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(4) SJW: Lesefreuden für Kinder seit 1932

Ursprünglich als eine Massnahme gegen «Schund- und Schmutzliteratur» lanciert, ist das Schweizerische Jungendschriftenwerk SJW mit seinen farbig illustrierten Heftchen eine Schweizer Institution, die auch heutzutage noch dazu beiträgt, die Lust der Kinder auf das Lesen zu fördern.

«Amazi ni ubuzima» steht über dem Heft, das Kinder beim fröhlichen Baden in einem Fluss zeigt und in Format und Aufmachung sofort an ein Heft des Schweizerischen Jugendschriftenwerks SJW erinnert. Aber der Titel ist ruandisch, und das Heft stammt aus dem Katalog der «Editions Bakame», die vor 11 Jahren in Ruanda von Agnes Gyr-Ukunda nach dem Modell des SJW gegründet wurden und inzwischen von 27 Titeln über 450’000 Hefte absetzen konnten. «Leseförderung» heisst explizit die Devise dieses Unternehmens, das in einem Land, wo sich die schriftliche erst langsam von der mündlichen Erzähltradition abzuheben beginnt und wo der Genozid von 1994 unzählige Waisenkinder hinterlassen hat, nicht nur eine pädagogische und kulturelle, sondern geradezu eine existentielle Bedeutung hat. Anders herum betrachtet, bedeutet die afrikanische Erfolgsgeschichte aber nicht zuletzt auch eine Bestätigung für die Vitalität und Zukunftsfähigkeit des Modells Schweizerisches Jugendschriftenwerk, das sich in den 75 Jahren seines Bestehens von einer Präventivmassnahme gegen «Schund- und Schmutzliteratur» zu einer Einrichtung entwickelt hat, die in allen vier Landessprachen, in enger Tuchfühlung mit der Lehrerschaft, auf originelle und ansprechende Art Leseförderung betreibt und dabei weder die veränderten Lesegewohnheiten, noch die neu dazugekommenen Sprachen aus dem Blick verliert.

Den ersten Anstoss zur Gründung des SJW gab 1928 die von den Zeitungen breitgewalzte Geschichte von zwei Schülern des Zürcher Riedtlischulhauses, die dem Unterricht fern geblieben und in einem Waldversteck bei der Lektüre von sogenannten Schundheftchen aufgespürt worden waren. Eine Erhebung in ganz Zürich brachte in der Folge «eine Verseuchung weiter Teile der Schülerschaft» durch die aus Deutschland importierten, als unmoralisch und gewaltfördernd geltenden Kioskhefte an den Tag und führte zur Gründung einer «Arbeitsgemeinschaft gegen Schund und Schmutz in Wort und Bild». Schliesslich schlug die Empörung so hohe Wellen, dass das Parlament in Bern einen Gesetzesentwurf diskutierte, der die Verbreitung von jugendgefährdenden Schriften mit Gefängnis belegte. So weitgehende Massnahmen lehnten allerdings der Schriftstellerverein und die Lehrerschaft ab, und als Alternative zu einem Verbotsregime verfolgten die Zürcher Lehrer Fritz Aebli, Fritz Rutishauser und Fritz Brunner und der Zentralsekretär von Pro Juventute, Otto Binder, das Projekt, den Schundheftchen, statt sie zu verbieten, äusserlich ähnlich gestaltete, ebenfalls mit «schreierischen» Titelbildern versehene, preisgünstige Hefte mit unbedenklichen Inhalten gegenüberzustellen.

Am 1. Juli 1931 erfolgte in Olten die Gründung des «Schweizerischen Jugendschriftenwerks SJW». Vorsitzender wurde der Muttenzer Bezirkslehrer Albert Fischli, und man beschloss, die Hefte im eigenen Verlag herauszubringen. Im März 1932 erschienen die ersten zwölf SJW-Hefte und wurden, wie das der Organisation erlaubt worden war, in den Schulhäusern der deutschen Schweiz zum Kauf angeboten. Sie waren nach Sparten und Alterskategorien in Serien eingeteilt, trugen Titel wie «Der Klub der Spürnasen», «Wie Edison Erfinder wurde» oder «Kathrinchens Hasenpantöffelchen» und stammten von Schweizer Autorinnen und Autoren wie Ernst Eschmann, Olga Meyer oder Traugott Vogel. Schon die erste Serie verkaufte sich – zu 25 Rappen das Heft – ausnehmend gut, und während die bereits erschienenen immer wieder nachgedruckt wurden, publizierte man jährlich weitere 12 bis 14 Titel.

Vom Kampf gegen Schund und Schmutz wandte man sich nach 1933, unter dem Eindruck der Bedrohung durch den Nationalsozialismus, im Zeichen der geistigen Landesverteidigung bald einmal der nationalen Erziehung zu. «Es gilt vor allem, unter der Jugend echt schweizerische Denkart zu verbreiten, Liebe zur Heimat und zum Hergebrachten», gab Albert Fischli im Jahresbericht 1934 die Stossrichtung vor. Im gleichen Jahr begann man mit Übersetzungen ins Französische und nahm unter dem Namen «Œuvre Suisse des Lectures pour la Jeunesse» (OSL) auch die französische Schweiz ins Visier, wo man aber erst wirklich Fuss fassen konnte, als 1943 die welsche Schulinspektorenkonferenz für die Sache gewonnen worden war. Bereits zuvor hatte das Werk dank Ugo Tarabori unter dem Namen «Edizioni Svizzere per la Gioventù» (ESG) mit jährlich vier italienischen Heften auch das Tessin miteinbeziehen können.

Zwischen 1940 und 1970 konnten bei bis zu 74 Neuerscheinungen Jahr für Jahr annähernd eine Million Hefte abgesetzt werden, und das SJW entwickelte sich zu einer Institution, die aus den Schweizer Schulhäusern nicht mehr wegzudenken war. 1957 wurde der Verein in eine Stiftung umgewandelt, und seit damals erhält das SJW regelmässige Zuwendungen von Bund und Kantonen.

Der Taschenbücher-Boom, veränderte Unterrichtsmethoden und die Infragestellung der von der geistigen Landesverteidigung verfochtenen Werte, vielleicht aber auch Fehleinschätzungen und Versäumnisse bei der Planung und Präsentation des Programms, führten in den achtziger und neunziger Jahren zu einem scheinbar unaufhaltsamen Niedergang. Der jährliche Verkauf sank auf 200’000 Hefte ab, und das auf nebenamtlich tätigen Vertriebsleitern und Lehrkräften basierende Verteilnetz vermochte je länger desto weniger zu gewährleisten, dass in allen Schulhäusern SJW-Hefte angeboten wurden. Schon 1984 warf der «Beobachter» die Frage auf: «Ist das SJW am Ende?», und 2005, als dem Stiftungsrat ein Vorschlag zur Umstellung der Produktion auf schülerzeitschriftenähnliche Hefte vorlag, schien das Schicksal des Unternehmens besiegelt zu sein.

Da trat die Filmemacherin Margrit R. Schmid auf den Plan, erklärte sich bereit, ab Januar 2006 die Verlagsleitung zu übernehmen und schaffte es, den Abwärtstrend innerhalb weniger Monate zu stoppen, das Vertriebssystem neu zu organisieren und die Bedeutung des Unternehmens durch Gespräche mit allen Beteiligten wieder merklich zu erhöhen. Nach wie vor werden 25 Hefte im Jahr produziert, wovon fünf auf Französisch, drei auf Italienisch und drei bis fünf in einem der rätoromanischen Idiome. Und wie seit je, wird Wert auf einen kinderfreundlichen farbigen Umschlag gelegt, werden für jede Altersstufe gut lesbare Schriften verwendet und wird der Text ansprechend illustriert. Ein Katalog, der in 250’000 Exemplaren viersprachig erscheint, informiert über Backlist und Neuerscheinungen, und in die blaue Bücherbox, die im Turnus den für die Sache engagierten Lehrern anstelle der früheren Kartonschachtel zugeschickt wird, kommen nicht nur die neuen, sondern auch frühere, noch aktuelle Hefte hinein.

Da gibt es neben buntfarbigen Erstleseheften, wie Anita Schornos liebenswürdigen «Krümelmonstern» oder Esther Leists pfiffigem Bären­abenteuer «Die Wette» – beide mit heraustrennbaren farbigen Klebebildchen ausgestattet –, auch für die Mittelstufe Abenteuerliches, wie Karin Bachmanns Krimi «Nächtlicher Alleingang», Barbara Trabers «Powermädchen» oder Christa Dütschs Reiserecherche «Auf eigene Faust»; da steht für Science-Fiction-Freaks ein Heft über Ufos zur Verfügung und liefert Monika Fischers reich illustrierte Zeitzeugenbefragung «Retten Sie wenigstens mein Kind» nicht nur Lektüre für historisch Interessierte, sondern auch Material für den Unterricht. Was ebenso für Margrit R. Schmids grossformatige Hefte über den Bergsturz von Goldau oder das Geheimnis der schwarzen (Einsiedler) Madonna gilt und unbedingt selbst für das bei seinem Erscheinen heftig diskutierte Heft «Liebe Sex. Verhüte Aids» zutrifft, das längst zum unentbehrlichen Unterrichtsmaterial für die Sexualkunde avanciert ist. Mit Meinrad Inglins «Schwarzem Tanner» oder Franz Hohlers unverwüstlichen «Sprachspielen» haben nach wie vor auch bekannte Schweizer Autoren im Angebot ihren Platz, und was die gestalterische Seite betrifft, ist die Luzerner Hochschule für Gestaltung nicht aus der Geschichte des SJW wegzudenken. Was den Verlag aber nicht hindert, wie im Falle von «La Nuit des étoiles» auch Schulklassen mit der Illustrierung von Heften zu beauftragen.

Und die anderssprachigen Kinder? Sie sind mit einer CD-Rom, von der drei erfolgreiche Hefte auf Tamilisch, Portugiesisch, Serbisch, Kroatisch, Albanisch und Türkisch heruntergeladen und ausgedruckt werden können, in die SJW-Leseförderung miteinbezogen, während albanische Jugendliche im Band «Und dann wurde ich ausgeschafft» gleich selbst in ihrer Sprache zu Wort kommen. Kein Zweifel also, dass das Schweizerische Jugendschriftenwerk einen wesentlichen Beitrag zur Leseförderung leistet und dass es für die Lesekompetenz unserer Sieben- bis Vierzehnjährigen von wesentlichem Vorteil wäre, wenn das Unternehmen wieder zu seiner früheren Verbreitung und Bedeutung zurückfinden könnte.

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