(4) Familie – trotz alledem!
Die Familie widersteht der Rationalisierung des Lebens. Wie sehen Familienmodelle aus, in denen das Schöpferische über das Zerstörerische obsiegt?
Der leichtfertige Umgang mit natürlichen und finanziellen Ressourcen trübt die Stimmung in der Gegenwart und wirft lange Schatten auf die Zukunft. Und doch ist damit ein Urwort, mit dem der ungebremste kapitalistische Tatendurst umschrieben worden ist, noch nicht zum alten Eisen geworden: das Wort von der «schöpferischen Zerstörung», der creative destruction, das der Ökonom Joseph Alois Schumpeter in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in die Welt gesetzt hat.
Wenn sich das moderne Leben in einem fortwährenden Verwandlungs- und Erneuerungsprozess befindet, dann ist es einfach unvermeidlich, dass Bestehendes in Frage gestellt und abgeschüttelt werden muss. John Dewey, der grosse Philosoph und Verfechter eines sozialen Liberalismus in den USA, schrieb schon im Jahre 1922: «Das Leben setzt sich nur fort, indem es sich erneuert.» Recht hat er.
So muss auch immer wieder neu geprüft werden, welche Effekte die Dynamik moderner Gesellschaften auslöst, wie sie bewertet und gesteuert werden sollen. Dabei sind die Chancen und Risiken, die die schöpferische Zerstörung für die verschiedenen Bereiche des sozialen Lebens bereithält, nicht gleichmässig verteilt. Joseph Schumpeter hat dies erkannt, doch sind die Einsichten, die sich zu dieser Frage in seinem Werk finden, weit weniger bekannt als seine These von der «schöpferischen Zerstörung». Es lohnt sich, sie in Erinnerung zu rufen.
Bei seinem Versuch, die Transformation des sozialen Lebens nachzuzeichnen, stösst Schumpeter auf einen Bereich, bei dem die Effekte der «Zerstörung» und «Zersetzung» diejenigen des «Schöpferischen» doch überwiegen. Dieser Bereich ist das familiäre Leben. Die «Rationalisierung des gesamten Lebens» führe, wie Schumpeter meint, zu einer «Auflösung» der Familie. «Sobald Männer und Frauen die utilitaristische Lektion gelernt haben», können sie demnach keinen Sinn mehr darin sehen, «die schweren persönlichen Opfer» auf sich zu nehmen, «welche Familienbindungen und namentlich Elternschaft unter modernen Bedingungen mit sich bringen». Entsprechend versuchen die Menschen, sich den drohenden finanziellen Lasten zu entziehen; sie fürchten auch den «unmessbaren Verlust an Behaglichkeit, an Sorgenfreiheit und an Möglichkeiten, andere Dinge von zunehmender Anziehungskraft und Mannigfaltigkeit zu geniessen». «In den Köpfen mancher potentieller Eltern» regt sich die Frage: «Warum sollten wir unsere Wünsche stutzen und unser Leben arm machen, um in unserem Alter beleidigt und verachtet zu werden?» Diese Frage ist heute gar noch aktueller als zu Schumpeters Zeiten.
Besorgniserregend ist die «Auflösung» der Familie nach Schumpeter deshalb, weil damit ein «Pfeiler» bröckelt, auf den sich die «kapitalistische Ordnung» stützen muss, wenn sie richtig funktionieren soll. Es ist ein Pfeiler, der, wie Schumpeter betont, «aus ausserkapitalistischem Material» besteht. Bei diesem Material handelt es sich, genau genommen, um den sozialen Kitt, der die Gesellschaft zusammenhält, um das Auffangnetz, in dem die Individuen Rückhalt finden, und um das Schmiermittel, mit dem der Gang der Generationen flüssig bleibt. Von Schumpeter können wir die kostbare Einsicht übernehmen, dass wir nicht stillschweigend davon ausgehen können, die Familie würde im weichen Kern der Gesellschaft einfach unbehelligt, unverändert weiter funktionieren, während sonst alles umgebaut und umgestürzt wird. Kostbar ist auch seine Einsicht, dass gerade die wirtschaftliche Ordnung von Voraussetzungen abhängig bleibt, die sie nicht einfach selbst, gewissermassen aus dem Handgelenk, reproduzieren kann. Jenseits der Wirtschaft, im privaten Leben, sind Kräfte am Werk, die ganz eigenen Regeln folgen und deren Dynamik ganz andere Formen annimmt als man dies aus der ökonomischen Nutzenmaximierung kennt.
Daraus ergibt sich direkt die Frage, wie es nun um die Transformation der Familie in der Moderne bestellt sei. Schumpeter selbst zeichnet hier, wie wir gesehen haben, ein eher düsteres Bild: er sieht weniger das Potential zur Verwandlung als vielmehr die Gefahr der «Zersetzung» und «Auflösung» der Familie.
Wenn man auf die letzten fünfzig, sechzig Jahre zurückblickt, wird man Schumpeter bei seiner Analyse nicht geradewegs beipflichten. Immerhin ist die Familie, wie man weiss, in der Zwischenzeit nicht ausgestorben. Der erste Grund dafür liegt auf der Hand: es hat sich in den Nachkriegsgesellschaften zunächst eine Arbeitsteilung eingespielt, wonach die wirtschaftliche Dynamik des ökonomischen Individualismus Sache der Männer ist, das familiäre Leben dagegen den Frauen zugeschlagen wird. Diese Arbeitsteilung hat nun aber doch prekäre, fragile Züge.
Erkennbar werden sie zuerst einmal an der explosionsartig ansteigenden Zahl alleinerziehender Mütter in westlichen Ländern. Wie auch immer diese Zahl zustande kommt – die Männer, die sich einfach aus dem Staub machen, haben daran sicherlich einen wesentlichen Anteil. Kann man es gutheissen, dass es ihnen äusserlich immer leichter gemacht wird und innerlich immer leichter fällt, die exit option zu wählen? Die Anreize der Individualisierung führen hier zu schnellen Entschlüssen mit kaum übersehbaren, schmerzlichen Folgen.
In jüngerer Zeit mehren sich nun aber auch die Signale, dass jene Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau grundsätzlich in Frage gestellt wird. Diese Signale kommen einerseits von der Frauenbewegung, die die stärkere Beteiligung der Frauen am Berufsleben vorangetrieben hat, anderseits aus der Wirtschaft, die gerade auch angesichts der demographischen Entwicklung die Frauen stärker in die Erwerbstätigkeit einbinden will.
Es ist plausibel, dass Frauen sich bei ihren Lebenszielen nicht auf das private Leben in der Familie einschränken lassen wollen. Interessant ist nun, dass sie Rückendeckung von der Wirtschaft bekommen. So enthält der kürzlich neu veröffentlichte, breit anerkannte «Innovationsindikator» des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung eine Teilwertung zur «Haltung zur beruflichen Partizipation von Frauen»; ihr wird grosses Gewicht bei der Beurteilung der «Veränderungskultur» eines Landes zugesprochen. Die Schweiz, die auf der Rangliste dieses «Innovationsindikators» insgesamt den stolzen dritten Platz belegt, rangiert in dieser Sonderwertung übrigens nur auf dem 13. Platz unter 17 verglichenen Industrieländern: vor Österreich, Japan, Italien und Korea.
Es liegt auf der Hand, dass die Integration der Frauen ins Berufsleben massive Auswirkungen auf das private Leben in der Familie hat. Bedeutet dies, dass die Frauen sich nun auch das Kosten-Nutzen-Kalkül zu eigen machen, das die Männer in der Berufswelt durchgesetzt haben? Oder suchen Männer und Frauen gleichermassen eine neue Balance zwischen Beruf und Familie? Die politischen Bewertungen dieser Entwicklung fallen äusserst gegensätzlich aus; längst sind sie nicht mehr dem alten Muster von Rechts und Links verpflichtet.
Wenn Feministinnen und Wirtschaftsführer an einem Strick ziehen, dann darf man davon ausgehen, dass sich die von ihnen favorisierte Entwicklung in Zukunft verstärken wird. Damit stellt sich nun aber verschärft die Frage nach der Transformation (Auflösung? schöpferischen Zerstörung? Neuerfindung?) der Familie. Zwei verschiedene Szenarien zeichnen sich am Horizont ab.
Nach dem ersten Szenario führt diese Entwicklung zu einer allseitigen Professionalisierung des Lebens, also zu einer Gesellschaft, die am Ende nur noch aus Individualisten besteht, denen das Leben mit Kindern nicht ins Beuteschema passt. Der massive, über Jahrzehnte stabile Rückgang der Geburtenraten, der in den meisten westlichen Ländern zu beobachten ist, kommt nicht von ungefähr. Gerade bei gutausgebildeten Frauen ist dieser Rückgang bekanntlich besonders stark. In der «Neuen Zürcher Zeitung» erklärte die Journalistin Claudia Wirz, ein liberaler Staat solle sich gefälligst damit abfinden, dass die Bürger als «Souverän» das «Recht» wahrnehmen, «durch ihr Verhalten ihr eigenes Aussterben zu beschliessen, sofern sie das wollen».
Stolz, geradezu dickköpfig wird hier die individuelle Freiheit verteidigt, aber seltsamerweise klingt die Frage überhaupt nicht an, welche äusseren Umstände und inneren Antriebe dazu führen, dass die Menschen nun auf dieses «Verhalten» verfallen. Statt mit scheinbar grosszügiger Geste den Zeugungs- und Gebärstreik zu verteidigen, sollte man den massiven Einfluss zur Kenntnis nehmen, den gesellschaftlich forcierte Lebensmodelle auf individuelle Wünsche ausüben. Sie bringen es mit sich, dass manche die Familie eher als Hemmschuh denn als Möglichkeit zur Abrundung oder gar Vervollkommnung des Lebens sehen. Es kommt zu einem inneren Mobbing gegen das Elternsein. Der ökonomische Individualist steht vor dem Gedanken, ein Leben mit Kindern zu führen, wie vor einem Störenfried. In seinem Lebensmodell ist diese ablehnende Haltung fest (sozusagen «werkseitig») eingebaut. Ob man dies als «Innovation» bewundern soll, wage ich zu bezweifeln.
Das zweite Szenario zielt nicht auf die fortschreitende Individualisierung, die am Ende wirklich in der von Schumpeter prognostizierten «Auflösung» der Familie gipfeln könnte, sondern auf eine Verwandlung der Familie. In ihr sind Männer- und Frauenrollen gleichermassen neu zu bestimmen. Wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – für Frauen und für Männer – den Sprung von der Sonntagspredigt in die Werktagswirklichkeit schüfe, dann würde sich auch das gemeinsame Leben von Männern und Frauen mit Kindern verändern. Der Konflikt zwischen Lebenszielen, der unter herkömmlichen Bedingungen oft auf eine Entscheidung zwischen Beruf und Familie hinauslief, könnte auf diese Weise seine Schärfe verlieren. Das ist keine Privatangelegenheit der Betroffenen; hier steht die Lebensfähigkeit der ganzen Gesellschaft auf dem Spiel. Entsprechend sind auch Politik und Wirtschaft gefordert. Ich verhehle nicht, dass auf meinem familienpolitischen Wunschzettel eines ganz oben steht: der Sieg dieses zweiten Szenarios.
Wie steht es nun aber um die hartnäckigen Vorbehalte der Individuen, die auf den Primat des Eigennutzes erpicht sind? Wie steht es um den schleichenden Verdacht, dass man das eigene Wohlergehen für das Kind opfert? Von Eltern hört man immer wieder Klagen über die alltäglichen Lasten, die vielfältigen Benachteiligungen, denen sie ausgesetzt seien. Wer sein persönliches Opfer derart in den Vordergrund stellt, erweist der Sache der Familie allerdings einen schlechten Dienst. Bei dieser Opferrhetorik fällt unter den Tisch, dass es sich bei der Elternschaft gar nicht nur um eine Pflichtübung, einen Opfergang, eine Tour der Leiden handelt. Die Belastungen werden im – ziemlich häufigen – Glücksfall überstrahlt durch die überraschende Beanspruchung, die hinreissende Verunsicherung, die Bejahung, die man den Kindern – und dem Leben mit ihnen – entgegenbringt. Sie hat etwas Unverfrorenes, Überschwängliches.
Nicht die «Auflösung», sondern die Verwandlung der Familie tut der Gesellschaft gut – und den Menschen, die in ihr leben. Wenn die Fixierung auf den Eigennutz gebrochen ist, hört man auf, als Wunschmaschine immer höher zu drehen, man findet Zugang zu jenen kostbaren Erfahrungen, in denen man über seine eigenen Grenzen hinauskommt. So ist beim Thema Familie durchaus auch ein bisschen Schwärmen und Schwelgen erlaubt.
Gleichwohl muss man das Bewusstsein wachhalten für die Schwierigkeiten, die mit der Transformation der Familie verbunden sind. In der Vergangenheit war es – anders als manche Nostalgiker sich dies ausmalen – nicht so, dass es heile Familien in rauhen Massen gegeben hätte. Dies wird auch in Zukunft nicht so sein. Jeder müht sich in seinem Kopf, in seinem Umfeld um die Vereinbarkeit verschiedener Lebensziele; dies ist ein Kunststück, das oft nur unter grossen Mühen gelingt oder auch scheitert. Entsprechend wird auch die Zahl der Patchworkfamilien weiter wachsen, die Vervielfältigung von Familientypen sich fortsetzen. Neue Partner werden zu Zweitvätern oder -müttern, schon heute hört man Kinder sagen, sie hätten vier Eltern und acht Grosseltern. Manche Paare sind derart heftig damit beschäftigt, die Verteilung von Pflichten auszuhandeln, dass ihnen neben langen Streitereien gerade noch die Zeit zur Erledigung dieser Pflichten bleibt, nicht aber mehr die Zeit zum gemeinsamen Genuss des Lebens. Viel zu viel Energie wird auf Nebenkriegsschauplätzen verschwendet, während es doch in der Hauptsache gar nicht um Krieg geht, sondern um Liebe.
Die Symptome der Erschöpfung sind im Zeitalter der Emanzipation unübersehbar. Und doch sind diese Symptome nicht Anzeichen einer Rückkehr zur alten Ordnung, sondern Vorzeichen eines Wandels des privaten Lebens – eines Wandels, der auf ganz spezielle Weise der schöpferischen Zerstörung in der Wirtschaft Konkurrenz machen kann.