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Nacht des Monats mit dem inneren Schweinehund
Stephan Bader am «Mammutmarsch» in Berlin 2018. Bild: www.artofm.de/Mario Mielke.

Nacht des Monats mit
dem inneren Schweinehund

An einem sonnigen Sommernachmittag machen 1600 Menschen im Berliner Steffi-Graf-Stadion die Welle. Tennis wird aber nicht gespielt. Die auf den Rängen sind die Athleten, sie sind alt und jung, dick und dünn, männlich, weiblich, andere. Und: Sie alle wollen in den nächsten 24 Stunden 100 Kilometer hinter sich bringen. Zu Fuss.

Ich, leicht zu überreden und mit einer Schwäche für Herausforderungen, bin einer von ihnen: Der «Mammutmarsch» ist kein Rennen, Ziel ist allein, innert 24 Stunden anzukommen. In der Regel schafft das etwa ein Viertel der Teilnehmer. Ich wandere gern, «trainieren» ist nicht so meins. Aber jetzt, Karte in der einen, Trinkflasche in der anderen Hand, will auch ich wissen, ob mein Körper das kann. Es geht los!

Zu Beginn läuft es so gut, dass ich mit meinem Kollegen Jan sogar einen, zwei Kilometer durch die Parks und Gärten von Potsdam renne, einfach so. In 20 Stunden, bilden wir uns ein, sollte das alles zu schaffen sein. Doch als es irgendwann eindunkelt, werden die Kilometer bereits länger. In einem Wald treffen wir auf Opa Armin aus Schwaben. Keiner dieser Best-Ager-Fitness-Opis, nein, ganz das klassische Modell: gesellig, Bauch, kariertes Heimwerkerhemd. Weiss der gute Mann, was er sich da antut? Bald wird klar: Er weiss es besser als wir. Armin wandert regelmässig 60, 70 Kilometer und erklärt uns genau, wie seine «ultraleichten» Stöcke für eine «optimale Kraftübertragung» sorgen.

Nach gut 50 Kilometern wird Jan langsamer. Die Muskeln blockieren, das Knie tut weh. Ich rede ihm gut zu, Opa Armin zieht mit kräftigen Stockschüben davon. Beim dritten Verpflegungsposten ist trotz Tee, Bananen und Sanitätszelt Schluss. Mein ­Mitstreiter, einer, der nie aufgibt, streicht die Segel. Und ich? Ein Marathon liegt noch vor mir, aber ich bin schon zu weit gekommen, um aus Solidarität abzubrechen. Aus dem lustigen Wanderausflug ist längst ein Kampf geworden, den die meisten still mit sich allein austragen. Ich klopfe Jan auf die Schulter und folge stumpf dem nächstbesten Rucksack. Wie der Nebel im ersten Sonnenlicht über den Feldern aufsteigt und diese wie Seen aussehen lässt, verschafft mir dann ein neues Hoch. Auch der Rucksack vor mir, getragen von einer Kurzhaarigen Mitte vierzig, Funktionskleidung in Türkisabstufungen, drahtig, determiniert, wird immer schneller. Wie im Rausch überholen wir Teilnehmerin um Teilnehmer, ich singe innerlich dazu. Miriam ist Buchhalterin. Wir erzählen von uns, lachen und finden Gemeinsamkeiten, die ich kurz darauf wieder vergesse. Was ich behalte: dass ihr bei einem Marsch im Vorjahr alle Zehennägel ausgefallen und an einem ­ihrer Füsse auch nie wieder nachgewachsen sind.

Nach 14 Stunden sind meine Schenkel plötzlich wie eingefroren, steinhart, steif. Ich muss Miriam ziehen lassen. Jetzt leide ich, verliere mich auch auf der Karte. Drei, vier vermeintlich letzte Kurven gehen vorüber, bis endlich der vierte Checkpoint bei Kilometer 79 auftaucht. Es ist fast völlig ruhig, links und rechts liegen Marschierer im Gras, die Beine gegen einen Baum oder auf eine Sitzbank hochgelegt. Ich kann die Bananen, Milchbrötchen und Riegel nicht mehr sehen. Mehrere Betreuer fragen mich, ob ich Hilfe brauche – offensichtlich sehe ich so schlecht aus, wie ich mich fühle. Wäre es vernünftiger aufzugeben? Fast eine Stunde Pause gönne ich mir, betrachte meine Blasen. Es ist Sonntagmorgen: Ein Hündeler tritt heran und fragt, was wir da tun. Ist beeindruckt. Weiter geht’s!

Etwa bei Kilometer 85 überhole ich Armin. Er hat eine Krise und hadert mit dem unebenen, weichen Waldpfad. Etwas später, auf schnurgerader Asphaltstrecke, ist es umgekehrt. Und wie er sich so locker an mir vorbeischiebt, erwäge ich zum ersten Mal in meinem Leben die Anschaffung von Wanderstöcken. Die lange, reizlose Gerade macht mich fertig. Noch bis zur nächsten Strassen­lampe, zum nächsten Abfallkübel, zum nächsten Kilometer. Oder doch nicht?

Bei der Ortstafel von Berlin weiss ich: Ich werde es schaffen; an einer Bude gönne ich mir Currywurst und Bier. Die letzten vier Kilometer geht es bergauf durch den Wald, trotzdem werde ich schneller. Nach 21 Stunden und 50 Minuten sind die 100 geschafft. Abklatschen, Urkunde, hinlegen. Die nächsten Tage studiere ich das zerfledderte Kartenmaterial sinnlos rauf und runter, schwelge im Erlebten. Ja, ich bin stolz. In der Mammutmarsch-Facebook-Gruppe werden schon Pläne fürs nächste Jahr geschmiedet. Nichts liegt mir ferner, als da noch mal mitzumachen.
Na gut, vielleicht mit Stöcken. Dann hänge ich Opa Armin so was von ab.

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