(4) Experten, notwendig und fragwürdig
12 Thesen zur Frage, unter welchen Bedingungen Experten im Entscheidungslauf einer halbdirekten Demokratie eine Rolle spielen sollen.
Erstens: Bei wissenschaftlichen Fragen, bei denen es um «richtig oder falsch» geht, sind unabhängige Experten grundsätzlich besser in der Lage, Entscheidungsgrundlagen zu liefern als Politiker, die eine Mehrheit der Stimmenden auf die nach ihrer Überzeugung «bessere Seite» bringen wollen. Bei reinen Bekenntnisfragen geht es um «bessere oder schlechtere Lösungen» im Sinne eines bestimmten Wertesystems, das heisst um eine Positionierung in einer Wertehierarchie, die aus «linker» und «rechter», aus «etatistischer» oder «staatsskeptischer» Sicht sehr unterschiedlich ausfallen kann. Für die Frage nach der ideologischen und parteipolitischen Bewertung des jeweils «richtigen» politischen Bekenntnisses gibt es keine Experten.
Zweitens: Politische Entscheide betreffen in der Regel Probleme, die weder eindeutig der wissenschaftlichen Erkenntnisebene noch der politisch-moralischen Bekenntnisebene zugeordnet werden können. Praktische Entscheidungen sind dadurch gekennzeichnet, dass sich in ihnen sehr häufig Erkenntnisfragen, die auf Sachverstand aufbauen, und Bekenntnisfragen, die in persönlichen Überzeugungen wurzeln oder mit einer besonderen Interessenlage verknüpft sind, in hoch komplexer Art vermischen. Vor allem in der Sozialwissenschaft ist es kaum möglich, ein Problem ohne jedes Vorverständnis abzuhandeln und immer eine klare Trennlinie zwischen Wissenschaft und persönlicher Werthaltung zu ziehen. Der seriöse Sozialwissenschafter wird daher als Experte jene Empfehlungen und Folgerungen transparent machen, die auf persönlichen Werthaltungen basieren. Zudem werden bei Expertengutachten in der Regel die Prämissen explizit erwähnt, was zu den oft kritisierten, aber meist unumgänglichen «Wenn-dann-Aussagen» führt, mit denen sich vor allem prognostische Expertisen absichern. Die Expertenaussage trifft nur unter den von den Experten genannten Bedingungen zu, und diese Bedingungen betreffen in der Regel Modelle, die erheblich von der Realität abweichen können.
Drittens: Die technokratische Vorstellung, es sei nur eine Frage der Zeit, bis sich in den Sozialwissenschaften aufgrund empirisch abgestützter soziologischer, psychologischer, ökonomischer und anthropologischer Erkenntnisse auch das «politisch Richtige» wissenschaftlich ermitteln lasse, hat sich nach einem Kulminationspunkt in den Siebziger- und Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts als Illusion erwiesen. Die damals unter Planifikateuren aller politischen Parteien genährte Hoffnung auf eine wissenschaftliche Objektivierbarkeit politischer Zielvorstellungen gilt heute als Illusion. Bei politischen (wie übrigens auch bei ökonomischen) Entscheidungen spielt die optimale Kombination von Intuition, Spekulation und Sachwissen eine Schlüsselrolle.
Viertens: Trotz dem allgemeinen Vorrang politischer Bewertungsfragen vor objektivierbaren Tatsachen und Gesetzmässigkeiten, nimmt die Bedeutung des Fachwissens auch bei der Beantwortung politischer Fragen nicht ab, sondern zu. Eine technisch-zivilisierte, hoch arbeitsteilige Gesellschaft steht vor Problemen, die sich allein durch Mehrheitsentscheide aufgrund einer Addition populärer und popularisierter Vorurteile auf die Dauer nicht befriedigend lösen lassen. Naturwissenschaftliches und sozialwissenschaftliches Expertenwissen kann, richtig eingesetzt, vor gefährlichen und kostspieligen gemeinsamen Irrtümern bewahren.
Fünftens: Die Meinung, politische Mehrheitsentscheide in Parlamenten und Volksabstimmungen seien allein durch Emotionen und Interessenlage der jeweils Entscheidenden bestimmt, trifft nicht zu. Mehrheiten sind zwar beeinflussbar, aber sie sind auch lernfähig, und die Erfahrung zeigt, dass erhärtetes, überzeugend vorgetragenes und durch die Medien adäquat vermitteltes Expertenwissen, das nicht durch ebenfalls glaubwürdige Gegenexperten wieder in Frage gestellt wird, durchaus nicht ignoriert wird.
Sechstens: Ob Experten im demokratischen Entscheidungsprozess eine objektivierende Aufklärungs- und Lehrfunktion wahrnehmen oder ob sie lediglich für zusätzliche Verwirrung sorgen, hängt ganz wesentlich davon ab, welche Fragen man ihnen stellt und wie ihre Antworten kommuniziert werden. Wenn differenzierte «Wenn-dann-Aussagen» wie Dogmen präsentiert werden, tragen Experten mehr zur Verwirrung als zur Entscheidverbesserung bei. Auch die Medien haben bei der Publikation und Kommentierung von Expertenmeinungen eine verantwortungsvolle Funktion, der sie jedoch oft nicht adäquat nachkommen.
Siebtens: Die Nützlichkeit der Experten hängt nicht nur von der richtigen Fragestellung und Begleitung der Expertise ab, sondern auch vom Timing. Wird der Experte zu früh befragt, also zu einem Zeitpunkt, in dem die politischen Vorgaben und Randbedingungen noch vage sind, bleiben auch die Prognosen und die darauf gestützten Lösungsvorschläge schwammig. Fragt man die Experten erst, wenn zahlreiche Lösungen bereits durch Fakten und Vorentscheide blockiert sind, werden jene zur Rechtfertigung von Fehlentscheidungen missbraucht.
Achtens: Der schlechte Ruf von Expertengremien beruht oft nicht auf der mangelhaften Qualität der Experten, sondern auf der in der Schweiz häufig praktizierten Kommissionsbesetzung mit Experten, Politikern und Interessenvertretern. Die Funktion des unabhängigen, allein dem Fachwissen verpflichteten Experten ist gerade in einer direkten Demokratie unerlässlich. Aber Persönlichkeiten, die sie optimal wahrnehmen können, sind in einem durch politische und wirtschaftliche Interessen geprägten Umfeld in kleinstaatlichen Verhältnissen dünn gesät. Fachleute der Energietechnologie sind beispielsweise häufig beruflich eng mit den Interessen der Energiewirtschaft vernetzt. Dasselbe gilt auf dem Gebiet der Landwirtschaft, der Forstwirtschaft und in allen Bereichen der öffentlichen Infrastruktur.
Neuntens: Einzig der eigenständige Forscher und Lehrer an einer Hochschule vermag dem Anspruch voller Unabhängigkeit zu genügen. Doch existieren häufig auch zwischen staatlichen Hochschulen und der Verwaltung, die Expertenaufträge vergibt, Loyalitäten und Abhängigkeiten, die die volle Unabhängigkeit der Hochschulexperten in Frage stellen. Der Nationalfonds, eine der wichtigen Schaltstellen der Grundlagenforschung, ist zwar institutionell mit der Bundesverwaltung nicht verknüpft. Die Beobachtung aber, dass in den letzten 20 Jahren alle vom Nationalfonds vergebenen sozialwissenschaftlichen Forschungsprojekte schliesslich in der Forderung nach «mehr Staat» bzw. «mehr Staatsmitteln» im erforschten Bereich gipfelten, muss zu denken geben. Viele Hochschulinstitute sind in einem Ausmass auf öffentliche Aufträge angewiesen, dass ihre Unabhängigkeit in gleicher Weise in Frage steht wie diejenige privater Beratungsfirmen, die praktisch von öffentlichen Aufträgen leben und die in letzter Zeit ins Kreuzfeuer der Kritik geraten sind.
Zehntens: Es ist unbestritten, dass in der Demokratie oft Experten auch eine fragwürdige Rolle spielen. Tatsächlich werden diesen und ihrer wissenschaftlichen Dienstleistung oft zwei unrühmliche Funktionen zugeschoben. Wenn sie politische oder behördliche Positionen nachträglich begründen und untermauern müssen, übernehmen sie für schwierige oder unpopuläre Entscheide eine Verantwortung, die sie in keiner Weise tragen können. Die heutige Spezialisierung in den Wissenschaften und die Komplexität der im Zusammenhang mit Grossprojekten zu lösenden Probleme hat zudem beispielsweise dazu geführt, dass es den Experten gar nicht gibt, der in seiner Person allein genügend viel Kenntnisse sowohl vom Tunnelbau wie auch von Verkehrsökonomie und internationalem Verkehrsrecht vereinen würde, um für eine umfassende Beratung beim Bau und bei der Amortisation einer Alpentransversale zuständig zu sein.
Elftens: Der anvisierte Nutzen wissenschaftlicher Dienstleistung liegt für die Politik in dem Hinweis auf Wissenschaftlichkeit, dank dem sie um weitere Begründungen heruzukommen hofft. Mit Hilfe der Autorität eines Gutachtens soll eine kritische Auseinandersetzung in der Öffentlichkeit im Keime erstickt werden.
Zwölftens: Die Gefahr des wissenschaftlich-technischen Rationalitätsglaubens ist bekannt und auch popularisiert. Wissenschaftliche Thesen können politische Entscheide nicht ersetzen. Die Modellversessenheit in der Ökologie und in der Ökonomie stiftet mehr Verwirrung als Klarheit. Wissenschaftlich fundierte Prognosen lassen sich sowohl für neue zusätzlich umverteilende Sozialversicherungsbeiträge als auch für neue Umweltabgaben finden. Die Grundfrage, ob Umverteilung tatsächlich und auf die Dauer sozial sei und ob der Umweltkonsum tatsächlich durch zusätzliche Abgaben ökologisch sinnvoll beeinflusst werden könne, muss im unvoreingenommenen intensiven Dialog zwischen Fachleuten, politischen und ökonomischen Entscheidungsträgern offen und transparent geführt werden.
Die 12 hier angeführten Thesen fassen eine Diskussion zwischen Politikern und Experten an der Beiratssitzung des Vereins Zivilgesellschaft am 25. Oktober 2006 in Zürich zusammen.