Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

(4) Wehret den Schweizern!

Deutsche Schriftsteller und Intellektuelle begegnen dem Schweizertum mit grösster Skepsis, von deutschen Politikern ganz zu schweigen. Einem Schweizer Gelehrten in Deutschland bleibt deshalb kaum etwas anderes übrig, als die ihm zugedachte Rolle zu übernehmen – die Rolle des putzig-polyglotten Eingeborenen aus dem helvetischen Kultursphärenreservat.

Sag’ an, Helvetien, du Heldenvaterland!
Wie ist dein altes Volk dem jetzigen verwandt?

Albrecht von Haller

 

Ein älterer Kollege, hauptberuflich mit den Symbolen politischer Selbstdarstellung beschäftigt, fragte mich neulich in den Wandelhallen einer süddeutschen Universität, was denn eigentlich mit der Armbrust geschehen sei, die den Produkten aus der Schweiz stets ihr unverwechselbares Gepräge gegeben habe. Sie sei ihm, obwohl er mindestens zweimal jährlich einen Ausflug in die dunkel lockende Welt südlich von Lörrach und Konstanz unternehme, kaum mehr begegnet. Dabei hätte ihm die Armbrust stets als Inbegriff des Schweizertums gegolten.

Die Frage des deutschen Kollegen stürzt mich in beredte Ratlosigkeit. Wie konnte mir als Schweizer entgangen sein, dass die Armbrust als Kennzeichen und Gütesiegel der helvetischen Herkunft eines Produkts sich irgendwann verflüchtigt haben musste, so sehr, dass sie meinem Gedächtnis beinahe entschwunden war? Ich gab dem Kollegen zu verstehen, dass ich mich nicht einmal mehr entsänne, ob die Sehne der Armbrust gespannt war – aber selbst wenn nicht, war die Botschaft angedrohter oder praktizierter helvetischer Schlagfertigkeit unmittelbar verständlich. Weshalb jedoch wurden die Erzeugnisse der Schweizer Industrie und Landwirtschaft klammheimlich abgerüstet und durch nichtssagende Aufkleber wie «Swiss Made» ersetzt? Schwerlich, weil sich mittlerweile herumgesprochen hatte, dass Pulverwaffen der Armbrust im Felde überlegen seien. Hängt der Verzicht auf das sprechende Symbol der Selbstbehauptung daran, dass man am Mythos jenes Helden irregeworden wäre, der vor dem Landvogtshut keine Demut hatte zeigen und sich den letzten Pfeil für den Landvogt selbst hatte vorbehalten wollen? Was sollte man einem Wilhelm Tell abgewinnen, der nur noch in Max Frischs Weichspülversion («Wilhelm Tell für die Schule») anstatt in Schillerscher Herbheit vor Augen stand?

Allerdings war die Nationalbank der Privatwirtschaft bei der Entwaffnung Tells schon längst zuvorgekommen. Der Fünfliber stellt zwar offiziell nur einen Alphirten mit Kapuzenhemd dar, der aber trotzdem als Wilhelm Tell identifiziert zu werden pflegt, malerisch passend zu der mit Schild und Lanze bewehrten Helvetia auf den niedrigeren Münzwerten. Nur eben: dieser Tell, ob vorgeblich oder nicht, kommt ohne Armbrust, ja überhaupt ohne Wehr’ und Waffe aus oder hält sie zumindest ausserhalb des Bildrandes versteckt, wo sich auch seine Hände befinden müssen. Trotz diesen fast schon pazifistischen, obrigkeitlichen Vorgaben – das Münzbild stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – blieben privatwirtschaftliche Erzeugnisse noch mindestens 50 Jahre lang Armbrust im Anschlag. Liessen sie von ihr erst ab, als längst die letzten Pfeile verschossen, die letzten Landvögte durch die hohle Gasse geritten waren und ihre Rechnung mit Himmel und Welt gemacht hatten? Zeigt der lange Abschied von der Armbrust an, dass man den Willen zur Selbstbehauptung, zur Existenz als wehrhaftem Gartenzwerg Europas aufgegeben hat und nun, wie alle andern auch, ganz unbewaffnet im Sandkasten der Globalisierung mitspielen möchte? Hat die kindliche Naivität des Imponiergehabes mit der Armbrust der kindischen Hoffnung Platz gemacht, die von den Spielkameraden gebackenen Sandkuchen müssten so vorzüglich lecker munden, dass der Schweizer sie sich unbesehen aufschwatzen lassen könne?

Den deutschen Kollegen haben meine ad-hoc-Mutmassungen über das Schicksal der Armbrust (anstelle einer Antwort auf seine einfache Frage) sichtlich irritiert. Er erwiderte, es werde doch so schlimm nicht um das helvetische Selbstbewusstsein stehen, dass man sich ohne Wehr’ und Waffen allen Zumutungen kampflos ergebe, die aus der EU im allgemeinen und aus Deutschland im besonderen kämen. Sicher hätten die deutschen Politiker nicht Unrecht, wenn sie von der Schweiz verlangten, Steuersünderdaten auszuliefern, das Bankgeheimnis abzuschaffen und den Fluglärm einzustellen. Aber dies müsse doch die Schweiz nicht gleich zur Selbstaufgabe bewegen. Denn sie habe ja durchaus eine Existenzberechtigung, umgeben und bedrängt von Europa. Wenn es Biosphärenreservate als Schutzgebiete bestimmter Vegetationszonen gebe, weshalb nicht auch Kultursphärenreservate? Und ist die Schweiz, fragt mich mein Gegenüber, nicht genau dies – ein Kultursphärenreservat, bevölkert von putzig-polyglotten Eingeborenen, die sich gastfreundlich, diskret und vor allem ruhig und neutral verhielten? Neutral, allem und jedem gegenüber, solange nur die eigene Kasse stimmt? Die Neutralität, so der Kollege, sei ja, wie ein deutscher Aussenpolitiker kürzlich spitz bemerkt habe, nichts weiter als der Versuch, sich aus der Politik und damit aus der Verantwortung für alles hinauszustehlen, was jenseits des eigenen Gartenzauns liege.

Der Kollege redet sich in Rage. Jahrzehntelang habe er steif und fest an das moralische Vorbild einer Schweiz geglaubt, die sich aus allen fremden Händeln heraus- und dabei das Ethos der Humanität hochgehalten habe. Er sei bereit gewesen, für die Schweiz als das bessere Deutschland jederzeit die Hand ins Feuer zu legen. Dann aber habe er sich beide Hände verbrannt, als die wahre Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg ans Licht gekommen sei, als die Banken um die Rückgabe der jüdischen Vermögen gefeilscht, als die SVP ihren populistischen Isolationismus zu predigen begonnen und als das Stimmvolk sich der Öffnung zum EWR und zur EU verweigert hätten. Moralischer Niedergang in der dunkel lockenden Welt südlich von Lörrach und Konstanz: als letzte Werte gälten, so der deutsche Kollege, den Schweizern nurmehr das Bankgeheimnis und der Steuerwettbewerb.

Konsterniert von der Erkenntnis, selbst vielleicht nichts weiter als ein entlaufener, putzig-polyglotter Eingeborener eines politisch-moralisch korrumpierten Kultursphärenreservats zu sein, zog ich mich mit der Entschuldigung aus der Affäre, ich müsse jetzt zu meiner Vorlesung. Der ältere Kollege blickte mir stirnrunzelnd nach, als hätte ich an den Verfehlungen meines Landes gewichtigen persönlichen Anteil.

Einfach auf sich beruhenlassen konnte ich die Sache nicht. Die unerquicklichen Stellungnahmen deutscher Gegenwartspolitiker in schweizerisch-deutschen Belangen, mit denen mich eine Internet-Recherche drangsaliert, fesseln meine Aufmerksamkeit freilich nicht nachhaltig. Zu sehr grinst den Leser daraus das ökonomisch-politische Machtkalkül an, als dass man hier einem unvoreingenommenen Blick auf den verdächtig gewordenen Nachbarn begegnen könnte. Zwar ist in nachbarschaftlichen Beziehungen Unvoreingenommenheit ohnehin die seltene Ausnahme, aber zumindest dürfte man in der Voreingenommenheit ein gewisses Reflexionsniveau erwarten. Also grabe ich tiefer nach den geistigen Paten des Schweizüberdrusses, der aus den Äusserungen der Kanzlerin ebenso wie aus denen des älteren deutschen Kollegen spricht.

Man muss tief graben, bis in die Zeit der Weimarer Republik. Da stosse ich etwa auf das «Spektrum Europas», ein 1928 erschienenes Buch des baltischen Grafen und Lebensphilosophen Hermann Keyserling (1880–1946), das neben anderen europäischen Nationen auch die Schweiz einer scharfzüngigen Analyse unterzieht:* Die Schweizer «haben keine grosse Idee mehr, die sie vertreten. Sie sind nicht mehr die Pioniere und Protagonisten der europäischen Freiheit. Hier setzt denn das Intim-Tragische ein … Die Schweizer sind ihrer heutigen Stellung gar nicht angepasst. Sie halten nicht nur nach wie vor auf rührende Weise daran fest, dass das Althergebracht-Eidgenössische vor allem zählt: sie halten sich als Nation und Idee für vorbildlich. In den Augen der gesamten übrigen Welt existieren sie aber heute ausschliesslich als Wirtsvolk und Wirtsland im weitesten Verstand. … Das Schweizerisch-Völkische erfordert einen so engen Rahmen, dass jede Erweiterung desselben, schon gar jedes Heraustreten aus ihm, das Positive des Urbilds zerstört. Das gute Schweizertum ist unentrinnbar schollengebunden. So wirkt der von der Scholle so oder anders Losgelöste zwangsläufig unerfreulich».

Wenigstens attestiert Keyserling den ungeliebten Schweizern eine intime Tragik, auf die ich fast schon wieder stolz sein könnte. Immerhin verstehe ich jetzt das Stirnrunzeln des älteren deutschen Kollegen besser, der in mir einen solchen von seiner Scholle abgeirrten Schweizer erkannt haben musste. «Das Pochen der Schweizer auf Freiheit in einer Welt, in der diese Gemeingut geworden, gehört vom Standpunkt der anderen ins Kapitel der kapitolinischen Gänse». Womöglich wäre es 1928 und danach tunlich gewesen, dem Schnattern dieser Gänse etwas mehr Gehör zu schenken.

Unter den Zeitgenossen Keyserlings, die auf die Gänse ohnehin nicht hören wollten, befand sich auch der Staatsrechtler Carl Schmitt (1888–1985). Als Kronjurist des Dritten Reiches lange Zeit geächtet und dennoch ein wichtiger Inspirator für das politisch-philosophische und das juristische Denken der Bundesrepublik, hat er für die jüngsten Invektiven gegen die Neutralität als Praktik politischer Verantwortungslosigkeit in «Die Kernfrage des Völkerbundes» (1926) die Steilvorlage geliefert:

«In zahllosen Aufsätzen und Broschüren über den Völkerbund erscheint die Schweizer Eidgenossenschaft als ideales Vorbild … Das Ideal wäre also eine Art Verschweizerung der Erde … Ihre Politik ist eine konsequente Politik dauernder Neutralität, also eine Politik, deren entscheidender Richtpunkt es ist, nicht in die Politik hineingezogen zu werden oder, wenn man es scharf formulieren will: eine Aussenpolitik der Vermeidung jeder Aussenpolitik. Wie kann ein dauernd neutralisiertes Land das Vorbild der übrigen Länder werden? Man müsste dann doch vor allem erst einmal die ganze Erde dauernd neutralisieren.»

Es versteht sich von selbst, dass Schmitt in dieser Neutralisierung ein Übel erkennt, das es um jeden Preis abzuwenden gilt. Aber vielleicht wäre – jenseits der Freund-Feind-Unterscheidung, die Schmitt als Kern des Politischen zu bemühen pflegt – eine dauerhaft neutralisierte Welt nicht die schlechteste politische Utopie. Zumindest dem narzisstisch gekränkten Schweizer in Deutschland fällt auf, dass die Neutralität gegen aussen im Inneren ungleich grössere politische Handlungsspielräume offenzuhalten scheint. Wäre es beispielsweise in Deutschland möglich, offen antieuropäisch zu politisieren, ohne der allgemeinen Ächtung zu verfallen? Auch wenn man die antieuropäische Politik gewisser helvetischer Kreise nicht gutheisst, ist ihre schiere Möglichkeit doch offenkundig ein Beleg für einen sehr weitgespannten Freiheitsrahmen. Aussenpolitische Neutralität ist vielleicht keine schlechte Rahmenbedingung für eine ernsthafte politische Partizipation des einzelnen, die sich beispielsweise im demokratischen Deutschland letztlich darauf beschränkt, alle vier Jahre einen Abgeordneten wählen und täglich die Zeitung lesen zu dürfen. Sind es nicht die Deutschen selbst, die auf Politik längst verzichtet haben?

Immerhin erheben nicht allein die politisierend-moralisierenden Schweizverächter in der deutschen Geistesgeschichte ihre Stimmen. Ein Kosmopolit und zeitweiliger Wahlschweizer aus der preussischen Provinz Sachsen, Friedrich Nietzsche (1844–1900), bevorzugt eine überpolitische Perspektive:

«Kühnheit nach Innen und Bescheidung nach Außen, nach allem ‹Außen› – eine deutsche Vereinigung von Tugenden, wie man ehemals glaubte, – habe ich bisher am schönsten bei schweizerischen Künstlern und Gelehrten gefunden: in der Schweiz, wo mir überhaupt alle deutschen Eigenschaften bei weitem reichlicher weil bei weitem geschützter aufzuwachsen scheinen als im Deutschland der Gegenwart. Und welchen Dichter hätte Deutschland dem Schweizer Gottfried Keller entgegenzustellen? Hat es einen ähnlichen wegesuchenden Maler wie Böcklin? Einen ähnlichen weisen Wissenden wie J. Burckhardt? Thut die große Berühmtheit des Naturforschers Häckel der größeren Ruhmwürdigkeit Rütimeyers irgend welchen Eintrag? – um eine Reihe guter Namen nur zu beginnen. Immer noch dort wachsen Alpen- und Alpenthalpflanzen des Geistes, und wie man zur Zeit des jungen Goethe sich aus der Schweiz selbst seine hohen deutschen Antriebe holte, wie Voltaire Gibbon und Byron dort ihren übernationalen Empfindungen nachzuhängen lernten, so ist auch jetzt eine zeitweilige Verschweizerung ein rathsames Mittel, um ein wenig über die deutsche Augenblichkeits-Wirtschaft hinauszublicken» («Nachgelassene Fragmente», 1881).

Bedarf das noch des Kommentars? Unter dem Eindruck solcher Bekenntnisse ist man beinahe versucht, die vielbeschworene Swissness zu einer intellektuellen Tugend zu erklären. Kein Isolationismus, sondern ein munteres Bekenntnis zur allenthalben bedrohten intellektuellen Autonomie, meinetwegen um den Preis, sie nur im Kultursphärenreservat üben zu dürfen. Gerade fällt mein Blick auf eine alte Bleistiftschachtel, und ich stelle fest, dass die Sehne der Armbrust nicht gespannt war.

* vgl. «Schweizer Monatshefte», Januar 1993, S. 14–21.

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!