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(4) Grenzüberschreitende Landschaften

Die klassische, klar abgrenzbare Stadt ist aus der Schweiz verschwunden. Eine Expedition von 140 Architekturstudenten fand stattdessen «Metropolitanregionen», «Städtenetze», «Stille Zonen», «Alpine Brachen» und «Alpine Resorts», dokumentiert und kommentiert in «Die Schweiz. Ein städtebauliches Porträt». Der Bericht eines begeisterten Lesers.

Seit ein, zwei Jahrzehnten ist in der Schweiz viel in Bewegung geraten. Irreversibel hat sich unser Land von einem agrarischen zu einem urbanen gewandelt. Zu einem selbstbewusst städtischen? Das allerdings ist fraglich. Die Totalzersiedelung zwischen Bodensee und Genfersee lässt sich treffend mit «Siedlungsbrei» bezeichnen. Die Grossagglomeration Mittelland, weder Stadt noch Land, nicht mehr Dorf und noch nicht City, ist zu einem konturlosen, reizlosen Territorium geworden, mit Wohnsiedlungen (oder Tennisplätzen) zwischen Logistic-Lagerhallen und Shoppingcenters. Das über die Hügel hinfliessende, «erschlossene» Terrain ist weder zum Wohnen noch zum Arbeiten und auch nicht für die Freizeitgestaltung attraktiv; allgegenwärtig sind die Autobahnzubringer mit Verkehrskreiseln und die immer selben Geldautomaten. Nun, dies alles wissen wir zur Genüge.

Mitten in die Diskussion um die urbane Zukunft unseres Landes sind drei aufregende Bände des ETH-Studios Basel erschienen: «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait».* Während fünf Jahren haben 140 Architekturstudenten Expeditionen ins Landesinnere und dann, an rund 70 Standorten, sogenannte Bohrungen durchgeführt. Sie haben sich mit den spezifischen Gegebenheiten eines Ortes auseinandergesetzt, mit Topographie, Klima, Verkehr, bebauter Struktur, wirtschaftlichen und demographischen Parametern. Ihre Dokumentationen städtischer Agglomerationen oder von Bergdörfern – Interviews, Photographien oder Filme – wurden nachträglich in einer Art urbanistischen Labors ineinander oder gegeneinander montiert. Später wurden die Erkenntnisse und Einsichten in suggestive Karten, Luftbilder und Graphiken, in teils lyrische, teils so noch nie gesehene Photostrecken gebündelt. Sympathisch und aussagekräftig sind die von Hand angefertigten Skizzen. Das urbanistische Labor wurde von vier herausragenden Schweizer Architekten und einem Städteforscher geleitet, die auch die Herausgeber der drei Bände sind. Die Architekten Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili und Pierre de Meuron verkörpern Weltläufigkeit und kosmopolitische Erfahrung; sie nähern sich der urbanen Realität mit wahrhafter Neugier, Akribie und einer gesunden Dosis Skepsis. Der Städteforscher Christian Schmid, der fünfte Herausgeber, liefert das notwendige Theoriegerüst; er hat, zusammen mit den vier Architekten, die Fülle des heterogenen Materials in eine kohärente Fassung, in einprägsame Bilder, in gut lesbare Textblöcke gebracht.

Was hat das urbanistische Labor «herausgefunden»? Sagen wir es zuerst ex negativo. In den drei kleinen, quadratischen Bänden mit insgesamt mehr als 1’000 Seiten finden wir keinen fertigen Entwurf für eine künftige bauliche Neugestaltung der Schweiz, keinen urbanistischen Masterplan, keine Modelle, keine Postulate. Fünf Typologien bilden das Kernstück des Portraits, die sich im Verlauf der Forschung wie von selbst herauskristallisiert haben: die «Metropolitanregionen», die «Städtenetze», die «Stillen Zonen», ferner die beiden Differenzierungen im Berggebiet: die «Alpinen Brachen» und die «Alpinen Resorts».

Die «Metropolitanregionen» sind städtische Ballungsräume mit starker internationaler Vernetzung und Ausstrahlung. Unterschiedliche Menschen, Tätigkeiten und Nutzungen prallen aufeinander, bilden Knoten im globalen Netz der Kommunikationsbeziehungen. In der Schweiz lassen sich drei solcher Regionen identifizieren. Zürich hat sich in den letzten dreissig Jahren von einer Industriestadt zu einem globalen Finanzzentrum, zum Headquarter der schweizerischen Ökonomie, zu einer «Global City» entwickelt. In den letzten Jahrzehnten hat die Stadt nicht nur eine dynamische Agglomeration, sondern eine eigentliche polyzentrische Struktur (Zürich Nord, Limmattal usw.) generiert. Genf basiert, neben einem engen Segment von Finanzgeschäften, auf der starken Präsenz internationaler Organisationen. Die Beziehung zur gerade entstehenden «Metropolitanregion», die sich allmählich dem Lac Léman entlang bis nach Lausanne ausbreitet, ist ambivalent. Basel schliesslich stützt sich auf global agierende Konzerne sowie auf Forschung in den Bereichen Chemie, Pharmazie und Biotechnologie. Ein starkes Lokalbewusstsein macht aus Basel eine sozial und kulturell homogene Stadt. Entscheidend ist, dass sich Basel schon seit einiger Zeit über die Grenzen hinaus nach Frankreich und Deutschland ausdehnt. Mit den Zentren Mülhausen und Freiburg ist ein tripolarer und trinationaler Metropolitanraum entstanden.

«Städtenetze» bilden sich aus kleinen und mittleren Zentren, die ausserhalb der «Metropolitanregion» liegen. Zwischen den Zentren bestehen zahlreiche wirtschaftliche, kulturelle und soziale Verflechtungen. Da jedes Zentrum über spezifische Funktionen und Einrichtungen verfügt, können überraschende Synergien freigesetzt werden. Zum Städtekranz Bern, der ausgeprägtesten Stadtnetz-Figur, gehören unter anderen die Mittelstädte Biel, Freiburg, Solothurn, Burgdorf und Thun. Die Bewohner eines Städtekranzes sind sich im allgemeinen kaum bewusst, in einem dynamisch vernetzten Stadtgebilde zu leben.

Eigenartig sind die «Stillen Zonen», die die Antithese zu den urbanen Konzentrationen verkörpern. Die Schweiz hat die Modernisierungsschübe zwar alle mitgemacht, diese aber verschämt getarnt. Die scheinbar ewige Ruhe im ganzen Land (im Angesicht der Berge, der nationalen Silhouette) ist seit einem halben Jahrhundert nicht mehr das, was sie einmal war. In Helvetien hat bloss ein einziger grosser Landstrich eine eigentümliche Resistenz gegen die verschiedensten Implosionen und Explosionen gezeigt: der Jura. Als weitere zusammenhängende stille Restflecken wären das Gros de Vaud, das Napfgebiet und Appenzell mit dem Toggenburg zu nennen; doch auch da hat sich im Innern einiges unbemerkt, jedoch nachhaltig verändert. Die letzten Reste ländlicher Gebiete bilden einen Flickenteppich von isolierten grünen Inseln. Die Potentiale der «Stillen Zonen» werden erst dann sichtbar, wenn ihre konfliktvolle Beziehung zu den städtischen Zentren bewusstgemacht wird.

«Alpine Resorts» sind temporäre Städte für die Freizeitgestaltung. Die Intensität und der Charakter ihrer Netzwerke ist zyklisch. Die Umwandlung der ehemaligen Tourismusorte in moderne Resorts hat mit der Veränderung der touristischen Kultur zu tun. Die zunehmend städtische Lebensweise verleiht den Alpinen Resorts einen urbanen Charakter. Ein Resort kann, wie beispielsweise Davos während des Weltwirtschaftsforums, temporär zu einer Weltstadt avancieren. Die «Alpinen Brachen» sind ebenso wie die «Alpinen Resorts» das Resultat grosser Transformationen im Alpenraum.

«Alpine Brachen» sind Zonen des Niedergangs und der langsamen Auszehrung; man denke an die kaum beachteten Hinterhöfe der Schweiz, das Safiental, an Wassen oder das Calancatal. Das Calancatal hat bis heute überlebt, doch die notwendigen Aufwendungen zum Erhalt der Besiedlung sind enorm. Das Schrumpfen der Landwirtschaft führt zu Vergandung und Verwaldung, und wenn die Sonnenterrassen zuwachsen, wird das Tal touristisch uninteressant. Um die Besiedlung aufrechtzuerhalten, müssen enorme Subventionen aufgewendet werden.

Im ersten Band der Publikation präsentiert Christian Schmid das Theoriegerüst, das auf den Schriften des französischen Soziologen Henri Lefebvre (1901–1991) aufbaut. Lefebvre hatte seine Werke zur Stadt und zum Raum und seine These von der vollständigen Urbanisierung der Gesellschaft vor mehr als dreissig Jahren formuliert, doch erst in den letzten Jahren wurden sie für die Analyse der urbanen Entwicklungen weltweit rezipiert. Christian Schmid greift mit den Begriffen «Netzwerke», «Grenzen», «Differenzen» jene Elemente der Theorie Lefebvres heraus, die eine fruchtbare Anwendung ermöglichen.

«Netzwerke» basieren auf einer materiellen Infrastruktur wie Strassen, Flughäfen oder Glasfaserkabeln und führen zu einer immer dichteren Vernetzung der Welt. Da Netzwerke nicht homogen über den Raum verteilt sind, gibt es in den Zonen dichter Interaktionen Knoten, an anderen Stellen hingegen Löcher. Mit dem Begriff «Differenz» wird bewusst gemacht, dass es möglich ist, in der Stadt die unterschiedlichsten Lebensentwürfe zu realisieren. Urbane Lebensweisen unterscheiden sich von den ruralen dadurch, dass sie sich über ihre Differenzen beschreiben lassen. Entscheidend ist, dass das Zusammenspiel von Differenzen jene Energien freisetzt, durch die sich die Stadt permanent neu erfindet. Urbane Gebiete werden von vielfältigen «Grenzen» durchzogen, aus dem unaufhörlichen Fluss der interaktiven Netzwerke werden Segmente herausgeschnitten. Grenzen sind Schnitte im kontinuierlichen Fluss der Interaktionen, sie umschliessen territoriale Einheiten von Gewohnheiten, Traditionen, Sprachen, Kulturen oder Identitäten, sie sind Instrumente der Strukturierung, der Kontrolle, der Ordnung.

Die drei Bände bringen zwei merkwürdig konträre Sachverhalte zum Ausdruck. Einerseits findet – wie auch in den übrigen Städten Europas – in der Schweiz eine Umorientierung statt. Kürzlich noch galten die Kernstädte als «Problemcontainer», Stichworte sind etwa «neue Armut» oder die «Drogenfrage». Dieses Negativbild der Stadt verblasst jedoch allmählich, und wir feiern aktuell eine Renaissance des Städtischen. Die heutige moderne Stadt zeichnet sich durch eine schmackhafte Kulturbouillon, eine kosmopolitische Ausstrahlung und ein trendiges Image aus. Die Unternehmer schätzen das pulsierende Leben der Stadtkerne, sie investieren in grossem Stil in die sich wandelnden Stadtlandschaften. Sagen wir es noch deutlicher: nicht nur die grösseren Schweizer Städte haben den Wandel zu dynamischen Metropolen vollzogen, nicht nur in den Zentren wird urban gelebt; die Mehrzahl der Bewohner unseres Landes praktiziert einen offenen, urbanen Lebensstil. Wir sind insgesamt eine urbane Gesellschaft geworden.

Doch gleichzeitig hemmt bis in die Gegenwart hinein irgend etwas das Ja zur Grossen Stadt, zur Metropole. Obschon sich der urbane Lebensstil ausbreitet, sind in der Schweiz antiurbane Reflexe noch immer sehr mächtig. Der zweite Band der Studie, «Grenzen, Gemeinden. Eine kurze Geschichte des Territoriums», kommt zu folgendem Resultat: In der dreistufigen territorialen Gliederung unseres Landes – Gemeinden, Kantone, Eidgenossenschaft – entpuppt sich die Gemeinde, das ehemalige bäuerliche Dorf, als besonders resistent. Obschon sich im Verlauf der Zeit Kantonsgrenzen und Landesgrenzen verschoben haben, hat sich die unscheinbarste, kaum je veränderte Einheit, die kommunale, als die stabilste erwiesen. Das helvetische Territorium ist durch die global agierende Wirtschaft, die Massenmedien und die Migrantenströme seit langem herausgefordert, die urbane Gesellschaft hat nichts mehr mit dem alten Stadtkörper gemein. Und doch zeigt sich in der Praxis, dass Raumplanung in Wirklichkeit nichts anderes ist, als das Protokollieren der «Kriegsfolgen» zwischen den Kommunen. Marcel Meili bringt den paradoxen Sachverhalt auf den Punkt. Die Güter, die Gelder, die Menschen fliegen in der Welt herum, die Individuen benutzen jedes erdenkliche Kommunikationsmittel in allen möglichen Sprachen und kennen die neuesten Computerprogramme – aber am Abend fahren sie hinaus in ihr Haus in der Agglomeration und pflegen dort an der Gemeindeversammlung die Selbstvergessenheit ihres Dorfes wie eh und je.

Kommen wir nochmals auf den Hauptgedanken der Studie zurück. In der urbanen Schweiz herrscht ein Nebeneinander verschiedener Wirklichkeiten. Gegensätze, Kontraste und Überlagerungen konstituieren dynamische Situationen, führen zu Spannungen und Konflikten. Die vielfältigen Dramen des Alltags sind Ausdruck ebendieser Konflikte. Nun ist nicht nur die einzelne Stadt, sondern das ganze Land ein Konglomerat von Differenzen. Die fünf unterscheidbaren Typologien stehen mit der urbanen Gesellschaft in Beziehung. Mit den fünf Typologien wird die Homogenität, die alles plattwalzende Nivellierung überwunden. Die Schweiz besteht – souverän belegt durch die Arbeit des ETH-Studios Basel – aus Unterschieden. Diese Unterschiede gilt es wahrzunehmen, als Potential fruchtbar zu machen und zu stärken.

Die drei Bände geben eine überraschend neue Sicht auf eine komplexe, widersprüchliche Realität. Auf der beigelegten Thesenkarte «Urbane Potenziale» sehen wir, wie die Metropolitanräume Basel und Genf sich über die nationale Grenze hinwegsetzen, wie sie nach Deutschland, nach Frankreich hinüberfliessen, sich ausweiten und vernetzen. Eine Aufweichung der Grenze hat auch im Süden stattgefunden. Lugano, Locarno, Bellinzona, Chiasso, die Knotenpunkte der Rete Urbana dei Laghi, haben sich schon lange dem Metropolitanraum Mailand-Turin, einem der mächtigsten in ganz Europa, geöffnet. Die Städte des Tessins spezialisieren sich zunehmend auf die Dienstleistungen für die Lombardei.

Mit den drei Bänden wird ein nationales Symposion über neu zu denkende territoriale Grossformen und Raumbilder eröffnet. Die Zukunft der «Alpinen Brachen» und der «Alpinen Resorts», aber auch der «Stillen Zonen» im Rahmen der urbanen Gesellschaft ist noch unbestimmt, in ihnen steckt ein gewaltiges, auch ein ökologisches Potential. Die Schweiz ist ein vollständig urbanisiertes Land, in dem neue, grenzüberschreitende Landschaften entstehen. Die klassische, klar abgegrenzte Stadt ist aus diesen Landschaften verschwunden.

* Roger Diener, Jacques Herzog, Marcel Meili, Pierre de Meuron & Christian Schmid (Hrsg), «Die Schweiz. Ein städtebauliches Portrait». 3 Bände und eine Thesenkarte. Basel: Birkhäuser, 2006.

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