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(4) Wenn die kreativen Klassen kommen

Städtebauer planen. Die Bewohner hingegen handeln. Chaotisch. Das ist gut so. Denn so bleiben unsere Städte aufregend.

Zürich ist nicht mehr die lebenswerteste Stadt der Welt! Behauptet jedenfalls die bekannte Studie der Personalberatung Mercer über die Orte mit der weltweit höchsten Lebensqualität. Wien hat der Limmatstadt den Rang abgelaufen. Oder auch nicht. Denn eine Studie des Lifestyle-Magazins «Monocle» kommt zum Schluss, dass Zürich auch im Jahre 2009 noch unangefochten an der Weltspitze der Metropolen liegen werde. Zürich oder Wien? Was macht eine Stadt eigentlich lebenswert?

Die öffentliche Infrastruktur – Strassen, Bahnen, Flughäfen, Spitäler und Schulen – spielen zweifellos eine wichtige Rolle. Ist also die Bauordnung, eine gekonnte Raumplanung der ausschlaggebende Faktor? Lässt sich mithin die Lebensqualität einer Stadt planen? Zahlreiche der in den einschlägigen Studien genannten Kriterien scheinen hierfür zu sprechen – und dürften damit das Herz einer jeden Stadtverwaltung höher schlagen lassen.

Nicht von ungefähr war es gerade Zürich, das jüngst einen solchen Akt der Städteplanung öffentlich zelebrierte. Die Eröffnung der neuen Westumfahrung sollte ein ganzes Quartier von Verkehrsbelästigung und endlosen Staus befreien – und damit nicht nur für ein allgemeines Aufatmen, sondern vor allem auch für eine Belebung und sozio-ökonomische Aufwertung sorgen. Anwohner der Zürcher Weststrasse feierten diesen Fortschritt einmütig mit den Vertretern der zuständigen Planungsbehörden.

Gerade der Zürcher Westen zeigt jedoch, wie vielschichtig jene Faktoren miteinander interagieren, die ein Quartier zu einem lebenswerten Wohnort machen. Schliesslich schlichen sich Bars, Restaurants und Clubs in dieses einstige Industrieviertel, lange bevor amtliche Stellen seine Aufwertung in Angriff nahmen. Moderne Bau- und Renovierungsvorhaben folgten der unterschwelligen Entwicklung und gaben ihr so zusätzlichen Schwung. Inzwischen kann kaum mehr bestritten werden, dass das Gebiet rund um die Maag-, Toni-, Coop- oder Escher-Wyss-Areale zu den dynamischsten Boomzentren Zürichs, wenn nicht überhaupt der Deutschschweiz zählt. Doch was kam zuerst – das Städteplanungs-Huhn oder das Lebensqualität-Ei?

Einen wichtigen Hinweis für die Beantwortung dieser Frage könnte «Monocle»-Chefredakteur Tyler Brûlé mit einem Verweis auf Stadtpräsidentin Corine Mauch gegeben haben. Nicht etwa, weil es sich bei ihr um eine besonders talentierte Städteplanerin handelt, sondern weil ihrer Wahl ein symbolischer Wert innewohnt. Mit ihr reiht sich Zürich in die Reihe jener Metropolen ein, die wie Paris, Hamburg oder Berlin ebenfalls über ein homosexuelles Stadtoberhaupt verfügen. Brûlé sieht darin ein Indiz für die Offenheit der lokalen Bevölkerung. Und Offenheit ist für viele attraktiv. Sehr attraktiv sogar.

Wissenschaftlich untersucht hat diesen Zusammenhang der amerikanische Ökonom Richard Florida. In seinem Werk «The Rise of the Creative Class» (2003) untersuchte er den Zusammenhang von urbaner Bevölkerungsstruktur und ökonomischer Entwicklung. Dabei stiess er auf ein Ergebnis, das ihm erhebliche Medienaufmerksamkeit garantierte: je schwuler eine Stadt, desto lebenswerter! Doch langsam – wie kommt Florida auf diesen Zusammenhang?

Seine Studie ergab, dass sich Wohlstand und dynamische ökonomische Entwicklung in aller Regel auf etwas zurückführen lässt, das er als «creative capital» beschreibt. Wie wird das kreative Kapital aktiviert? Eine Stadt muss dafür vor allem über drei Elemente verfügen: Technologie, Talent und Toleranz. Eine vielfältige, freiheitliche und tolerante Umgebung zieht talentierte und innovative Menschen an. Diese wiederum treiben die technologische und letztlich wirtschaftliche Entwicklung des Standorts voran. Und all dies zusammen führt zu hoher Lebensqualität.

Ein hoher Bevölkerungsanteil von Homosexuellen – überhaupt von Minderheiten und «alternativen Lebensformen» – ist dabei ein Indikator für die Offenheit und Vielfalt einer Stadt. So gesehen, überrascht es nicht, dass Teheran, Warschau oder Moskau in den einschlägigen Rankings zur Lebensqualität nicht erscheinen. Zweifellos verfügen auch diese Städte über eine Stadtplanung, eine öffentliche Infrastruktur, wie Flughäfen, Schulen und einen öffentlichen Nahverkehr. Doch in Sachen Toleranz wird es eher düster. Die Vertreter der kreativen Klasse – die Treiber einer sozioökonomischen Entwicklung – fühlen sich weniger angezogen und tragen ihr Potential, ihr Talent und ihre Innovationskraft in freundlichere Gefilde. Florida weist in seiner Forschung damit auch die Bedeutung eben jener Faktoren nach, die die eingangs erwähnten Studien in Form des schwammigen «sozio-kulturellen Umfelds» zitieren – einer vielfältigen Bevölkerungsstruktur etwa oder eines vibrant nightlife. Kommt also das Lebensqualitäts-Ei doch vor dem Städteplanungs-Huhn?

Eine Analogie mag hier weiterhelfen. Vor wenigen Tagen erst versagte der PC des Autors dieses Essays endgültig seinen Dienst. Dabei war die Hardware, die technischen Bauteile des Geräts, durchaus noch funktionstüchtig. Rein mechanisch schien es dem Gerät an nichts zu mangeln – nur die Software, das Betriebssystem oder eine seiner Anwendungen, wollten nicht mehr mitspielen. Und so kam es, dass der PC schlicht nicht mehr einsatzfähig war. Ohne Software wird selbst die modernste Ansammlung innovativer und komplexer PC-Bauteile aus Kupfer, Aluminium oder Silikon zu toten Stücken Metall und Kunststoff. Ein leb- und nutzloses Ding.

Genauso verhält es sich auch mit einer Stadt. Jede Stadt besteht zweifellos aus einer Menge «Hardware» – Metall, Holz und Beton vereinen sich hier zu Gebäuden, Strassen, Brücken, Tunneln und Schienen. Doch zum Leben erweckt und funktionstüchtig wird diese «Hardware» erst durch eine entsprechende «Software» – uns Menschen. Wohlgemerkt, eine Open-Source-Software-Variante, zu der unzählige Individuen in gleichsam chaotischer Weise einen Beitrag leisten. Jede Geisterstadt vermag diesen Zusammenhang zu verdeutlichen: Erst wenn Menschen sich in die kalte und harte Hülle einer Bausubstanz einnisten und dort ihre Aktivitäten entfalten – arbeiten, schlafen, nachdenken, erfinden, produzieren, spazieren, einkaufen, tanzen, lachen, weinen, lieben oder hassen –, erst dann wird die blosse Bausubstanz zu einer lebendigen Stadt.

Es sind die Menschen, die die Hardware einer Stadt nutzen, die ihr damit eine Funktion und einen Sinn geben. Ohne Ärzte, Krankenschwestern und Patienten ist ein Gebäude schliesslich kein Krankenhaus, ohne Lehrer, Schüler und Prüfungen ein Haus keine Schule. Spätestens seit Carl Menger kennt die Ökonomie die sogenannte «subjektive Werttheorie» – der Wert eines Gegenstands ist demnach nicht objektiv feststellbar, sondern lässt sich allein in der subjektiven Wahrnehmung des Individuums bestimmen. Dieser Umstand ist nicht weniger als die Grundlage der Spezialisierung, der Arbeitsteilung und des Tausches moderner Gesellschaften. Auch der Wert und Sinn sowie die entsprechende Nutzung von Bauwerken entsteht analog nur aus den subjektiven Präferenzen, Absichten und Interpretationen der Menschen.

Wie in der Ökonomie, ergibt sich auch für den Städtebau damit eine klare Grenze der Planbarkeit. So wie der Bürokrat die Bedürfnisse unzähliger Individuen nicht kennen und daher eine Produktionsstruktur unmöglich durch Befehl auf die reale Nachfrage ausrichten kann, genausowenig kann auch die Stadtverwaltung letztlich bestimmen, wie die Bewohner eine Bausubstanz konkret nutzen werden. Dies gilt um so mehr angesichts der enormen Dynamik der städtischen «Software» – Menschen kommen und gehen, sie entwi-ckeln sich und verändern laufend ihren Standort und ihre Aktivitäten. Die Hardware einer Stadt gestaltet sich dagegen unvergleichlich viel träger. Während Menschen blitzschnell auf Anreize reagieren und ihr Verhalten anpassen, erfordert die Anpassung von Stein und Beton erhebliche Kraft und Zeit. Dabei formt der Fluss der Menschen zweifellos auch die Gestalt der Gebäude – nur eben mit Verzögerung.

So lässt sich auch erklären, warum sich das Tätigkeitsfeld staatlicher Planung auf die städtische Hardware konzentriert. Das Baurecht gilt heute als eines der komplexesten Gebiete der Rechtskunde. Die Organe des Staates diktieren im Rahmen der Raumplanung, welcher Nutzung ein definiertes Terrain dienen darf; Baugesetze und -verordnungen bestimmen die möglichen Formen der entsprechenden Gebilde. Jede Stadt weist damit heute eine planwirtschaftliche Seite auf. Durch die Kraft des Gesetzes soll Ordnung geschaffen, sollen Ziele verfolgt und Visionen realisiert werden. Die jüngst heftig umstrittenen Sonderwohnzohnen des Kantons Obwalden verdeutlichen, wie die Bauplanung in der Vorstellung von Politik und Bürokratie zu einer erwünschten Idealnutzung von Grundstücken führen soll.

Ob ein solcher Plan jedoch seinen Zweck erfüllt, liegt ausserhalb des Einflusses von Regierungen. Hier kommt die Macht und Bedeutung der Software, der nutzenden Menschen zum Tragen. Oder wie der Ökonom Friedrich August von Hayek sagen würde: hier kommt die «spontane Ordnung» zum Zug. Denn die Bewohner reagieren eben nicht nur auf staatliche Pläne. Ein Einkaufszentrum, ein Hallenbad oder auch ein Kino verfehlen ihr Ziel, wenn sie nicht den Präferenzen der Nutzer entsprechen. Doch wie lassen sich die Einflussfaktoren der subjektiven Nutzungsentscheidungen vielfältiger Individuen voraussagen? Die Liste verfehlter Bauplanungen ist daher lang – Ineffizienz und Kapitalverschwendung sind unausweichliche Begleiterscheinungen der Planwirtschaft.

Besonders drastisch zeigen dies die an Häss-lichkeit kaum zu überbietenden Bauwüsten der sowjetischen Plattenbauten, die noch immer weite Stadtteile Mittel- und Osteuropas verschandeln. Selbst erhebliche Investitionen und Umbauten konnten etwa in Ostdeutschland nicht verhindern, dass die einstigen Bewohner in Innen- oder Vorstädte flüchteten, sobald sie es sich leisten konnten. Die hochfliegenden sozialistischen Ideale der Bauplaner entsprachen nicht der Lebensrealität der trostlosen Wohnsilos. Ein ähnliches Schicksal ereilte an vielen Orten den «sozialen Wohnungsbau». Die Projects etwa, die armen Bevölkerungsschichten der USA im Rahmen des New Deals ein modernes Dach über dem Kopf geben sollten, entwickelten sich schnell zu Hochburgen der Armut, Kriminalität und Hoffnungslosigkeit. Der Erfolg eines geringverdienenden Amerikaners zeigte sich in der Folge darin, wie lange er brauchte, um diesen Projects zu entkommen.

Die chaotische Dynamik der flexibel auf Anreize reagierenden Städtesoftware bringt die Pläne der Stadtherren ebensoschnell zum Scheitern wie die Aussetzer des Betriebssystems einen PC. Doch der Schiffbruch des planerischen Machbarkeitswahns in der Stadtgestaltung kann auch zu positiven Folgen führen: «Gentrification» nennt sich das Phänomen, wenn sich «alternative Lebensformen» in längst abgeschriebenen Stadtteilen einnisten und sie mit neuem Leben füllen. Völlig ungeplant entsteht so eine vielfältige soziale und kulturelle Infrastruktur aus Bars, Restaurants, Kinderhorten, Studios und Galerien. Nach den Theorien des Ökonomen Florida fühlen sich dann junge und innovative Vertreter der kreativen Klasse von diesem Umfeld angezogen und tragen zu seiner ökonomischen Aufwertung bei.

In Ansätzen liess sich diese Entwicklung im erwähnten Zürcher Westen verfolgen. Andere Beispiele sind das Greenwich Village und Soho in New York, West Hollywood in Los Angeles oder der Prenzlauer Berg und jüngstens Kreuzberg in Berlin. Der Ausbau und die Modernisierung folgten hier den spontanen und nichtzentralen Investitions- und Nutzungsentscheidungen der Menschen. Ist der Stadtteil dann erst einmal aufgewertet, ist die Karawane der Alternativen und Kreativen längst in ein spannenderes Umfeld weitergezogen.

Es ist schon so: wichtige Elemente einer Stadt sind der Planungsgewalt ihrer Verwalter unterworfen. Zum Leben erweckt wird die Hardware einer Stadt aber immer erst durch uns, ihre Bewohner. So wie sich unsere Bedürfnisse, Launen und Geschmacksrichtungen dynamisch und manchmal auch erratisch verändern, verändert sich auch unsere Nutzung von Häusern, Strassen und Brücken. Um eine hohe Lebensqualität zu gewährleisten, muss eine Stadt daher vor allem eine Regel befolgen: ihrem pulsierenden Leben die Freiheit, Offenheit und Toleranz zur ständigen Veränderung zu lassen.

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«Urbanität». Das Schlagwort suggeriert «Weltläufigkeit», «Modernität», «Aufgeschlossenheit». Wer sich als «urban» bezeichnet, sieht sich als «gebildet», «kreativ», «unabhängig». Vom hochnäsigen und dünkelhaften «Städter» – dem Schimpfwort von einst – ist wenig übriggeblieben. Kulturkritik, die in der Stadt das Dunkle und Verruchte ausmacht, ist passée. Die Menschen zieht es wieder in die urbanen Zentren. Für viele […]

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