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(5) Abbau der Bürokratie – eine Chimäre?

Auch die Bürokratie bremst den Reformprozess. Entbürokratisierung kann nur dann erfolgreich sein, wenn die Menschen mehr Mut zur Eigeninitiative aufbringen und sich selbst mehr zutrauen.

Das Weltreich von Byzanz soll an seiner Bürokratie gescheitert sein. Das ineffiziente System der «organisierten Verantwortungslosigkeit» habe seine Wirtschaftskraft geschwächt, den Menschen die Lust an der Eigeninitiative genommen und schliesslich die Widerstandskraft zerstört.

Die Situation erinnert an das heutige Deutschland. Die Wirtschaft stagniert, die Beschäftigung lahmt, dynamische Unternehmer investieren im Ausland, der Konsum dümpelt dahin, die Kapitalflucht steigt, doch eine Branche boomt: die Bürokratie. Im Jahr 2003 gab es allein im Bereich der Steuern und Abgaben 118 Gesetze und 87 Rechtsverordnungen, 185 Formulare waren allein für die Erhebung der Steuern nötig – Länder- und Gemeindesteuern nicht eingeschlossen. Die 12 wichtigsten deutschen Steuergesetze haben rund 2’600 Paragraphen und Richtlinien und umfassen über 2’700 Seiten. Jeder Arbeitsplatz in einem Grossunternehmen ist mit circa 300 Euro Bürokratiekosten belastet, also unbezahlten Hilfsarbeiten für den Staat. Pro Mitarbeiter muss ein durchschnittliches Kleinunternehmen etwa 63 Stunden für bürokratische Arbeiten aufwenden, das sind Bürokratiekosten von jährlich bis zu 4’300 Euro.

Nach Recherchen der Weltbank muss ein Gründungswilliger im Durchschnitt mindestens neun behördliche Hürden in steuer- oder arbeitsrechtlich bedingten Angelegenheiten überwinden. Dafür braucht er etwa 45 Arbeitstage. Das sind 5 Tage mehr als im EU-weiten Durchschnitt und etwa 40 Tage mehr als in Grossbritannien oder Dänemark.

Die deutsche Bürokratie ist inzwischen zum entscheidenden Standortnachteil geworden. Inländische Investoren resignieren und Ausländer weigern sich, die Unzahl von Genehmigungen, Reglementierungen und behördlichen Verfahren in Kauf zu nehmen. Sie gehen dorthin, wo man es ihnen einfacher macht.

Schon seit Beginn der 1980er Jahre arbeiten Kommissionen an der Verwaltungsvereinfachung, am Abbau von Regulierungen – trotzdem gibt es seither noch mehr Gesetze und noch mehr Regulierungen. Gemäss einer Studie der Stiftung Marktwirtschaft haben wir zurzeit allein auf Bundesebene 2’200 Gesetze mit 46’800 Einzelvorschriften, dazu 3’130 Rechtsverordnungen mit 39’200 Einzelvorschriften. Der Trend zur Regulierung und Reglementierung hält an, ja er wird stärker – und das Gerede vom Bürokratieabbau bleibt ohne konkrete Folgen. Häufig folgt auf einen Abbau bestehender Vorschriften eine Flut von neuen Regeln, die von Fachgruppen und Beratungsgremien zur Füllung der vermeintlichen Lücke zusätzlich erlassen werden.

Es ist heute Mode, die EU als bürokratisches Monster an den Pranger zu stellen. Die Bundesländer kritisieren die Eurokraten in Brüssel, übersehen aber geflissentlich, dass die eigenen, von der Entwicklung längst überholten Regeln die Wirtschaft in grösserem Ausmass hemmen als die EU-Bürokratie. Es ist eben populärer, vor der Tür des Nachbarn zu kehren, als vor der eigenen. Die Eurokraten sind nicht an allem schuld; vielmehr ist erwiesen, dass viele Regulierungen auf Forderungen der Mitgliedstaaten beruhen und nicht auf der Eigeninitiative der Zentrale in Brüssel: Ausnahmen, Einschränkungen, Zusätze, Sonderregelungen und Verbote werden oft durch jene verlangt, die sie zuhause abschaffen wollen. Es ist eine alte Praxis, Regeln, die im eigenen Land unpopulär sind, nach Brüssel abzuschieben. Von dort kehren sie dann als europäische Richtlinie oder Verordnung zurück.

Deutschland muss die Bremsen lockern und lösen, mit denen der Beamtenapparat die Wirtschaft behindert und die Unternehmer aus dem Lande treibt. Das ist eine Forderung von Ökonomen und Politikern im In- und Ausland, die überall Beifall findet. Doch warum funktioniert es nicht? Das Problem liegt nicht nur bei den Politikern. Der innere Zwang zur Regulierung ist tief in der deutschen Mentalität verankert, die damit zur Hauptursache der Stagnation in Deutschland wird. Eine fatale Begleiterscheinung der Regulierungswut ist die Angst vor der Freiheit und vor allem vor dem Wettbewerb. Der deutsche Wohlfahrtsstaat ist zur Umverteilungsmaschinerie degeneriert. Ein Labyrinth von Regeln schränkt die individuelle Bewegungsfreiheit ein und treibt die Unternehmer aus dem Land.

So leben die Deutschen in einem Ordnungsrahmen, der ihre Bewegungsfreiheit einengt und ihre Privatinitiative lähmt. Der Mut zum Risiko schwindet. Schon der junge Mensch entwickelt eine Rentnermentalität und stellt Ansprüche zuerst an den Staat statt an sich selbst. Wer den Versorgungsstaat wählt, sucht Regeln und einen Ordnungsrahmen, in dem er sich bewegen kann, ohne eigene Entscheidungen fällen zu müssen und ohne Verantwortung zu übernehmen. Die Bürger verlangen vom Staat den Schutz des Arbeitsplatzes und die Sicherung des Einkommens. Sie verstricken sich dabei in ein Netzwerk von Genehmigungen, Schutzrechten und Sicherungssystemen – in eine selbstgewählte Bevor-mundung.

Die Voraussetzung einer grundlegenden Abkehr von diesem Ordnungs- und Sicherheitsdenken wäre eine Bewusstseinsänderung, und zwar bei den Behörden und bei den Bürokratie-Kunden, die beide für das Gesamtsystem mitverantwortlich zeichnen. Die Bayerische Deregulierungskommission kommt mit guten Gründen zu folgendem Schluss: «Unabdingbare Voraussetzung und Bestandteil einer nachhaltigen Deregulierung und Entbürokratisierung ist auch ein nachhaltiger Prozess der Bewusstseinsänderung innerhalb und ausserhalb der öffentlichen Verwaltung und damit letztlich ein gutes Stück Neujustierung der Verwaltungskultur.» Mit der Forderung und dem Schlagwort Bürokratieabbau allein ist es wahrlich nicht getan. Es geht um ein Umdenken, um eine Neubewertung aller staatlichen Aufgaben und aller privaten Forderungen nach umfassender Daseinsvorsorge.

Der Glaube an den Staat als höheres Wesen ist in Deutschland noch immer tief verankert. Nach neueren Erkenntnissen der Politökonomie, wie sie etwa vom Nobelpreisträger James Buchanan entwickelt worden sind, reagieren aber auch Politiker und Beamte auf ökonomische An- und Abreize. Das Amt macht aus ihnen keine «höheren Wesen». Sehr oft wird deswegen das sogenannte Marktversagen durch den Staat nicht aufgehoben, sondern lediglich in ein Staatsversagen verwandelt; in beiden Bereichen sind ja Menschen am Werk, die ihre Stärken und Schwächen haben. Weil beim Staat der Quervergleich im Wettbewerb wegfällt, ist die Gefahr, dass Fehler und Misswirtschaft über Jahre hinweg unentdeckt bleiben, hier noch grösser als in der Privatwirtschaft.

Einmal mehr macht der Begriff des Marktversagens zurzeit Schlagzeilen, und der Ruf nach dem Staat wird wieder lauter; durch staatliche Eingriffe will man den menschlichen Egoismen in der Privatwirtschaft einen Riegel schieben. Die Schwachen sollen vor den Starken geschützt werden, wobei in Kauf genommen wird, dass oft auch Erfolglose auf Kosten von Erfolgreichen profitieren.

Es ist nicht einfach, Bürokratien abzubauen und Beamte in Unternehmer zu verwandeln. Zwischen dem System der Marktwirtschaft und dem System der Bürokratie liegen Welten – geistige Welten. In der Bürokratie wird verwaltet und verteilt. Die bürokratische Maschinerie ist auf Beständigkeit und Gleichmässigkeit ausgerichtet. Flexibilität, Veränderung und eigenständiges Handeln stören den Verwaltungsapparat. Für eine echte Reform braucht es die Bereitschaft bei Politikern und Bürgern, sich von der Bevormundung durch eine regulierungssüchtige Bürokratie zu befreien. Dazu braucht es einen Mentalitätswandel. Solange jedoch der Mut zu einer grundlegenden Bewusstseinsänderung fehlt, muss jeder Bürokratieabbau letztlich eine Chimäre bleiben.

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(8) Kein Machtwechsel ohne Mentalitätswandel

Die Hintergründe deutscher Reformunwilligkeit reichen mentalitätsgeschichtlich weit zurück. Die vermeintliche Allzuständigkeit des Staates ebenso wie ein übersteigertes Vertrauen in seine Mittel und Möglichkeiten beginnen schon mit Bismarck. Weimarer Republik und Nationalsozialismus haben das eine wie das andere weitergetragen.

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