(4) Ein unbekanntes Land
Zurückhaltend. Aber auch geschäftstüchtig. Misstrauisch. Aber auch höflich. Zaghaft. Aber auch freiheitsliebend. So sehen die Deutschen (und andere Nichtschweizer) die Schweizer, dieses merkwürdige Volk inmitten Europas.
Jenseits des Flusses liegt ein unbekanntes Land. Man weiss hierzulande wenig von ihm, und je weiter nördlich man seinen Wohnsitz hat, desto geringer sind die Kenntnisse. Seltene Nachrichten und Legenden vermischen sich mit Phantasien, Zerrbildern, Klischees und Sehnsüchten.
Früher kamen von dort streitbare Reisläufer. Die Spiessgesellen lehrten die Eisenritter Europas das Fürchten. Über Jahrhunderte erkämpften sich die Einwohner die Souveränität vom Heiligen Reich. Sie begehrten gegen die Fronvögte auf und schworen einander ewige Treue. Zum Andenken veranstalten ihre Nachfahren alljährlich ein Freiheitsfest, wobei Väter ihren Söhnen kleine Äpfel von Kopfe zu schiessen pflegen.
Von Aufständen, Revolutionen und Tyranneien blieb das Land seit längerem verschont. Einen Generalstreik schlug das Militär nieder, Jugendkrawalle wurden von der Polizei aufgelöst. Der Bürger- und Klassenkrieg, der andernorts viele Opfer kostete und zu totalitären Diktaturen führte, fand im Land der Berge nicht statt. Seit Jahrzehnten liegt dort das politische Gewaltniveau weit unter dem europäischen Durchschnitt. Damit mag es zusammenhängen, dass bereits robuste Wortgreiflichkeiten prompt beleidigte Empörung und Appelle an den Hausfrieden auslösen.
Ob das Land heutzutage eine Regierung hat, ist unbekannt. Sollte jemals ein Minister die deutsche Hauptstadt besucht haben – es war den Zeitungen keine Meldung wert. Ob das Land eine Opposition hat, ist unwahrscheinlich. Von Zeit zu Zeit hört man von Befragungen, zu denen das Volk an die Urne gerufen wird, eine Sitte, so die Meinung hiesiger Gelehrter, die allenfalls für Stadtstaaten oder Gebirgsdörfer tauge, nicht aber für grosse Flächenstaaten, in denen die Wege weit sind und der Mehrzahl ohnehin nicht zu trauen ist.
Dass man hinter dem Fluss das Volksvotum bevorzugt, beweist einmal mehr, dass Obrigkeiten beargwöhnt und Streitigkeiten missbilligt werden. Kollektive Torheiten nimmt man eher in Kauf als kollektive Konflikte. Feinde mag man ebensowenig wie Fremde. Zwist soll stets der Sache gemäss, ohne Ansehen der Person und ohne Grimm und Gegensatz gelöst werden. Da man den Zank der Parteien verachtet, ist man, so war jüngst zu vernehmen, dazu übergegangen, in der Ratsversammlung regelmässig die Plätze zu tauschen und einander die Ansprache des Gegners vorzulesen. Auf diese Weise sollen die Abgeordneten alsbald zu gutem Einvernehmen kommen und jene Mässigung des Denkens erlangen, die in den Köpfen derjenigen so sehr zu wünschen wäre, die einzig zu dem Zweck auf die Welt gekommen zu sein glauben, den Lauf der Welt und das Leben der Mitmenschen überwachen und lenken zu müssen.
Gegenüber Fremden zeigt man sich, so berichten Besucher nach der Rückkehr, höflich und zurückhaltend. Selten verliere sich jedoch der Eindruck, die Einheimischen hätten etwas zu verbergen. Viele Sprachen sind in den Städten zu hören. Mit den Fremden aus dem Norden können sich die Einheimischen unschwer verständigen, aber oft wechseln sie mitten im Gespräch in eine ihrer Landessprachen, weil sie unter sich sein wollen.
Wer hinter der Grenze die Schnellstrasse benutzt, muss zuerst eine Eintrittsgebühr entrichten. Freie Fahrt gibt es hier für freie Bürger nicht. Dies verleidet nicht wenigen Besuchern weitere Erkundungen. So rasch wie möglich fahren sie von einem Ende des Landes zum anderen. Einen längeren Aufenthalt glauben sie sich ohnehin nicht leisten zu können. Um keine Minute zu verlieren, passieren sie finstere Tunnels, die erst nach vielen Kilometern wieder ans Tageslicht führen.
Im Hochgebirge scheint eine unsichtbare Welt verborgen. So mancher Weg endet abrupt vor einer verschlossenen Eisenpforte in der Bergwand. Wie man hört, verbirgt sich dahinter ein zweites Reich unter Tage, ein weitläufiges Labyrinth in Stein und Kristall, ausgestattet mit Gold, Silber und Diamant für das Leben in Unsterblichkeit. Alle Schätze sind hier aufbewahrt, die man vor den Invasoren ringsum retten wollte. Diese Welt war einst den Wehrmännern vorbehalten. Frauen und Kinder wollte man im Ernstfall den fremden Eindringlingen überlassen.
Von Kriegen blieb das Land zuletzt verschont. Bis heute beharrt man auf strikter Neutralität und pflegt gute Beziehungen zu jedermann, auch zu Öldespoten, Theokraten und Massenmördern. Der nachsichtigen Gastfreundschaft verdankt Deutschland das Wunder eines Fussballsiegs, das die Nation bis heute als Wiedergeburt feiert. Die Neutralität verschafft den Gesandten des Berglands allseitiges Vertrauen. Im Krisenfall bleiben sie bis zuletzt an Ort. Selten nur haben sie etwas zu befürchten. Das Land mischt sich nicht ein, überlässt das Kämpfen anderen Nationen und sorgt sich statt dessen um die Verluste.
Seit langem beherbergt das Land internationale Einrichtungen, deren Bedienstete vorgeben, im Weltauftrag zu handeln. Obwohl klein an Territorium und Bevölkerung, scheint der Horizont im Bergland weit gesteckt. Vom Gipfel reicht der Blick weit über den Globus. Unterm freien Himmelsdache lässt es sich trefflich träumen vom Weltstaat, von allseitiger Eintracht oder vom Generalwillen der Menschheit. Um derlei ideale Gesinnung wird das Land von vielen Deutschen beneidet. Ist man dort nicht ziemlich frei von historischer Schuld und misslichen Schulden? Man muss sich keiner nationalen Verbrechen erinnern, kann sich aus akuten Widrigkeiten heraushalten und so Generation für Generation den Aufstieg zur moralischen Perfektion fortsetzen. Abseits der Geschichte lebt man dort, erhaben über niedere Interessen und Instinkte, inmitten einer Sphäre von Alpenglühen, Glockengeläut und Horngetön.
Obwohl man Abgrenzung schätzt, hat das Land Fremden wiederholt Zuflucht gewährt: Soldaten und Revolutionären, Grenzflüchtlingen, Verfolgten, hochfliegenden Geistern. So mancher wurde jedoch abgewiesen oder fristgerecht zurückgesandt. Um spätere Misshelligkeiten zu vermeiden, gewährt man heute vorzugsweise Begüterten Asyl. Hierzulande hat man in den besseren Kreisen die Villen mit See- und Bergblick seit je geschätzt. Der gemeine Mann jedoch war noch nie gut auf die Emigranten zu sprechen, die er selbst über die Grenze getrieben hat. Für Betrüger, Bankrotteure und Profiteure, für Grossschreiber und Vielsprecher hält er die Prominenten, die in den letzten Jahrzehnten ihr Domizil jenseits des Flusses gewählt haben.
Manche Ortschaften geniessen noch immer den Ruf des Mondänen. Zur Saison sieht man Fürstenhäupter, Filmsternchen und sonstige bedeutende Personen in modischen Jacken und Sonnenbrillen auf schmalen Brettern stehen. Offenbar bereitet es dieser Spezies besonderes Vergnügen, vom Gipfel des Daseins versuchsweise einen Berghang hinabzurutschen.
Nicht nur für eigenwillig, freiheitsliebend, zaghaft und sittenstreng hält man hierzulande die Einwohner des Berglandes, sondern auch für geschäftstüchtig. Ein sagenhafter Wohlstand scheint dort zu herrschen. So gut geht es den Leuten, dass sie Schokolade, Käse und Kondensmilch, Fleisch und Joghurt in grossen Mengen den Fluss hinab schaffen. So robust ist ihre Gesundheit, dass sie den Rest Europas mit Arzneien und Tinkturen jeder Art versorgen. So präzise ist ihr Sinn für die Mechanik der Dinge, dass sie Kanonen, Messer und Uhren mit vielerlei Komplikationen in die gesamte Welt verschicken. Wo knappe Zeit zu messen ist, benutzen Menschen eine Uhr aus dem Bergland, bei Sportwettkämpfen und Weltraumflügen, bei Konferenzen und Kopulationen.
So ausgeprägt ist der Sinn für Schätze und Schätzungen, dass viele Weltbürger ihr Geld in den geheimen Tresoren des Berglands verwahren lassen. Mit Solidität und Diskretion werben Vertreter des Werk- und Bankplatzes für ihre Dienste, und die Welt glaubt nur zu gern daran, weil sie sich auf dem Erdball zumindest eine Adresse wünscht, wohin man sich im Notfall noch wenden kann.
Da sich bei einem so einigen Volk, das von Natur zur Ausübung jeder Tugend geneigt ist, das sich gänzlich der Sitte und Gesinnung verschrieben hat und sich im friedvollen Verkehr anderen Nationen verbunden weiss, nur wenige Ereignisse von einiger Bedeutung zutragen, lässt sich das Land hinter dem Fluss zweifellos glücklich schätzen. Die Zeit vergeht dort langsamer als andernorts, und so dauert es länger, bis sie zu Ende ist.