicht abstrafen, wenn diese bei der Interpretation ihrer nationalen Interessen eine härtere Linie verfolgen. Im Gegenteil: ein Grossteil der Wähler würde es den Regierenden heimzahlen, sollten diese den Eindruck von Zimperlichkeit erwecken.
Die EU sieht sich ähnlichen Gefahren gegenüber, wie sie uns die internationale Finanzkrise zu Bewusstsein gebracht hat. Dem Risikomanagement bedeutender Institutionen sind zwei grundlegende Fehler unterlaufen. Erstens wurde angenommen, die Risikowahrscheinlichkeit würde ihrer normalen Glockenkurve folgen. Es bestand zuwenig Marge für ungewöhnlich zahlreiche oder ausserordentlich schwere Schläge. Zweitens beruhten viele der Wirtschaftsmodelle auf vergangenen Verhältnissen, und mit neuen konnten sie nicht umgehen. Vergangene Erfolge sind keine Garantie für künftigen Erfolg. Ob die EU also fähig ist, mit den beschriebenen, anrückenden Herausforderungen fertigzuwerden, muss sie erst noch beweisen.